VwGH vom 10.12.2014, Ra 2014/18/0103

VwGH vom 10.12.2014, Ra 2014/18/0103

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

Ra 2014/18/0104

Ra 2014/18/0106

Ra 2014/18/0105

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. Sporrer sowie den Hofrat Mag. Nedwed, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober, den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Mag. Hainz-Sator als Richterinnen und Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Klammer, über die Revisionen der revisionswerbenden Parteien 1. Z S 2. A B, 3. Ah B, und 4. N B, alle in W und vertreten durch Mag. Philipp Horak, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Mahlerstraße 13, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zlen. W163 1425267- 1/9E (zu 1.), W163 1425271-1/9E (zu 2.), W163 1425265-1/4E (zu 3.) und W163 1425269-1/10E (zu 4.), betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

I. Sachverhalt und Revisionsverfahren:

1. Die revisionswerbenden Parteien sind Angehörige einer Familie bestehend aus den Eltern (der Erstrevisionswerberin und dem Viertrevisionswerber) und zwei Söhnen (dem volljährigen Zweitrevisionswerber und dem minderjährigen Drittrevisionswerber); alle sind afghanische Staatsangehörige mit tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit. Sie beantragten im Dezember 2011 internationalen Schutz in Österreich und brachten zusammengefasst vor, die Taliban hätten vor einiger Zeit zwei weitere Söhne (die Brüder des Zweit- und des Drittrevisionswerbers) mitgenommen und versprochen, sie nach 20 Tagen wieder zurückzubringen. Ein halbes Jahr später sei ihnen jedoch mitgeteilt worden, die Söhne seien bei Kämpfen in der Provinz Helmand ums Leben gekommen. Zwei Monate nach Erhalt der Todesnachricht seien die Taliban wieder gekommen und hätten erklärt, sie würden in der kommenden Nacht einen weiteren Sohn der Familie, nämlich den Zweitrevisionswerber, mitnehmen. Noch bevor es dazu gekommen sei, habe die Familie die Flucht ergriffen.

2. Mit Bescheiden vom bzw. vom wies das Bundesasylamt (nunmehr: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) die Anträge auf Zuerkennung des Status von Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ab. Gleichzeitig erkannte es den revisionswerbenden Parteien jedoch subsidiären Schutz zu und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen.

3. Die gegen die abweisenden Teile der erstinstanzlichen Bescheide erhobenen Beschwerden wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit den angefochtenen Erkenntnissen als unbegründet ab. Es sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG jeweils nicht zulässig sei.

Das BVwG stellte fest, dass der Grund für die Ausreise der revisionswerbenden Parteien aus Afghanistan die Furcht vor einer Zwangsrekrutierung (beider Söhne) durch die Taliban gewesen sei. Asylrelevante Gründe für das Verlassen des Heimatstaates könnten nicht festgestellt werden. Die geltend gemachte Verfolgung stehe nämlich in keinem kausalen Zusammenhang mit einem der in der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) abschließend genannten Verfolgungsgründe. Bei der behaupteten Gefahr einer Zwangsrekrutierung von afghanischen Männern durch bewaffnete Kämpfer der Taliban handle es sich weder um eine von einer staatlichen Behörde Afghanistans ausgehende noch um eine dem afghanischen Staat zurechenbare Verfolgung, die von den staatlichen Einrichtungen allenfalls auch geduldet würde. Auch aus einer Gesamtschau der Angaben der revisionswerbenden Parteien ergebe sich vielmehr, dass die Taliban in jenen Teilen Afghanistans, in denen sie nach wie vor präsent und aktiv seien, in einzelne Dörfer gegangen seien, um dort offenbar wahllos männliche Kämpfer für ihren "Heiligen Krieg" gegen die afghanische Regierung bzw. gegen die im Land befindlichen internationalen Truppen zu rekrutieren. Diese Verfolgungshandlungen könnten potentiell alle Menschen im Heimatgebiet der revisionswerbenden Parteien treffen und seien nicht mit einer besonderen Eigenschaft - etwa einer (unterstellten) politischen Gesinnung oder ethnischen Zugehörigkeit - begründet. Einer allfälligen - nicht asylrelevanten - Gefährdung durch drohende Zwangsrekrutierung bzw. die allgemeine Sicherheitslage sei bereits mit der Zuerkennung des Status von subsidiär Schutzberechtigten durch das Bundesasylamt hinreichend Rechnung getragen worden.

Zum erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG erstatteten Vorbringen der Erstrevisionswerberin, wonach sie als Frau in Afghanistan ständig zu Hause sein habe müssen, die Schule nicht besuchen und auch nicht arbeiten habe dürfen, führte das BVwG aus, die Erstrevisionswerberin habe keine konkreten Gründe vorgebracht, warum sie selbst als Frau in Afghanistan eine individuelle Verfolgung aus einem asylrelevanten Grund zu befürchten hätte. Sie habe angegeben, ein schwieriges Leben in den Bergen gehabt zu haben, nur selten beim Arzt gewesen zu sein und es hätten ihre Töchter nur deshalb die Schule nicht besuchen können, weil es in jener Gegend keine Schule gegeben habe und die Mädchen wegen der schlechten Lage nicht weit weg in eine Schule gehen hätten können. Auch der Umstand, dass die Erstrevisionswerberin trotz eines bereits zweijährigen Aufenthalts in Österreich keinerlei Anstrengungen unternommen habe, zumindest etwas Deutsch zu lernen, und ihr Erscheinungsbild in der mündlichen Verhandlung würden nicht darauf hinweisen, dass sie eine individuelle Verfolgung aus asylrelevanten Gründen zu befürchten hätte. Deshalb habe es die Erstrevisionswerberin auch mit der umfassenden Darlegung der bekanntermaßen sehr schwierigen Situation von Frauen in Afghanistan nicht vermocht, das BVwG von einer allfälligen konkreten, individuellen und damit auch asylrelevanten Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu überzeugen.

