VwGH vom 16.11.2012, 2011/21/0065

VwGH vom 16.11.2012, 2011/21/0065

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des J in W, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates im Land Niederösterreich vom , Zl. Senat-FR-10-1051, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom , bestätigt durch das Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom , abgewiesen wurde; zugleich wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Asylgesetz 2005 - AsylG 2005 nach Pakistan ausgewiesen.

Vom bis zu seiner Entlassung wegen Haftunfähigkeit infolge Hungerstreiks am befand sich der Beschwerdeführer in Schubhaft.

Am stellte er einen neuerlichen Antrag auf internationalen Schutz. Am wurde ihm gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 AsylG 2005 mitgeteilt, dass beabsichtigt sei, den Antrag wegen entschiedener Sache zurückzuweisen und den faktischen Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 2 AsylG 2005 aufzuheben.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom , zugestellt am , wurde sein Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 68 Abs. 1 AVG wegen entschiedener Sache zurückgewiesen, und er wurde neuerlich gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 nach Pakistan ausgewiesen.

Am wurde er in der Badner Bahn auf Höhe des Bahnhofes Guntramsdorf in Fahrtrichtung Wien angetroffen und gemäß § 39 Abs. 3 Z 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG festgenommen.

Mit am selben Tag in Vollzug gesetztem Mandatsbescheid vom verhängte die Bezirkshauptmannschaft Baden über den Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 2a Z 2 FPG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 und zur Sicherung der Abschiebung.

Begründend führte sie im Wesentlichen aus, der Beschwerdeführer habe am 21. und am die Gebietsbeschränkung gemäß § 12 Abs. 2 AsylG 2005 verletzt. Gegen ihn sei ein Ausweisungsverfahren eingeleitet worden. Sein Aufenthalt in Österreich sei für die Dauer des Zulassungsverfahrens nur im Gebiet der Bezirksverwaltungsbehörde, in dem sich sein Aufenthaltsort gemäß § 15 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 befinde, geduldet. Darüber hinaus sei sein Aufenthalt im gesamten Bundesgebiet geduldet, wenn und solange dies zur Erfüllung von gesetzlichen Pflichten, zur Befolgung von Ladungen zu Gerichten und Verwaltungsbehörden oder für die Inanspruchnahme einer medizinischen Versorgung und Behandlung notwendig sei. Der Beschwerdeführer habe angegeben, den Bezirk Baden am 21. und am verlassen zu haben, um in Wien mit einer NGO Kontakt aufzunehmen. Er habe außerdem behauptet, dass er Österreich (nach seiner ersten Schubhaft) verlassen hätte und von Pakistan aus wieder zurückgekehrt wäre. Diese Angaben seien unglaubwürdig.

Die Bezirkshauptmannschaft Baden führte sodann wörtlich Folgendes aus: "Nach eingehender Prüfung, ob bei Ihrer Person Umstände einer Verhängung der Schubhaft entgegenstehen, kommt die Behörde zum Entschluss, dass dem Willen des Gesetzgebers über Sie die Schubhaft anzuordnen, höheres Gewicht beizumessen ist (gemäß § 76 Abs. 2a 'hat die Behörde Schubhaft anzuordnen') als die im Zuge der getätigten Erhebungen gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf Ihre Person die einer Verhängung der Schubhaft entgegen stehen würden."

Da der Beschwerdeführer auf Grund der Information der Asylbehörde in Kenntnis sei, dass sein Asylverfahren negativ abgeschlossen werden würde und er zudem die Vorgaben des Asylgesetzes missachte, bestehe das Erfordernis, auf ihn jederzeit zugreifen zu können, um das Asylverfahren zu sichern. Es sei auch die Anwendung gelinderer Mittel auszuschließen gewesen.

Gegen die mit dem Bescheid vom verhängte Schubhaft erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an die belangte Behörde, wobei er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte. Er machte insbesondere geltend, dass das Zulassungsverfahren mit der am erfolgten Zustellung des Bescheides des Bundesasylamtes vom abgeschlossen worden sei. Ab diesem Zeitpunkt habe keine Gebietsbeschränkung mehr bestanden, sodass § 76 Abs. 2a Z 2 FPG nicht anwendbar sei. Es sei auch nicht der faktische Abschiebeschutz aberkannt worden. In einer Beschwerdeergänzung vom führte er außerdem aus, dass er den Bezirk Baden am 21. und nur deshalb verlassen habe, weil er in Wien Rechtsberatung in Anspruch nehmen habe wollen. Die Fahrten nach Wien seien keinesfalls in der Absicht erfolgt, sich dem Verfahren zu entziehen. Es sei zudem unions- und verfassungsrechtswidrig, einem Asylwerber das Verlassen eines Gebiets zwecks Inanspruchnahme von Rechtsberatung zu untersagen.

Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Administrativbeschwerde keine Folge und stellte gemäß § 83 Abs. 4 FPG fest, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen.

Nach Darstellung des Sachverhalts, des bisherigen Verfahrensgangs und der Rechtslage führte die belangte Behörde aus, dass für den Beschwerdeführer am die Gebietsbeschränkung auf den Bezirk Baden gegolten habe. Der Beschwerdeführer sei an diesem Tag im Bezirk Mödling betreten worden. Es sei daher eine Verletzung des § 12 Abs. 2 AsylG 2005 erfolgt, sodass sich der Spruch des Schubhaftbescheides der Bezirkshauptmannschaft Baden richtig auf § 76 Abs. 2a Z 2 FPG stütze, auch wenn in der Begründung fälschlich auf die "Betretungen" am 21. und verwiesen worden sei.

Auf Grund des bisherigen Verhaltens des Beschwerdeführers, insbesondere seines illegalen Aufenthaltes nach Abschluss des ersten Asylverfahrens und der Verhinderung weiterer fremdenpolizeilicher Maßnahmen durch Hungerstreik seien ausreichend Gründe für die Annahme gegeben, dass sich der Beschwerdeführer auch nunmehr fremdenpolizeilichen Maßnahmen, insbesondere seiner Abschiebung, entziehen werde.

Die Ausführungen in der Schubhaftbeschwerde, dass der Beschwerdeführer die Gebietsbeschränkung nur deshalb verletzt habe, weil er rechtliche Beratung habe in Anspruch nehmen wollen, bezögen sich nicht auf die Betretung am , sondern auf jene am 21. und , die für die belangte Behörde nicht relevant seien, da zu dieser Zeit keine Gebietsbeschränkung bestanden habe. Zu dem Vorfall am habe sich der Beschwerdeführer nicht geäußert.

Weiters sei vom Beschwerdeführer anlässlich seiner Einvernahme vor der Bezirkshauptmannschaft Baden am ausgeführt worden, dass er an diesem Tag ein Dokument von seiner alten Adresse in Wien habe holen wollen. Der Beschwerdeführer sei aber in Wien niemals an einer Wohnadresse gemeldet gewesen. Es könne deshalb davon ausgegangen werden, dass er illegal in Wien Aufenthalt genommen habe und nicht beabsichtige, Österreich freiwillig zu verlassen.

Auf Grund des bisherigen Verhaltens des Beschwerdeführers komme auch die Anordnung eines gelinderen Mittels nicht in Betracht.

Die Abhaltung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung habe gemäß § 83 Abs. 2 Z 1 FPG unterbleiben können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt sei.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen hat:

Gemäß § 76 Abs. 2 FPG kann die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber oder einen Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung u.a. dann anordnen, wenn gegen ihn eine durchsetzbare - wenn auch nicht rechtskräftige - Ausweisung (§ 10 AsylG 2005) erlassen wurde (Z 1).

Gemäß dem durch das FrÄG 2009, BGBl. I Nr. 122, eingefügten § 76 Abs. 2a FPG hat die örtlich zuständige Fremdenpolizeibehörde über einen Asylwerber Schubhaft u.a. dann anzuordnen, wenn gegen den Asylwerber eine mit einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 5 AsylG 2005 verbundene durchsetzbare Ausweisung erlassen wurde oder ihm gemäß § 12a Abs. 1 AsylG 2005 ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukommt (Z 1) oder wenn eine Mitteilung gemäß § 29 Abs. 3 Z 4 bis 6 AsylG 2005 erfolgt ist und der Asylwerber die Gebietsbeschränkung gemäß § 12 Abs. 2 AsylG 2005 verletzt hat (Z 2) und die Schubhaft jeweils für die Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer Ausweisung gemäß § 10 AsylG 2005 oder zur Sicherung der Abschiebung notwendig ist, es sei denn, dass besondere Umstände in der Person des Asylwerbers der Schubhaft entgegenstehen.

