VwGH vom 28.08.2012, 2011/21/0004
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Novak und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde des R in G, vertreten durch die Kocher Bucher Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark vom , Zl. E1/8922/2010, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:
Spruch
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
Der Beschwerdeführer hat dem Bund Aufwendungen in der Höhe von EUR 57,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der mit X. verheiratete Beschwerdeführer reiste am nach Österreich ein und beantragte die Gewährung von Asyl. Am wurde die gemeinsame Tochter L, am der gemeinsame Sohn I geboren. Die Genannten sind aus Tschetschenien stammende russische Staatsangehörige. Dem Beschwerdeführer wurde am , seiner Ehefrau am und den genannten Kindern am 15. Mai bzw. in Österreich Asyl gewährt, sie verfügten jeweils über Ausweispapiere.
Mit Bescheid vom erkannte das Bundesasylamt (ausschließlich) dem Beschwerdeführer auf Grund seiner nachstehend beschriebenen Straftaten und der deshalb erfolgten rechtskräftigen Verurteilungen den zuerkannten Status eines Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 AsylG 2005 ab, stellte fest, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme und erkannte ihm auch den Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z. 2 leg. cit. nicht zu. Gemäß § 10 Abs. 1 leg. cit. wies es den Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation aus.
Eine dagegen erhobene Beschwerde an den Asylgerichtshof blieb ohne Erfolg. Die Behandlung einer Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof wurde abgelehnt.
Am sprach der vom Beschwerdeführer schließlich (mit zu Application Nr. 54131/10 protokollierter Beschwerde) angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gemäß Artikel 39 seiner Verfahrensordnung aus, dass Österreich vorläufig (bis zur Rechtskraft seiner Entscheidung) die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Russland unterlassen solle. Mit Urteil vom stellte der EGMR in dieser Angelegenheit fest, dass die Ausweisung des Beschwerdeführers aus Österreich nach Tschetschenien weder Art. 3 noch Art. 8 EMRK verletze.
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid vom erließ die Sicherheitsdirektion für das Bundesland Steiermark (die belangte Behörde) gegen den Beschwerdeführer gemäß § 60 Abs. 1 und 2 Z. 1 sowie §§ 61, 63 und 66 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein auf zehn Jahre befristetes Aufenthaltsverbot.
Begründend verwies sie auf folgende rechtskräftige strafgerichtliche Verurteilungen des Beschwerdeführers und die diesen zu Grunde liegenden Tathandlungen:
1. Bezirksgericht für Strafsachen Graz vom wegen versuchten Diebstahls nach den §§ 15 und 127 StGB zu einer bedingt nachgesehenen zweiwöchigen Freiheitsstrafe.
2. Landesgericht Leoben vom wegen versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt, schwerer Körperverletzung und schwerer Sachbeschädigung nach den §§ 15, 269 Abs. 1, §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 2 Z. 4 StGB sowie §§ 125, 126 Abs. 1 Z. 5 StGB zu einer achtmonatigen Freiheitsstrafe (davon sechs Monate bedingt nachgesehen). Er habe im Juni 2006 in K drei Polizeibeamte mit Gewalt an einer Amtshandlung - nämlich seiner Festnahme - durch Faustschläge und zum Teil Kopfstöße gegen deren Körper und Gesicht zu hindern versucht. Er habe die hintere Seitenscheibe des Polizeieinsatzfahrzeuges eingetreten, indem er mit beiden Füßen - auf der Rückbank liegend - dagegen trat, bis diese zerbrach. Weiters habe er vorsätzlich zweimal gegen den rechten Oberschenkel einer einschreitenden Beamtin getreten, wodurch diese Prellungen erlitten habe. Einem weiteren Beamten habe er vorsätzlich Fußtritte gegen die rechte Hand versetzt, wodurch eine Zerrung des rechten Handgelenks, eine Kapselverletzung zwischen zweitem und drittem Finger der rechten Hand sowie Hautabschürfungen entstanden seien.