4. Gegen diese Erkenntnisse richten sich die vorliegenden außerordentlichen Revisionen. Sie bringen zusammengefasst vor, das BVwG sei in Bezug auf die Asylrelevanz von angedrohter Zwangsrekrutierung und die Lage von Frauen in Afghanistan von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

Die revisionswerbenden Parteien seien aufgrund des von ihnen gesetzten Verhaltens, nämlich durch die ablehnende Haltung gegenüber den Taliban, denen sie sich nicht untergeordnet hätten, als politische und/oder religiöse Gegner der radikalen Gruppierung der Taliban anzusehen und es drohe ihnen aus politischen Gründen Verfolgung, welche der Staat Afghanistan aktuell nicht hintanhalten könne. Die gegenwärtige Situation von Frauen in Afghanistan gehe im Übrigen - aus näher dargestellten Gründen - über das Vorliegen einer bloßen (asylrechtlich nicht beachtlichen) Diskriminierung von Frauen hinaus.

5. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.

II. Rechtslage:

§ 3 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 87/2012, lautet:

"Status des Asylberechtigten

§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht."

Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention

(GFK), BGBl. Nr. 55/1955, lautet (auszugsweise):

"Artikel 1

Definition des Ausdruckes 'Flüchtling'

A. Als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens ist anzusehen, wer (...)

2. (...) aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutezs dieses Landes zu bedienen; (...)"

III. Erwägungen:

1. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Revisionsverfahren wegen ihres sachlichen und persönlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbunden.


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2.
Die außerordentlichen Revisionen sind zulässig und begründet.
3.
Das BVwG zieht nicht in Zweifel, dass die Taliban versucht hätten, zumindest den Zweitrevisionswerber (nach den Feststellungen des BVwG auch den Drittrevisionswerber) zwangsweise für die kriegerischen Auseinandersetzungen mit der afghanischen Regierung bzw. den internationalen Truppen zu rekrutieren, die Familie sich diesem Ansinnen aber nicht habe fügen wollen und deshalb die Flucht ergriffen habe.
Es wird jedoch die Rechtsansicht vertreten, die versuchte Zwangsrekrutierung beruhe auf keinem Konventionsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK und könne deshalb keine Asylgewährung rechtfertigen.
4.
Dem ist nur insofern zuzustimmen, als der Verwaltungsgerichtshof in seiner bisherigen Rechtsprechung von der - nicht asylrelevanten - Zwangsrekrutierung durch eine Bürgerkriegspartei (vgl. etwa , vom , 99/20/0373, und vom , 2006/19/0387) jene Verfolgung unterschieden hat, die an die tatsächliche oder nur unterstellte politische Gesinnung anknüpft, die in der Weigerung, sich den Rekrutierenden anzuschließen, gesehen wird. Auf das Auswahlkriterium für die Zwangsrekrutierung selbst kommt es in einem solchen Fall nicht an (vgl. , mwN).
5.
Dementsprechend greift die Beurteilung des BVwG, die Zwangsrekrutierung durch die Taliban könne "potentiell alle Menschen im Heimatgebiet" der revisionswerbenden Parteien treffen und sei nicht mit einer besonderen Eigenschaft begründet, zu kurz. Entscheidend ist vielmehr, mit welchen Reaktionen der Taliban die revisionswerbenden Parteien (also auch die Familienangehörigen des von der versuchten Zwangsrekrutierung unmittelbar betroffenen Zweitrevisionswerbers) aufgrund ihrer Weigerung, sich dem Willen der Rekrutierenden zu beugen, rechnen müssen und ob in ihrem Verhalten eine - sei es auch nur unterstellte - politische oder religiöse oppositionelle Gesinnung erblickt wird.
6.
In den von den Revisionen ins Treffen geführten UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom , denen nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken ist ("Indizwirkung"; vgl. etwa bis 1000, mwN), wird unter anderem festgehalten, dass Personen, die sich im Gebiet regierungsfeindlicher Kräfte einer Rekrutierung widersetzen, nach Berichten gefährdet seien, der Spionage für die Regierung angeklagt und getötet oder bestraft zu werden (vgl. Seiten 45f der Richtlinien). Schon darin könnte ein Anhaltspunkt dafür gesehen werden, dass die Taliban die Weigerung der Familie, für sie weitere Kämpfer bereitzustellen, als Ausdruck von deren (allenfalls nur unterstellter) politischer oppositioneller Gesinnung betrachten und sie damit als Feinde verfolgen würden.
7.
Das BVwG hat sich in Verkennung der Rechtslage weder mit diesen Richtlinien beschäftigt, noch hat es vor dem Hintergrund anderer einschlägiger Länderberichte Feststellungen über die Vorgangsweise der Taliban gegen Personen getroffen, die sich ihrem Willen in Bezug auf die gewünschte Rekrutierung von Kämpfern widersetzen. Erst anhand dieser Tatsachengrundlage ließen sich aber Rückschlüsse auf die den Betroffenen von den Verfolgern allenfalls auch nur unterstellte politische und/oder religiöse oppositionelle Gesinnung ziehen.
8.
Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
9.
Bei diesem Ergebnis braucht auf die in der Revision der Erstrevisionswerberin angesprochene weitere Rechtsfrage, ob das BVwG auch von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes betreffend die Verfolgung afghanischer Frauen abgewichen sei, nicht weiter eingegangen zu werden.
10.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am