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VwGH vom 18.06.2015, Ra 2014/20/0174

VwGH vom 18.06.2015, Ra 2014/20/0174

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Beck, Hofrat Mag. Straßegger und Hofrätin Dr. Leonhartsberger als Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag. Ortner, über die Revision des A M in W, vertreten durch Mag. Andrea Posch, Rechtsanwältin in 1040 Wien, Möllwaldplatz 5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W135 1428555-2/8E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG, zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1.1. Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, dass er von Unbekannten im Herkunftsstaat entführt und geschlagen worden sei, weil diese auf der Suche nach seinem Bruder Ruslan gewesen seien.

1.2. Mit dem - nach ursprünglicher Zurückweisung wegen Drittstaatsicherheit in Kroatien - im zweiten Rechtsgang ergangenen Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Revisionswerbers gemäß den §§ 3 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 und §§ 8 Abs. 1 iVm 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 55 und 57 AsylG 2005, erließ eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig sei.

Die Verwaltungsbehörde führte begründend im Wesentlichen aus, der Revisionswerber habe keine asylrelevanten Gründe glaubhaft machen können. Es habe nicht festgestellt werden können, dass dem Revisionswerber in der Russischen Föderation mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende, aktuelle Verfolgung oder eine sonstige Verfolgung maßgeblicher Intensität drohe. Dazu führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl insbesondere Widersprüche hinsichtlich seiner Angaben über die Umstände der Entführung des Revisionswerbers, die Deckungsgleichheit der Schilderung seiner Entführung mit der Schilderung der Entführung seines Bruders, die dieser in seinem Asylverfahren behauptet habe, und den Verbleib der Mehrzahl seiner übrigen Verwandten in seiner Heimat ins Treffen.

Es habe festgestellt werden können, dass eine gegen den Revisionswerber gerichtete Bedrohungssituation nicht vorliege und dass die Hepatitis B-Erkrankung des Revisionswerbers im Heimatland behandelbar sei. Aufgrund der Länderinformationen ergebe sich eindeutig, dass in der Russischen Föderation die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln gewährleistet sei und es neben geringfügigen staatlichen Leistungen auch Unterstützung von humanitären und religiösen Organisationen im Fall von Notlagen gebe.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verneinte das Vorliegen der Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach den §§ 55 und 57 AsylG 2005 und nahm im Rahmen der Erlassung einer Rückkehrentscheidung mit näherer Begründung eine Interessenabwägung iSd Art. 8 EMRK vor.

1.3. Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, in der er u.a. auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte. Die Erklärungen des Bundesasylamtes (gemeint: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) zur fehlenden Glaubwürdigkeit des Vorbringens des Revisionswerbers seien in keiner Weise nachvollziehbar, weil ein großer Teil der Aussagen des Revisionswerbers nicht zur Kenntnis genommen worden sei, sondern nur selektiv, in tendenziöser Weise, diejenigen Aussagen herausgegriffen worden seien, die der Argumentation der Verwaltungsbehörde zuträglich gewesen seien. Hinsichtlich des Widerspruchs bezüglich der Dauer der Fahrt mit den Entführern sei die Erstbefragung herangezogen worden, obwohl diese nach § 19 AsylG 2005 nicht dazu gedacht sei, die Fluchtgeschichte erschöpfend darzustellen. Die in der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vorgenommenen - gesetzlich geforderten - Ergänzungen bzw. Berichtigungen des Revisionswerbers als Argument für dessen Unglaubwürdigkeit heranzuziehen sei vor diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar. Im Übrigen bezögen sich die Ergänzungen bzw. Berichtigungen nur auf geringfügige Details und sei zwischen den Befragungen ein großer Zeitraum vergangen, sodass allfällige unbedeutende Erinnerungslücken die Glaubwürdigkeit des Revisionswerbers eher zu stärken als zu schwächen geeignet seien, weil sie zeigten, dass das Fluchtvorbringen nicht einfach auswendig gelernt worden sei. Dass die vom Revisionswerber angegebenen Fluchtgründe mit denen seines Bruders übereinstimmten sei nicht verwunderlich, weil beide gleichzeitig von denselben Personen und aus denselben Gründen entführt worden seien.

1.4. Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde als unbegründet ab. Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.

Begründend führte das Bundesverwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass dem Revisionswerber in der Russischen Föderation, konkret in Tschetschenien, mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an asylrelevante Merkmale anknüpfende aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität drohe.

