VwGH vom 23.02.2011, 2009/11/0104
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Gall und die Hofräte Dr. Schick, Dr. Grünstäudl und Mag. Samm sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Trefil, über die Beschwerde der G S in Z, vertreten durch Dr. Joachim Brait, Rechtsanwalt in 3430 Tulln, Stiegengasse 8, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenats im Land Niederösterreich vom , Zl. Senat-AB-09-0027, betreffend Lenkverbot (weitere Partei: Bundesministerin für Verkehr, Innovation und Technologie), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit Bericht vom ersuchte die Polizeiinspektion Tulln die Bezirkshauptmannschaft Tulln um Überprüfung der "Verkehrszulässigkeit" der Beschwerdeführerin. Anlass dafür waren vier Anzeigen gegen die Beschwerdeführerin vom September 2008 wegen Missbrauchs des Rettungsnotrufs.
Nach der Aktenlage unterzog sich die Beschwerdeführerin am einer verkehrspsychologischen Untersuchung. Das Gutachten der verkehrspsychologischen Untersuchungsstelle vom ergab, dass die Beschwerdeführerin "zum Lenken von Mopeds derzeit nicht geeignet" sei. Bei der Beschwerdeführerin würden die kraftfahrspezifischen Leistungsfunktionen "deutliche quantitative Beeinträchtigungen und Mängel im Bereich der visuellen Auffassung sowie der Überblicksgewinnung, des Konzentrationsvermögens, der reaktiven Belastbarkeit unter höchsten Anforderungen sowie der Merkfähigkeit" aufweisen. Obwohl die Reaktionssicherheit, das Reaktionstempo in Einfachwahlreaktionen und die nonverbale Intelligenz normgerecht seien, entsprächen die kraftfahrspezifischen Leistungsfunktionen "dennoch in ihrer Gesamtheit auch nicht den geringen Anforderungen im Sinne der Fragestellung, nämlich dem Lenken von Mopeds".
Der Amtsarzt der Bezirkshauptmannschaft Tulln gelangte in seinem anschließenden "Gutachten" vom einerseits zum Ergebnis, die Beschwerdeführerin sei zum Lenken eines Mopeds "nicht geeignet", andererseits zum Ergebnis, sie sei "unter folgenden Auflagen geeignet - Verwendung von Brille", und führte zur Begründung lediglich aus: "Lt. VPU bestehen dzt. bei Fr. S. deutliche Mängel der kraftfahrspezifischen Leistungsfunktionenvisuelle Auffassung Überblicksgewinnung,onzentrationsvermögens und der reaktiven Belastbarkeit.(s.VPU vomKfV 16.122008)" (Fehler im Original).
In einer dazu von der Bezirkshauptmannschaft Tulln im Hinblick auf ein beabsichtigtes Lenkverbot eingeholten Stellungnahme brachte die Beschwerdeführerin vor, sie habe mehrere tausend Kilometer unfallfrei auf ihrem Motorfahrrad zurückgelegt, wohne in ländlichem Gebiet und benötige - angesichts der Hilfsbedürftigkeit ihrer Eltern und des Mangels an öffentlichen Verkehrsmitteln - für einen Umkreis von etwa 15 km von ihrem Wohnort die Erlaubnis zum Lenken ihres Motorfahrrads. Für diesen Umkreis besitze sie die nötige Ortskenntnis.
Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Tulln vom wurde der Beschwerdeführerin das Lenken von Motorfahrrädern, vierrädrigen Leichtkraftfahrzeugen und Invalidenkraftfahrzeugen für die Dauer der gesundheitlichen Nichteignung gemäß § 32 Abs. 1 Z 1 FSG verboten. Gleichzeitig wurde einer eventuellen Berufung gegen diesen Bescheid die aufschiebende Wirkung gemäß § 64 Abs. 2 AVG aberkannt.
