VwGH vom 20.03.2012, 2011/21/0016
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des A in W, vertreten durch Dr. Lennart Binder, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Rochusgasse 2, gegen den am verkündeten und am ausgefertigten Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien, Zl. UVS-01/11/11769/2010-10, betreffend Schubhaft (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der genannte Bescheid wird im Umfang des angefochtenen ersten Spruchpunktes (Erklärung des Schubhaftbescheides, der Festnahme und Anhaltung des Beschwerdeführers in Schubhaft bis zum für rechtmäßig) und der Kostenentscheidung wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, reiste am nach Österreich ein und beantragte am Tag darauf erfolglos die Gewährung von internationalem Schutz. Mit rechtskräftigem Bescheid vom wurde er aus Österreich nach Indien ausgewiesen.
Mit - am selben Tag in Vollzug gesetztem - Bescheid vom verhängte die Bundespolizeidirektion Wien über den in Österreich verbliebenen Beschwerdeführer gemäß § 76 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung. Begründend führte sie aus, der Beschwerdeführer sei im Bundesgebiet "unangemeldet wohnhaft" und ohne gültiges Reisedokument angetroffen worden. Es bestehe keine Rechtsgrundlage, die ihn zum Aufenthalt berechtige. Die Anordnung eines gelinderen Mittels gemäß § 77 FPG komme nicht in Betracht, weil der Beschwerdeführer weder familiäre oder soziale noch legale berufliche Bindungen zum Bundesgebiet habe und sein "wahrer Aufenthaltsort" im Hinblick auf die "laut Polizeibericht" vorliegende Scheinmeldung nicht feststellbar sei. Es sei daher zu besorgen, dass er sich dem fremdenpolizeilichen Verfahren entziehen werde. Dieser Gefahr könne durch Anwendung gelinderer Mittel nicht begegnet werden.
Dagegen erhob der Beschwerdeführer am Schubhaftbeschwerde, in der er (unter Beilage einer seine Anmeldung am bescheinigenden Meldebestätigung) geltend machte, an einer näher bezeichneten Wiener Adresse gemeldet und dort auch - nicht bloß zum Schein - wohnhaft zu sein.
Mit dem angefochtenen, nach mündlicher Verhandlung am verkündeten Bescheid erklärte die belangte Behörde gemäß § 83 Abs. 2 und 4 FPG den Schubhaftbescheid, die Festnahme und die Anhaltung in Schubhaft bis zum Verkündungszeitpunkt für rechtmäßig. Sie sprach jedoch aus, dass die Voraussetzungen für eine weitere Anhaltung gemäß § 83 Abs. 4 FPG nicht vorlägen. Gemäß § 79a AVG iVm § 1 Z. 3 und 4 der UVS-Aufwandersatzverordnung 2008 verhielt sie den Beschwerdeführer zum Kostenersatz.
Begründend erachtete sie das vom Beschwerdeführer in der Verhandlung angegebene Vorliegen "seiner Unterkunft, Unterhalt (Einkommen) sowie sozialversicherungsrechtlicher Stellung" als von der Behörde unwidersprochen. Allerdings habe sich der Beschwerdeführer gegenüber der Fremdenpolizei seit rechtskräftigem Abschluss seines Asylverfahrens nicht gemeldet "und auch sonst keiner Mitwirkung entsprochen".
Hieraus sei - so die belangte Behörde weiter - "die Feststellung zu treffen", dass bis zum Verkündungszeitpunkt die Voraussetzungen für die fremdenpolizeiliche Festnahme und Anhaltung in Schubhaft vorgelegen seien. Zur fehlenden Ausreisewilligkeit komme hier, dass der Beschwerdeführer keinerlei Mitteilungen an die Behörde darüber gemacht habe, dass eine ordnungsgemäße Meldung vorliege, "er eine Anmeldung zur Sozialversicherung unterhält und für seinen Lebensunterhalt zu sorgen in der Lage ist". Auch habe er auf die behördliche Aufforderung zur Ausreise vom nicht reagiert und die Behörde nicht informiert, dass er auf eine Beschwerde "an den VfGH abzielt". Es könne der Behörde daher kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie von deklarierter Ausreiseunwilligkeit, fehlender Unterkunft, fehlendem Einkommen und Sozialversicherung "und somit keinerlei Bindung an die Republik Österreich" ausgegangen sei. Die Voraussetzungen für seine weitere Anhaltung lägen jedoch auf Grund einer von ihm in Aussicht gestellten freiwilligen täglichen Meldung "und der dargelegten Unterkunft, Einkommen und Sozialversicherungsmeldung nicht vor". Überdies habe er - sein Asylverfahren betreffend - die Befassung des Verfassungsgerichtshofes mit einem Verfahrenshilfeantrag glaubhaft dargelegt. Für die Zukunft erscheine daher die Anwendung gelinderer Mittel zur Abdeckung des Sicherungsbedarfs als ausreichend.