3. Landesgericht für Strafsachen Graz vom wegen versuchter absichtlicher schwerer Körperverletzung nach den §§ 15, 87 Abs. 1 sowie § 83 Abs. 2 und § 84 Abs. 1 StGB zu einer zwölfmonatigen Freiheitstrafe (bei Widerruf der zu Punkt 2. angeführten bedingten Strafnachsicht). Er habe - noch während offener Probezeit aus der letztgenannten Verurteilung - am in Graz Kontakt mit einer Prostituierten aufgenommen und ihr von hinten mit einer mitgebrachten Weinflasche einen Schlag gegen den Kopf versetzt, wodurch sie eine ca. 4 cm lange klaffende Rissquetschwunde, eine Schädelprellung sowie eine Gehirnerschütterung erlitten habe. Dabei sei es dem Beschwerdeführer darauf angekommen, die Prostituierte am Körper schwer zu verletzen.
Dadurch sei - so die belangte Behörde - der Tatbestand des § 60 Abs. 2 Z. 1 FPG erfüllt. Art und Weise der begangenen Straftaten rechtfertigten den Schluss, der Beschwerdeführer sei gegenüber der körperlichen Integrität anderer Personen und betreffend den Schutz fremden Eigentums negativ eingestellt und bilde eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit. Für einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet sei eine negative Prognosebeurteilung geboten.
In der Folge setzte sich die belangte Behörde mit den Kriterien des § 66 Abs. 2 FPG auseinander und bejahte trotz des Eingriffs in das Privat- und Familienleben des (am aus der Strafhaft entlassenen) Beschwerdeführers die Zulässigkeit des Aufenthaltsverbotes: Die für die Integration wesentliche soziale Komponente sei durch die dargestellten Straftaten erheblich beeinträchtigt. Die Kontaktnahme zwischen Vater und Kindern würde durch das Aufenthaltsverbot zweifellos erschwert, doch wäre es möglich, diese Kontakte durch Besuche der Gattin und der Kinder "im Ausland" zumindest in einem eingeschränkten Umfang aufrecht zu erhalten. Auch Unterhaltszahlungen könnten "aus dem Ausland geleistet werden". Insoweit schlage eine Interessenabwägung zum Nachteil des Beschwerdeführers aus, weil die Verhinderung des Aufenthaltes straffällig gewordener Fremder dringend geboten sei.
Der Beschwerdeführer sei - so argumentierte die belangte Behörde weiter - erst sehr spät, nämlich seit dem , "einer Beschäftigung als Arbeiter" nachgegangen und habe davor seinen Lebensunterhalt vorwiegend aus Zuwendungen der öffentlichen Hand bestritten. Die wirtschaftliche Integration sei somit nicht allzu ausgeprägt. Das Gewicht seiner privaten Interessen sei dadurch gemindert, dass der Beschwerdeführer nach rechtskräftiger Aufhebung seines Flüchtlingsstatus und nach rechtskräftiger Ausweisung durch die Asylbehörde nicht mehr mit einem dauernden Aufenthalt im Bundesgebiet habe rechnen dürfen.
Im Heimatstaat lebten die Eltern und Geschwister des Beschwerdeführers, zu denen er "dauernde Kontakte pflege", sodass eine Reintegration möglich und zumutbar scheine. Die massiven Straftaten erlaubten keine günstige Prognosebeurteilung. Auch lägen keine ausreichenden Anhaltspunkte vor, um das der Behörde eingeräumte Ermessen zu Gunsten des Beschwerdeführers zu üben. Es bestehe vielmehr ein großes öffentliches Interesse an der Verhinderung strafbarer Handlungen der gegenständlichen Art. Auch die Befristung des Aufenthaltsverbotes auf zehn Jahre erscheine angesichts der einschlägigen unter Anwendung von Gewalt begangenen Wiederholungstat verhältnismäßig.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage durch die belangte Behörde erwogen:
Vorauszuschicken ist, dass der bekämpfte Bescheid auf Basis der bei seiner Erlassung geltenden Sach- und Rechtslage zu beurteilen ist. Soweit im Folgenden von Bestimmungen des FPG die Rede ist, wird daher auf die im November 2010 gültige Fassung Bezug genommen.