Die dagegen erhobene Berufung wurde mit dem angefochtenen Bescheid ohne weiteres Ermittlungsverfahren abgewiesen und der erstinstanzliche Bescheid bestätigt. In der Begründung gab die belangte Behörde das Verfahrensgeschehen - insbesondere das Ergebnis der verkehrspsychologischen Untersuchung - und die maßgebenden Rechtsvorschriften wieder. Beweiswürdigend führte sie aus, das amtsärztliche Gutachten baue "logisch und schlüssig auf den Ergebnissen der verkehrspsychologischen Stellungnahme" auf und stelle fest, die Beschwerdeführerin sei "zum Lenken eines Kraftfahrzeuges auf Grund deutlicher Mängel der kraftfahrspezifischen Leistungsfunktionen (…) nicht geeignet". Auf Grund der gegebenen Sach- und Rechtslage sei der erstinstanzliche Bescheid zu bestätigen gewesen.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, zu der die belangte Behörde die Verwaltungsakten vorgelegt hat.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Die gegenständlich maßgebenden Rechtsvorschriften des FSG in der Fassung BGBl. I Nr. 31/2008 lauten:
"Verbot des Lenkens von Motorfahrrädern, vierrädrigen Leichtkraftfahrzeugen oder Invalidenkraftfahrzeugen
§ 32. (1) Personen, die nicht im Sinne des § 7 verkehrszuverlässig oder nicht gesundheitlich geeignet sind, ein Motorfahrrad, ein vierrädriges Leichtkraftfahrzeug oder ein Invalidenkraftfahrzeug zu lenken, hat die Behörde unter Anwendung der §§ 24 Abs. 3 und 4, 25, 26, 29 sowie 30a und 30b entsprechend den Erfordernissen der Verkehrssicherheit das Lenken eines derartigen Kraftfahrzeuges
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1. | ausdrücklich zu verbieten, |
2. | nur zu gestatten, wenn vorgeschriebene Auflagen eingehalten werden, oder |
3. | nur für eine bestimmte Zeit oder nur unter zeitlichen, örtlichen oder sachlichen Beschränkungen zu gestatten. |
Ebenso hat die Behörde einem Lenker eines der im ersten Satz genannten Fahrzeuge bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 30b besondere Maßnahmen aus dem Vormerksystem anzuordnen. Das Lenken eines Motorfahrrades, vierrädrigen Leichtkraftfahrzeuges oder Invalidenkraftfahrzeuges entgegen einer behördlichen Verfügung nach Z 1, 2 oder 3 ist unzulässig. Eine solche Verfügung ist aufzuheben, wenn der Grund für ihre Erlassung nicht mehr gegeben ist. | |
§ 24 … |
(4) Bestehen Bedenken, ob die Voraussetzungen der gesundheitlichen Eignung noch gegeben sind, ist ein von einem Amtsarzt erstelltes Gutachten gemäß § 8 einzuholen und gegebenenfalls die Lenkberechtigung einzuschränken oder zu entziehen. …
§ 25 …
(2) Bei einer Entziehung wegen mangelnder gesundheitlicher Eignung ist die Dauer der Entziehung auf Grund des gemäß § 24 Abs. 4 eingeholten Gutachtens für die Dauer der Nichteignung festzusetzen.
Gesundheitliche Eignung
§ 8. (1) Vor der Erteilung einer Lenkberechtigung hat der Antragsteller der Behörde ein ärztliches Gutachten vorzulegen, dass er zum Lenken von Kraftfahrzeugen gesundheitlich geeignet ist. Das ärztliche Gutachten hat auszusprechen, für welche Klassen von Lenkberechtigungen der Antragsteller gesundheitlich geeignet ist, darf im Zeitpunkt der Entscheidung nicht älter als 18 Monate sein und ist von einem in die Ärzteliste eingetragenen sachverständigen Arzt gemäß § 34 zu erstellen.
(2) Sind zur Erstattung des ärztlichen Gutachtens besondere Befunde oder im Hinblick auf ein verkehrspsychologisch auffälliges Verhalten eine Stellungnahme einer verkehrspsychologischen Untersuchungsstelle erforderlich, so ist das ärztliche Gutachten von einem Amtsarzt zu erstellen; der Antragsteller hat diese Befunde oder Stellungnahmen zu erbringen. Wenn im Rahmen der amtsärztlichen Untersuchung eine sichere Entscheidung im Hinblick auf die gesundheitliche Eignung nicht getroffen werden kann, so ist erforderlichenfalls eine Beobachtungsfahrt anzuordnen.
(3) Das ärztliche Gutachten hat abschließend auszusprechen:
'geeignet', 'bedingt geeignet', 'beschränkt geeignet' oder 'nicht geeignet'. ...
..."
