VwGH vom 20.10.2011, 2011/21/0173
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Senft, über die Beschwerde 1. der G, 2. des A, 3. des S 4. des H und 5. der L, alle vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zlen. UVS- 02/12/4611/2010-23, UVS-02/V/12/4647/2011, UVS-02/12/4612/2010, UVS-02/V/12/4648/2011, UVS-02/12/4615/2010, UVS-02/V/12/4649/2011, UVS-02/12/4616/2010, UVS-02/V/12/4650/2011, UVS-02/12/4617/2010, UVS-02/V/12/4651/2011, betreffend Beschwerde wegen Festnahmen (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die beschwerdeführenden Parteien, Eltern und drei minderjährige Kinder russischer Staatsangehörigkeit, reisten am über Polen kommend illegal in das Bundesgebiet ein. Am selben Tag stellten sie Anträge auf internationalen Schutz. Diese wurden vom Bundesasylamt mit Bescheiden vom gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 zurückgewiesen, zugleich wurden die beschwerdeführenden Parteien nach Polen ausgewiesen. Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden vom Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom als unbegründet abgewiesen. Am erfolgte die Überstellung der beschwerdeführenden Parteien nach Polen.
Am Abend des wurden die beschwerdeführenden Parteien in Wien angetroffen. Sie wurden durch Organe der Bundespolizeidirektion Wien festgenommen und in das Polizeianhaltezentrum Rossauer Lände überstellt, wo sie über Nacht angehalten wurden. Noch am (den vorgelegten Verwaltungsakten zufolge um 20:40 Uhr) stellten sie neuerlich Anträge auf internationalen Schutz. Am erfolgte die Erstbefragung auf Grund dieser Folgeanträge. Um 16:30 Uhr wurden die beschwerdeführenden Parteien sodann entlassen, wobei ihnen mitgeteilt wurde, dass sie sich selbständig in die Erstaufnahmestelle West zu begeben hätten.
Am erhoben die beschwerdeführenden Parteien gemäß Art. 129a Abs. 1 Z 2 B-VG Beschwerde gegen die Festnahme und Anhaltung durch die Bundespolizeidirektion Wien. Mit Schriftsatz vom verbesserten sie die Administrativbeschwerde insofern, als sie diese nun auch gegen das Bundesasylamt richteten.
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde die Beschwerde kostenpflichtig als unzulässig zurück, soweit sie sich gegen die Bundespolizeidirektion Wien richtete, und als unbegründet ab, soweit sie sich gegen das Bundesasylamt richtete.
Begründend führte die belangte Behörde - nach Darstellung des bisherigen Verfahrensgangs - zunächst aus, die beschwerdeführenden Parteien seien laut Meldung der Bundespolizeidirektion Wien vom am "nach den Bestimmungen des Asylgesetzes aufgrund einer Ausweisung" festgenommen worden. Aus den Vorakten im Asylverfahren ergebe sich, dass eine rechtskräftige Ausweisung gegen die beschwerdeführenden Parteien vorliege und dass diese bereits am nach Polen rücküberstellt worden seien.
Einen Aktenvermerk der Bundespolizeidirektion Wien vom gab die belangte Behörde sodann wie folgt wieder (Schreibfehler im Original):
"Am um 20:20 fuhr der Streifenkraftwagen Ludwig 2 nach Wien 13 (…) bezüglich einer Wohnungsüberwachung beordert. Im Garten des Hauses wurden von der Besatzung des Ludwigs 2 eine männliche Person wahrgenommen, die sich nicht ausweisen konnte und sich weder in Deutsch noch Englisch verständlich machen konnte. Der angehaltene (Zweitbeschwerdeführer) führte die Beamten zu einer Wohnung, in der sich noch weitere Personen befanden. Aus diesem Grund, wurde via Funk weitere Kräfte herbeigeholt. (…) Für keine Personen war ein Lichtbilddokument vorhanden. Aus diesem Grund war anzunehmen, dass sich diese Personen widerrechtlich im Bundesgebiet aufhalten. Daher seien die Personen zur Abklärung des weiteren Sachverhalts in das Polizeianhaltezentrum überstellt worden. Im Polizeianhaltezentrum seien von zwei der drei Erwachsenen die Identität geklärt werden. Es handelte sich hierbei um (Zweitbeschwerdeführer) und dessen Gattin (Erstbeschwerdeführerin), beide seien am aus dem Bundesgebiet ausgewiesen worden. Nach Rücksprache mit dem Journaldienst des Bundesasylamtes sei eine Festnahme gemäß § 47 Asylgesetz angeordnet worden. Die Angehaltenen seien in das Polizeianhaltezentrum in die dortige Familienunterkunft verbracht worden."