Gemäß § 60 Abs. 1 FPG (in der hier somit maßgeblichen Fassung vor dem FrÄG 2011) kann gegen einen Fremden ein Aufenthaltsverbot erlassen werden, wenn auf Grund bestimmter Tatsachen die Annahme gerechtfertigt ist, dass sein (weiterer) Aufenthalt die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet (Z. 1) oder anderen im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten öffentlichen Interessen zuwiderläuft (Z. 2). Nach § 60 Abs. 2 Z 1 FPG hat als die erwähnte Gefährdungsprognose rechtfertigende Tatsache zu gelten, wenn ein Fremder von einem inländischen Gericht zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von mehr als drei Monaten, zu einer teilbedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe, zu einer bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe von mehr als sechs Monaten oder mehr als einmal wegen auf der gleichen schädlichen Neigung beruhender strafbarer Handlungen rechtskräftig verurteilt worden ist.
Auf Grund der dargestellten strafgerichtlichen Verurteilungen vom und vom sind die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 erster, zweiter und vierter Fall FPG verwirklicht. Angesichts der Art und Schwere der diesen Verurteilungen zu Grunde liegenden Straftaten bedarf es auch keiner näheren Erörterung, dass bezüglich der Person des Beschwerdeführers eine Gefährdungsprognose nach § 60 Abs. 1 FPG zu treffen war. Hervorzuheben ist dabei der Umstand, dass selbst eine teilweise bedingte Strafnachsicht den Beschwerdeführer nicht davon abhalten konnte, noch innerhalb offener Probezeit massiv einschlägig rückfällig zu werden. Auch ist die Zeit des Wohlverhaltens seit der Entlassung aus der Strafhaft (am ) zu kurz, um von einem verlässlichen Gesinnungswandel ausgehen zu können.
Der Beschwerdeführer tritt der Annahme auch nicht entgegen, dass bezüglich seiner Person eine Gefährdungsprognose zu treffen sei. Unter dem Blickwinkel des § 66 FPG (in der genannten Fassung) macht er allerdings eine Verletzung seiner von Art. 3 und Art. 8 EMRK geschützten Grundrechtssphäre geltend, wobei er vor allem auf die Situation seiner an den Straftaten nicht beteiligten Familie verweist. Eine ihm gegenüber begründete Pflicht, das Land zu verlassen, würde die eheliche Gemeinschaft oder gar die Ehe selbst gefährden.
Mit diesen Ausführungen ist er jedoch - abgesehen davon, dass die Frage, ob die Aufenthaltsbeendigung mit Art. 3 EMRK im Einklang steht, keinen Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet (vgl. dazu etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2009/21/0293, Punkt 3.2. der Entscheidungsgründe, sowie vom , Zl. 2011/23/0456) - auf die Begründung des EGMR im eingangs erwähnten, über seine Beschwerde ergangenen - wenngleich noch nicht bestandskräftigen - Urteil vom zu verweisen, wonach seine Ausweisung aus Österreich nach Tschetschenien weder den Art. 3 noch den Art. 8 EMRK verletze:
Nach dem Völkerrecht haben die Staaten, so argumentierte der EGMR, das Recht, die Einreise, den Aufenthalt und die Abschiebung von Fremden zu regeln. Art. 3 EMRK könne ins Spiel kommen, wenn substantielle Gründe dafür vorlägen, dass für eine Person im Fall ihrer Abschiebung ein reales Risiko einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Misshandlung bestehe. Das Ausmaß der Misshandlung müsse dabei ein gewisses Minimum überschreiten, um in den Anwendungsbereich des Art. 3 fallen zu können. Zwar bestünden nach wie vor Berichte über die Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten, Oppositionellen oder früheren Widerstandskämpfern; der Beschwerdeführer habe aber nur am ersten Krieg in Tschetschenien teilgenommen, der lange zurückliege, seine Familie habe weiterhin unbehelligt in Tschetschenien gelebt. Zwar könne die Situation in Tschetschenien noch nicht als sicher angesehen werden, die individuelle Situation des Beschwerdeführers zeige aber kein ernsthaftes Risiko einer drohenden Misshandlung auf.