Auch habe nicht festgestellt werden können, dass der Revisionswerber an dermaßen schweren psychischen oder physischen, akut lebensbedrohlichen und zudem im Herkunftsstaat nicht behandelbaren Erkrankungen leiden würde, welche eine Rückkehr in die Russische Föderation iSd Art. 3 EMRK unzulässig machen könnten.

Beweiswürdigend führte das Bundesverwaltungsgericht aus, das Vorbringen des Revisionswerbers könne aufgrund grober Widersprüche zwischen seinen Angaben in der Erstbefragung und den Angaben in der Einvernahme am als nicht glaubhaft angesehen werden. Dabei stützte sich das Bundesverwaltungsgericht auf die bereits vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dargelegten Widersprüche hinsichtlich der Umstände der Entführung des Revisionswerbers. Darüber hinaus führte das Bundesverwaltungsgericht ins Treffen, eine asylrelevante Verfolgung des Revisionswerbers vor seiner Ausreise aus der Russischen Föderation erscheine auch im Hinblick auf die problemlose und legale Ausreise im Luftweg als unwahrscheinlich. Außerdem sei davon auszugehen, dass der Revisionswerber bei asylrelevanter Verfolgung im Herkunftsstaat bereits in Kroatien Zuflucht gesucht hätte und nicht nach Österreich weitergereist wäre. Schließlich sei (zwischenzeitlich) auch das Fluchtvorbringen des älteren Bruders des Revisionswerbers, der ebenfalls eine im Zusammenhang mit dem gemeinsamen Bruder Ruslan in Verbindung stehende Verfolgung behauptet habe, in der mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom ergangenen Entscheidung als nicht glaubhaft angesehen worden.

Das Absehen von der mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht unter Berufung auf das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/20/0017 und 0018, damit, dass aus dem Akteninhalt die Grundlage des bekämpften Bescheides unzweifelhaft nachvollziehbar sei und sich auch aus der Beschwerde, mit welcher die Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde nicht erschüttert bzw. substantiiert bekämpft worden sei, kein zusätzlicher Hinweis auf die Notwendigkeit ergeben habe, den maßgeblichen Sachverhalt mit dem Revisionswerber zu erörtern. Der maßgebliche Sachverhalt sei aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als geklärt anzusehen und es sei auch die gebotene Aktualität unverändert gegeben.

Zum Ausspruch über die Unzulässigkeit einer Revision iSd Art. 133 Abs. 4 B-VG verwies das Bundesverwaltungsgericht auf die verba legalia und auf den Inhalt seiner eigenen Entscheidung samt der darin zitierten Rechtsprechung.

2. Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

2.1. Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision unter anderem unter Bezugnahme auf das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/20/0017 und 0018, mit näherer Begründung vor, das Bundesverwaltungsgericht sei verpflichtet gewesen, eine mündliche Verhandlung durchzuführen und insoweit von der bisherigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs abgewichen.

2.2. Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.

2.3. Mit Erkenntnis vom , Ra 2014/20/0017 und 0018, auf dessen Entscheidungsgründe insoweit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen des Tatbestandes des geklärten Sachverhalts nur unter folgenden Voraussetzungen zulässig ist:

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhalts ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

Diese in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Anforderungen hat das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht erfüllt.

Der Revisionswerber hat die erstinstanzliche Beweiswürdigung insgesamt nicht bloß unsubstantiiert bestritten. Die Beschwerde brachte konkrete Argumente vor, um die vom Bundesasylamt vorgenommene Beweiswürdigung fallbezogen begründet in Zweifel zu ziehen. Darüber hinaus ergänzte das Bundesverwaltungsgericht seine Beweiswürdigung gegenüber jener des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, der es sich inhaltlich hinsichtlich der Widersprüche im Zusammenhang mit der behaupteten Entführung anschloss, um mehrere weitere, vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nicht thematisierte Aspekte, aus denen sich die Unglaubwürdigkeit des Vorbringens ergebe. Es nimmt damit eine zusätzliche Beweiswürdigung vor, die dazu führt, dass das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Ra 2014/19/0085). Eine solche Beweiswürdigung hat regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck vom Asylwerber gewonnen werden konnte, zu erfolgen.

Die Entscheidung über die Beschwerde des Revisionswerbers setzte daher eine mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht voraus, von der zu Unrecht Abstand genommen wurde.

Die angefochtene Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts war daher infolge der aufeinander aufbauenden Spruchpunkte zur Gänze wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben. Auf die weiteren Punkte in der Revision war daher nicht weiter einzugehen.

2.4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am