Nach Wiedergabe des § 47 AsylG 2005 erklärte die belangte Behörde weiter, aus der Aktenlage und dem durchgeführten Ermittlungsverfahren gehe eindeutig hervor, dass der "Festnahmeauftrag" wie auch die "zuvor rechtskräftige Ausweisung" der beschwerdeführenden Parteien dem Bundesasylamt zuzurechnen seien. Die Organe der Bundespolizeidirektion Wien seien lediglich im asylrechtlichen Verfahren für das Bundesasylamt eingeschritten. Die Bundespolizeidirektion Wien sei daher "nicht als weitere belangte Behörde anzusehen".
Unbestrittenermaßen liege - so der angefochtene Bescheid weiter - eine rechtskräftige Ausweisung gegen die beschwerdeführenden Parteien vor. Tatsächlich seien sie am nach Polen überstellt worden und offensichtlich trotzdem nach Österreich zurückgekehrt, wo sie am um 20:20 Uhr in Wien 13 angetroffen worden seien. Es sei in den Abendstunden noch eine Überstellung in das Polizeianhaltezentrum erfolgt, wobei die drei minderjährigen Kinder bei den Eltern belassen worden seien. Wenn der Rechtsvertreter der beschwerdeführenden Parteien meine, dass zumindest die Anhaltung der Kinder unrechtmäßig gewesen sei, so sei dem entgegenzuhalten, dass sehr wohl "unter Umständen aufgrund der besonderen Umstände, zB späte Abendzeit" die Unterbringung in einem Familienanhalteraum vertretbar gewesen sei. Hätte man die minderjährigen Kinder gegen den Willen der Eltern anderweitig untergebracht, wäre diesbezüglich allenfalls auch eine Rechtsverletzung vorgelegen. Wenn der Rechtsvertreter der beschwerdeführenden Parteien aber meine, man hätte die ganze Familie nicht anhalten dürfen, so sei darauf hinzuweisen, dass eine rechtskräftige Ausweisung vorgelegen habe, die Ausweisung nach Polen am durchgeführt worden sei und die beschwerdeführenden Parteien offensichtlich Entscheidungen österreichischer Behörden negierten und, ohne den Ausgang des Asylverfahrens in Polen abzuwarten, nach Österreich zurückgekehrt seien. Den Behörden obliege es, für Recht und Ordnung und Einhaltung der bestehenden Gesetze, Verordnungen und behördlichen Entscheidungen zu sorgen und insbesondere behördliche Entscheidungen nach deren Rechtskrafteintritt auch mit Zwang und Gewalt durchzusetzen. Andernfalls wäre "jeder behördlichen Entscheidung der Boden abgegraben, wenn der Einzelne macht, was er will, was hier offensichtlich der Fall war". Im Sinne eines "geordneten Daseins" sei der "Behörde, so auch der Bundespolizeidirektion Wien" keine andere Möglichkeit geblieben, als zur Klärung des Sachverhaltes und für weitere Entscheidungen des Bundesasylamtes die beschwerdeführenden Parteien vorläufig anzuhalten.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:
§ 47 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 2005 - AsylG 2005 (in der Fassung BGBl. I Nr. 4/2008) lautet:
"§ 47. (1) Die Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes sind ermächtigt, einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, zum Zwecke der Vorführung vor das Bundesasylamt festzunehmen, wenn
1. dieser Fremde nicht zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt ist oder
2. gegen diesen Fremden ein Festnahmeauftrag (§ 26) erlassen worden ist.