2. Die Beschwerde macht eine Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens geltend und ist damit im Recht.
Die Beschwerdeführerin hatte sich am der aufgetragenen verkehrspsychologischen Untersuchung unterzogen. Die belangte Behörde durfte die gesundheitliche Eignung der Beschwerdeführerin daher gemäß § 8 Abs. 2 FSG nur auf der Grundlage eines amtsärztlichen Gutachtens beurteilen. Entscheidend ist im gegenständlichen Fall, ob die belangte Behörde aufgrund des ihr vorliegenden (im erstinstanzlichen Verfahren eingeholten) Gutachtens des Amtsarztes der Bezirkshauptmannschaft Tulln zum Ergebnis gelangen durfte, der Beschwerdeführerin fehle die gesundheitliche Eignung zum Lenken eines Motorfahrrades. Diesem von der belangten Behörde erzielten Ergebnis lag die Beurteilung zugrunde, das amtsärztliche Gutachten baue "logisch und schlüssig auf den Ergebnissen der verkehrspsychologischen Stellungnahme" auf und stelle fest, die Beschwerdeführerin sei "zum Lenken eines Kraftfahrzeuges auf Grund deutlicher Mängel der kraftfahrspezifischen Leistungsfunktionen (…) nicht geeignet".
Diese Ansicht erweist sich jedoch schon deshalb als verfehlt, weil das oben wiedergegebene Gutachten des Amtsarztes, dem sich die belangte Behörde anschloss, bereits in sich widersprüchlich ist. Einerseits findet sich ein Kreuz in der Rubrik "nicht geeignet", andererseits in der Rubrik "unter folgenden Auflagen geeignet" mit dem Zusatz "Verwendung von Brille".
Abgesehen davon, dass sich dem Gutachten somit kein eindeutiges Ergebnis betreffend die gesundheitliche Eignung der Beschwerdeführerin entnehmen lässt, entbehrt es auch jeglicher Auseinandersetzung mit der verkehrspsychologischen Stellungnahme, auf die es sich bezieht. Stützt sich ein amtsärztliches Gutachten aber, wie gegenständlich, auf Stellungnahmen verkehrspsychologischer Untersuchungsstellen, so hat es sich mit diesen Stellungnahmen - nachvollziehbar - auseinander zu setzen (vgl. die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2000/11/0287, vom , Zl. 2003/11/0318, und vom , Zl. 2010/11/0095, mwN). Das amtsärztliche Gutachten vom hätte somit selbst dann keine ausreichende Grundlage für das über die Beschwerdeführerin verhängte Lenkverbot dargestellt, wenn es zu einem eindeutigen Ergebnis betreffend die gesundheitliche Nichteignung gelangt wäre, weil - anders als die belangte Behörde offenbar meint - auch negative verkehrspsychologische Stellungnahmen nicht zwingend zu dem Gutachtensergebnis führen müssen, dem Betreffenden fehle die gesundheitliche Eignung gemäß § 8 FSG (vgl. das bereits zitierte hg. Erkenntnis Zl. 2010/11/0095, mwN).
Vor diesem Hintergrund erweist sich die von der belangten Behörde (vermeintlich) dem Gutachten entnommene Beurteilung, die Beschwerdeführerin sei "zum Lenken eines Kraftfahrzeuges auf Grund deutlicher Mängel der kraftfahrspezifischen Leistungsfunktionen (…) nicht geeignet", als unschlüssig. Die belangte Behörde hätte Art und Ausmaß dieser "Mängel" konkretisieren und vor allem deren jeweilige Auswirkungen auf das Lenken (bloß) eines Motorfahrrades feststellen müssen, zumal die Eignung zum Lenken der in § 32 Abs. 1 FSG genannten Kraftfahrzeuge auch anders beurteilt werden könnte als die Eignung zum Lenken von Kraftfahrzeugen, für die eine Lenkberechtigung erforderlich ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2004/11/0149, mwN).
Dabei wäre auch das von der belangten Behörde nicht bezweifelte Vorbringen der Beschwerdeführerin, sie habe mehrere tausend Kilometer unfallfrei auf ihrem Motorfahrrad zurückgelegt, wohne in ländlichem Gebiet und benötige für einen - ihr bekannten -
Umkreis von etwa 15 km von ihrem Wohnort die Erlaubnis zum Lenken ihres Motorfahrrads, zu beachten gewesen. Vor dessen Hintergrund hätte insbesondere erwogen werden müssen, ob trotz der "Mängel der kraftfahrspezifischen Leistungsfunktionen" allenfalls mit einer nach § 32 Abs. 1 Z 2 bzw. 3 FSG eingeschränkten Lenkerlaubnis das Auslangen gefunden werden hätte können (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/11/0086).
Da dem angefochtenen Bescheid somit wesentliche Verfahrensmängel anhaften, war er gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455. Die Abweisung des Mehrbegehrens betrifft die bereits im Pauschalbetrag für Schriftsatzaufwand enthaltene Umsatzsteuer.
Wien, am
Fundstelle(n):
SAAAE-91948