Der Beschwerdeführer bringt vor, dass er gemäß § 76 Abs. 2a Z 2 FPG wegen einer Gebietsbeschränkungsverletzung vom in Schubhaft genommen worden sei, eine solche Verletzung zu diesem Zeitpunkt aber nicht stattgefunden haben könne, weil das Zulassungsverfahren bereits abgeschlossen gewesen sei. Es sei unzulässig, dass der unabhängige Verwaltungssenat Begründungs- und Ermittlungsmängel der Behörde nachträglich saniere und - wie im vorliegenden Fall - das Datum einer Gebietsbeschränkungsverletzung vom anführe. Eine Gebietsbeschränkungsverletzung vom wäre außerdem am nicht mehr von Relevanz. Der angefochtene Bescheid sei auch insofern mangelhaft, als sich die belangte Behörde weder mit dem Argument, dass der Beschwerdeführer eine Rechtsberatung habe aufsuchen wollen, noch mit dem Umstand, dass es keinen Anhaltspunkt für das Absehen von gelinderen Mitteln gebe, auseinandergesetzt habe.

Unstrittig ist im Beschwerdefall, dass der Beschwerdeführer schon zum Zeitpunkt der Schubhaftverhängung nicht mehr der Gebietsbeschränkung gemäß § 12 Abs. 2 AsylG 2005 unterlag, weil das Zulassungsverfahren mit der Zurückweisung des Antrages wegen entschiedener Sache beendet war. Damit war aber nicht mehr der Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2a Z 2 FPG heranzuziehen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/21/0234). Auch der Tatbestand des § 76 Abs. 2a Z 1 FPG war im Beschwerdefall nicht erfüllt, weil gegenüber dem Beschwerdeführer keine Zurückweisung gemäß § 5 AsylG 2005 ergangen war. Richtigerweise wäre im Hinblick auf das Vorliegen einer durchsetzbaren Ausweisung § 76 Abs. 2 Z 1 FPG als Schubhaftgrund in Betracht gekommen.

Dadurch, dass an dessen Stelle § 76 Abs. 2a Z 2 FPG herangezogen wurde, wurde der Beschwerdeführer in Rechten verletzt: Der Tatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG kann nämlich - anders als jener des § 76 Abs. 2a Z 1 FPG - nicht als bloße "Verdichtung" des § 76 Abs. 2a Z 2 FPG auf Grund des Fortgangs des Asylverfahrens angesehen werden, weil er in einem anders strukturierten Absatz geregelt ist, der das Absehen von der Schubhaft trotz Bejahung eines Sicherungsbedarfs ermöglicht:

Während nach § 76 Abs. 2a FPG die Schubhaft zu verhängen "ist", eröffnet § 76 Abs. 2 FPG den Behörden durch die Verwendung des Wortes "kann" einen Ermessensspielraum; auch in den Fällen des § 76 Abs. 2a FPG ist zwar nicht jedenfalls - ohne Verhältnismäßigkeitsprüfung - Schubhaft zu verhängen, bei Bejahung eines Sicherungsbedarfs und der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall ist aber zwingend mit Schubhaft vorzugehen, ohne dass noch - wie im Geltungsbereich des § 76 Abs. 2 FPG - die Anwendung eines gelinderen Mittels in Betracht käme (vgl. abermals das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/21/0234).

Auch bei der Fortsetzung einer zunächst rite gemäß § 76 Abs. 2a Z 2 FPG verhängten Schubhaft wäre zu unterscheiden: Sie kann zwar - ohne neuerliche Bescheiderlassung - aufrechterhalten werden, wenn auf Grund des Fortschreitens des Asylverfahrens der Tatbestand des § 76 Abs. 2a Z 1 FPG oder des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG verwirklicht wird. Dabei bedarf es im Fall der Anwendbarkeit des § 76 Abs. 2a Z 1 FPG, der sich als "Verdichtung" des Tatbestandes des § 76 Abs. 2a Z 2 FPG innerhalb derselben Norm darstellt, keiner Verständigung des Angehaltenen über den neuen Schubhaftgrund. Bei einem "Umstieg" von einem Schubhaftgrund des § 76 Abs. 2a FPG auf einen solchen des § 76 Abs. 2 FPG während der Anhaltung ist aber eine schriftliche Verständigung des Angehaltenen erforderlich, um ihm die effektive Bekämpfung der - nun am Maßstab des § 76 Abs. 2 FPG zu beurteilenden - Fortsetzung der Schubhaft zu ermöglichen (vgl. in diesem Sinn zum Wechsel von § 76 Abs. 1 FPG auf einen Tatbestand des § 76 Abs. 2 FPG das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0582).

Der angefochtene Bescheid erweist sich nach dem Gesagten schon deswegen als rechtswidrig, weil die erst nach Zurückweisung des Antrages auf internationalen Schutz nach § 68 AVG verhängte Schubhaft - ebenso wie der Fortsetzungsausspruch - nicht auf § 76 Abs. 2a Z 2 FPG gestützt hätte werden dürfen, sondern nach den im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen nur der Schubhafttatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG in Betracht gekommen wäre.

Er war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am