(2) Eine Festnahme gemäß Abs. 1 Z 1 darf nur so lange aufrecht erhalten werden, als dies notwendig ist; sie darf 48 Stunden jedenfalls nicht überschreiten."
Abs. 3 betrifft das Hindern am Verlassen der Erstaufnahmestelle, Abs. 4 das Flughafenverfahren.
In der Beschwerde wird zum einen die Ansicht vertreten, die Festnahme sei der Bundespolizeidirektion Wien zuzurechnen, weil die einschreitenden Polizisten ohne Rechtsgrundlage gehandelt hätten und die Festnahme außerdem auch durch Journalbedienstete der Fremdenpolizei "mitgetragen" worden sei. Zum anderen wird unter Berufung auf § 47 AsylG 2005 die Notwendigkeit der Maßnahme bestritten, zumal den beschwerdeführenden Parteien am Tag nach der Festnahme mitgeteilt worden sei, sie sollten sich selbständig in die Erstaufnahmestelle West begeben. Es sei kein Grund ersichtlich, warum nicht schon am Abend des dieser Auftrag erteilt werden habe können oder warum die Familie nicht sofort dem Bundesasylamt/Außenstelle Traiskirchen (wo ein 24- Stundenbetrieb eingerichtet sei) vorgeführt worden sei. Diesfalls wäre den Kindern die belastende Übernachtung in der Haft erspart geblieben. Laut polizeilicher Meldung vom habe der Referent der Fremdenpolizeibehörde überhaupt mitgeteilt, dass die Familie sich eine Unterkunft suchen solle, sofern keine Unterbringung in einer Erstaufnahmestelle möglich sei. Es stelle sich daher die Frage, warum die beschwerdeführenden Parteien überhaupt in ihrer Unterkunft festgenommen und über Nacht angehalten worden seien.
Dieses Vorbringen führt die Beschwerde zum Erfolg:
1. Die Zurückweisung der Beschwerde (soweit sie sich gegen die Bundespolizeidirektion Wien richtete) begründete die belangte Behörde damit, dass aus der Aktenlage und dem durchgeführten Ermittlungsverfahren eindeutig hervorgehe, dass der "Festnahmeauftrag" dem Bundesasylamt zuzurechnen sei und die Organe der Bundespolizeidirektion Wien lediglich im asylrechtlichen Verfahren für das Bundesasylamt eingeschritten seien.
Dazu ist zunächst anzumerken, dass sich den vorgelegten Verwaltungsakten ein Festnahmeauftrag nicht entnehmen lässt. Auch aus den sonstigen Feststellungen der belangten Behörde kann aber nicht abgeleitet werden, dass die einschreitenden Beamten bei der Festnahme ausschließlich in Vollziehung des Asylgesetzes gehandelt hätten. Der im angefochtenen Bescheid wiedergegebene Aktenvermerk der Bundespolizeidirektion Wien vom deutet vielmehr darauf hin, dass die Festnahme gemäß § 47 AsylG erst im Polizeianhaltezentrum erfolgt ist. Welcher Festnahmegrund davor - für die Festnahme in der Wohnung und die Überstellung in das Polizeianhaltezentrum (von einem freiwilligen Mitkommen der beschwerdeführenden Parteien in das Polizeianhaltezentrum geht offenbar auch die belangte Behörde nicht aus)- herangezogen worden ist, hat die belangte Behörde nicht festgestellt. Sollte die Festnahme in der ersten Phase nicht auf einen asylrechtlichen Festnahmegrund gestützt worden sein, so wäre sie aber insoweit der Bundespolizeidirektion Wien zuzurechnen und die gegen diese gerichtete Beschwerde inhaltlich zu behandeln gewesen (vgl. zu den im Hinblick auf die belangte Behörde im Maßnahmenbeschwerdeverfahren möglichen "Überschneidungen", wenn die Festnahme eines Fremden vorerst etwa nach § 39 FPG zur Sicherung des fremdenpolizeilichen Verfahrens erfolgte, im weiteren Verlauf der Amtshandlung jedoch ein Asylantrag gestellt wird und dann eine Vorführung vor die Asylbehörde erfolgt, Frank/Anerinhof/Filzwieser , AsylG 20055, K11. zu § 43 und K7. zu § 47). Auf Basis ihrer Feststellungen durfte die belangte Behörde die Beschwerde gegen die Bundespolizeidirektion Wien daher nicht zurückweisen.