Über die gegen diesen Bescheid, soweit der die Schubhaft anordnende Bescheid vom sowie die Festnahme und Anhaltung in Schubhaft bis zum für rechtmäßig erklärt wurden, erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Vorweg ist festzuhalten, dass die Rechtmäßigkeit der gegenständlichen Schubhaft nach dem Zeitraum ihres Vollzuges (also vom 19. bis zum ) zu beurteilen ist. Die zitierten Bestimmungen des FPG beziehen sich daher auf dessen damals geltende Fassung (vor dem FrÄG 2011).
Gemäß § 76 Abs. 1 FPG können Fremde festgenommen und angehalten werden (Schubhaft), sofern dies notwendig ist, um das Verfahren zur Erlassung eines Aufenthaltsverbotes oder einer Ausweisung bis zum Eintritt ihrer Durchsetzbarkeit oder um die Abschiebung, die Zurückschiebung oder die Durchbeförderung zu sichern.
Die Zulässigkeit dieser Maßnahme verlangt nach ständiger höchstgerichtlicher Rechtsprechung die Prüfung ihrer Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit, zu deren Beurteilung eine einzelfallbezogene Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Sicherung der Außerlandesschaffung (Aufenthaltsbeendigung) und dem privaten Interesse an der Schonung der persönlichen Freiheit des Betroffen vorzunehmen ist. Bei dieser Prüfung ist unter dem Gesichtspunkt des öffentlichen Interesses vor allem der Frage nachzugehen, ob im jeweils vorliegenden Einzelfall ein Sicherungsbedürfnis gegeben ist. Das setzt die gerechtfertigte Annahme voraus, der Fremde werde sich dem Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme bzw. nach deren Vorliegen der Abschiebung (insbesondere) durch Untertauchen entziehen oder es/sie zumindest wesentlich erschweren. Fehlende Ausreisewilligkeit für sich allein - insoweit ist der belangten Behörde beizupflichten - erfüllt dieses Erfordernis noch nicht. Die bloße Nichtbefolgung eines Ausreisebefehls vermag somit für sich genommen die Verhängung der Schubhaft nicht zu rechtfertigen, sondern der Sicherungsbedarf muss in weiteren Umständen begründet sein, wofür etwa eine mangelnde soziale Verankerung in Österreich in Betracht kommt. Für die Bejahung eines Sicherungsbedarfs sind im Anwendungsbereich des § 76 Abs. 1 FPG insbesondere das Fehlen ausreichender familiärer, sozialer oder beruflicher Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet entscheidend, woraus die Befürchtung, es bestehe das Risiko des Untertauchens eines Fremden, gerechtfertigt sein kann (vgl. zum Ganzen etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2008/21/0036, und vom , Zl. 2007/21/0498, jeweils mwN).
Die fallbezogen erfolgte Bejahung des Sicherungsbedarfs durch die belangte Behörde ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes mit ihren Tatsachenannahmen zum Vorliegen einer Unterkunft des Beschwerdeführers, seiner aufrechten sozialversicherungsrechtlichen Beschäftigung und der daraus erzielten Abdeckung des notwendigen Unterhalts nicht in Einklang zu bringen, zumal von der belangten Behörde kein konkretes Verhalten des Beschwerdeführers festgestellt wurde, aus dem die Befürchtung, er werde trotzdem im Bundesgebiet untertauchen, schlüssig abgeleitet werden könnte. Insbesondere ging die belangte Behörde nicht davon aus, dass bezüglich des Beschwerdeführers nur eine "Scheinmeldung" vorgelegen habe. Das Unterbleiben einer ausdrücklichen Information der Fremdenpolizeibehörde aber vermag einen ausreichenden Sicherungsbedarf nicht zu begründen.
Von daher sowie unter Berücksichtigung des Umstandes, dass keine weiteren, die Verhängung der Schubhaft rechtfertigenden Auffälligkeiten im Vorlebens des Beschwerdeführers festgestellt wurden, bestehen auch für den Zeitraum bis zum keine tauglichen Anhaltspunkte, um einen nur durch die Verhängung von Schubhaft abdeckbaren Sicherungsbedarf bejahen zu können.
Der Bescheid der belangten Behörde war daher im Umfang seiner Anfechtung, wobei durch den Wegfall der Sachentscheidung auch die Entscheidung über den Kostenersatz ihre Grundlage verliert, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
MAAAE-91642