Seine Ausweisung verletze auch nicht Art. 8 EMRK: Die Ausweisung habe, so begründete der EGMR, eine Grundlage im nationalen Recht und verfolge - als Folge mehrerer schwerer Verurteilungen - das legitime Ziel der Verhinderung von Verbrechen. Bei Beurteilung der Verhältnismäßigkeit sei auf die in seiner Vorjudikatur (insbesondere in den Fällen Boultif und Üner) entwickelten Kriterien zurückzugreifen. Im gegenständlichen Fall sei der Beschwerdeführer wegen mehrerer schwerer Straftaten verurteilt worden. Obwohl er seit 2003 in Österreich gelebt habe, habe er sich kaum integriert und insbesondere die deutsche Sprache nicht erlernt. Demgegenüber habe er zuvor 23 Jahre lang in Tschetschenien, wo große Teile seiner Familie verblieben seien, gelebt und unterhalte weiterhin regelmäßige Kontakte dorthin, insbesondere zu seinem Vater. Die Ehefrau und die Kinder hätten den Status als Asylberechtigte nur wegen ihrer Verwandtschaft mit dem Beschwerdeführer erlangt. Da diesem im Falle der Ausweisung keine gegen Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung drohe, liefen auch seine nahen Angehörigen nicht Gefahr einer Misshandlung im Falle ihrer Rückkehr. Unbeschadet der Schwierigkeiten bei einer Rückkehr in die Heimat bestünden keine unüberwindlichen Hindernisse, dort das Familienleben weiterzuführen.
Unter Berücksichtigung dieser Ausführungen konnte der trotz der langen Dauer seines Aufenthaltes nur eine äußerst geringe sprachliche und berufliche Integration aufweisende Beschwerdeführer durch den angefochtenen Bescheid auch im Hinblick auf § 66 FPG nicht in seinen Rechten verletzt werden: Bereits die belangte Behörde ging bei ihrer Beurteilung nach § 66 FPG ohnehin davon aus, dass mit dem gegenständlichen Aufenthaltsverbot ein Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers verbunden sei. Wenn sie ungeachtet dessen zum Ergebnis gelangte, dass der mit der Erlassung des Aufenthaltsverbotes verbundene Eingriff in das Privat- und Familienleben des Beschwerdeführers zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele (insbesondere zur Verhinderung von strafbaren Handlungen und zum Schutz der Gesundheit anderer Personen) dringend geboten sei, so begegnet dies angesichts des wiederholten und in der Folge auch noch gesteigerten strafrechtlichen Fehlverhaltens des Beschwerdeführers keinen Bedenken. Die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die Situation der Ehefrau des Beschwerdeführers und der gemeinsamen Kinder müssen angesichts der von ihm ausgehenden Gefährlichkeit hingenommen werden.
Eine Rechtsverletzung ist auch ausgeschlossen, soweit der Beschwerdeführer unter Berufung auf die Empfehlung des EGMR vom moniert, dass die belangte Behörde ihr Verfahren nicht bis zu dessen Entscheidung ausgesetzt habe. Das ergibt sich schon daraus, dass die bloße (neuerliche) Begründung einer - nicht in Vollzug gesetzten - Pflicht zur Ausreise keine Verletzung der erwähnten Verfahrensanordnung des EGMR vom , die sich lediglich auf die Abschiebung bezieht, mit sich bringen kann.
Angesichts der wiederholten Anwendung massiver Gewalt durch den Beschwerdeführer ist auch die Dauer des verhängten Aufenthaltsverbotes nicht zu beanstanden. Ebenso sind keine Gründe ersichtlich, aus denen das der Behörde eingeräumte Ermessen zugunsten des Beschwerdeführers zu üben gewesen wäre.
Zusammenfassend ergibt sich daher, dass der Beschwerde ein Erfolg zu versagen und diese somit gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen war.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am