2. Jedenfalls in der zweiten Phase (nach Überstellung in das Polizeianhaltezentrum) wurde die Festnahme auf § 47 Abs. 1 AsylG 2005 gestützt. Insoweit war die Festnahme daher - unabhängig davon, ob sie rechtmäßig war - dem Bundeasylamt zuzurechnen (dass den vorgelegten Verwaltungsakten ungeachtet dessen eine Beiziehung des Bundesasylamtes als belangte Behörde nicht zu entnehmen ist, sei nur der Vollständigkeit halber angemerkt).
Voraussetzung für eine Festnahme auf Grund des § 47 Abs. 1 AsylG 2005 ist nach dessen Einleitungssatz, dass ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Im Beschwerdefall wurden Anträge auf internationalen Schutz den Verwaltungsakten zufolge erst am Tag der Festnahme um 20:40 Uhr gestellt. Ob die Festnahme auf Grund des § 47 AsylG 2005 davor oder danach erfolgt ist, wurde von der belangten Behörde nicht festgestellt. Dies wäre aber zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der im Verwaltungsverfahren bekämpften Maßnahmen erforderlich gewesen, weil es bis zum Zeitpunkt der Antragstellung schon an der Eingangsvoraussetzung des § 47 Abs. 1 AsylG 2005 gefehlt hätte.
Auf welchen der beiden Tatbestände des § 47 Abs. 1 AsylG 2005 die Festnahme gestützt wurde, hat die belangte Behörde ebenfalls nicht festgestellt.
Eine Festnahme auf Grund des § 47 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 wäre schon wegen des Fehlens eines Festnahmeauftrags nach § 26 AsylG 2005 rechtswidrig gewesen. Der Tatbestand des § 47 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 war nach der Antragstellung hingegen grundsätzlich erfüllt, weil die beschwerdeführenden Parteien nicht zum Aufenthalt im Bundesgebiet berechtigt waren. Gemäß § 47 Abs. 2 AsylG 2005 darf eine Festnahme gemäß Abs. 1 Z 1 jedoch nur so lange aufrechterhalten werden, als dies notwendig ist. Für den Fall der Heranziehung dieses Festnahmegrundes hätte die belangte Behörde daher darlegen müssen, dass die Aufrechterhaltung der Festnahme über rund 20 Stunden notwendig war. Dabei hätte sie sich insbesondere mit der bereits in der Administrativbeschwerde aufgeworfenen Frage auseinandersetzen müssen, warum die beschwerdeführenden Parteien nicht schon früher mit der Auflage, sich selbständig in eine Erstaufnahmestelle zu begeben, entlassen worden sind. Der Beschwerde ist auch darin Recht zu geben, dass die Mitbetroffenheit von drei kleinen Kindern (der dritt- bis fünftbeschwerdeführenden Parteien) eine umso sorgfältigere Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Festnahme und ihrer Aufrechterhaltung geboten hätte.
3. Da die belangte Behörde nach dem Gesagten offenbar in Verkennung der Rechtslage wesentliche Ermittlungen und Feststellungen unterlassen hat, die einerseits für die Frage der Zulässigkeit der Administrativbeschwerde und andererseits zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der im Verwaltungsverfahren bekämpften Maßnahmen notwendig gewesen wären, war der angefochtene Bescheid insgesamt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
CAAAE-91829