VwGH vom 29.10.2008, 2007/08/0131
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer, Dr. Moritz, Dr. Lehofer und Dr. Doblinger als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Zykan, über die Beschwerde des K in W, vertreten durch Dr. Reinhard Kautz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Dr.- Karl-Lueger-Ring 10/5, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom , Zl. LGSW/Abt. 3-AlV/05661/2007-556, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird im Umfang der Beschwerde insoweit, als er den Beschwerdeführer zur Rückzahlung von unberechtigt empfangenen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung verpflichtet, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit) hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 991,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer erhielt seit Oktober 2004 Krankengeld, weshalb sein Bezug von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung ruhte.
Mit Schreiben vom wurde der Beschwerdeführer vom Arbeitsmarktservice Wien, Regionale Geschäftsstelle Dresdner Straße (in der Folge: AMS Dresdner Straße), zu einem Gespräch am eingeladen, da auf Grund der Unterbrechung seines Leistungsbezuges von über 62 Tagen eine neuerliche Antragstellung notwendig sei.
Aus dem Ausdruck eines elektronischen Aktenvermerks des AMS Dresdner Straße vom geht im Wesentlichen hervor, dass der Beschwerdeführer an diesem Tag persönlich beim AMS Dresdner Straße erschienen sei und mitgeteilt habe, dass er sich weiter im Krankenstand befinde. Er sei zu einer weiteren persönlichen Vorsprache nach Beendigung des Krankenstandes aufgefordert worden; ein "PV-Antrag" sei ihm vorläufig nicht ausgehändigt worden.
Am stellte der Beschwerdeführer einen Antrag auf Pensionsvorschuss. Dem Antrag beiliegend finden sich im Verwaltungsakt zwei Bestätigungen der Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK): Aus der Bestätigung vom geht hervor, dass der Beschwerdeführer vom bis zum arbeitsunfähig war und vom bis zum Anspruch auf Krankengeld hatte. Aus der Bestätigung vom geht hervor, dass der Beschwerdeführer vom bis zum arbeitsunfähig war und für den gesamten Zeitraum Anspruch auf Krankengeld hatte.
Mit einem am eingelangten Brief übersandte der Beschwerdeführer dem AMS Dresdner Straße ein Schreiben der WGKK vom , aus welchem hervorgeht, dass beim Beschwerdeführer in den Zeiträumen vom 11. April bis zum und vom 1. Juni bis zum keine anerkannten Krankenstände vorlägen und ihm daher kein Krankengeld angewiesen werde. Auf dem Schreiben findet sich ein an das AMS Dresdner Straße gerichteter und mit datierter handschriftlicher Vermerk des Beschwerdeführers, in welchem er das AMS aufforderte, ihm für die Zeiträume vom 11. April bis zum und vom 1. Juni bis zum Notstandshilfe anzuweisen.
Mit Bescheid des AMS Dresdner Straße vom wurde dem Beschwerdeführer Notstandshilfe ab dem gewährt. Begründend wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer seinen Anspruch am geltend gemacht habe.
Mit Bescheid des AMS Dresdner Straße vom wurde der Bescheid vom gemäß § 68 Abs. 2 AVG insofern abgeändert, als dem Beschwerdeführer Notstandshilfe ab dem zuerkannt wurde. Begründend wurde dazu ausgeführt, dass auf Grund der persönlichen Vorsprache des Beschwerdeführers am die Notstandshilfe schon ab diesem Tag habe zuerkannt werden können. Dieser Bescheid erwuchs in Rechtskraft.
Mit Bescheid des AMS Dresdner Straße vom wurde der Bezug von Notstandshilfe des Beschwerdeführers für den Zeitraum vom bis zum widerrufen bzw. die Bemessung rückwirkend berichtigt und der Beschwerdeführer zur Rückzahlung der unberechtigt empfangenen Notstandshilfe in der Höhe von EUR 399,68 verpflichtet. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Beschwerdeführer die Leistung aus der Arbeitslosenversicherung für den genannten Zeitraum zu Unrecht bezogen habe, da er gleichzeitig im Krankengeldbezug gestanden sei.
In der gegen diesen Bescheid erhobenen Berufung brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er für den Zeitraum vom 30. April bis einen Pensionsvorschuss (gemeint wohl: Krankengeld) von der WGKK bezogen habe, dass aber von der WGKK Zahlungen für die Zeiträume vom 11. April bis zum sowie vom 1. Juni bis zum zu Unrecht storniert worden seien. Danach seien ihm Leistungen vom AMS zuerkannt worden.
Im Akt befindet sich ein Computerausdruck vom , dem zu entnehmen ist, dass sich die Notstandshilfe des Beschwerdeführers im maßgeblichen Zeitraum auf EUR 12,49 täglich belief. Einem zweiten Computerausdruck vom selben Tag sind die Auszahlungen von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung an den Beschwerdeführer zu entnehmen; aus diesem geht - soweit wesentlich - hervor, dass dem Beschwerdeführer am - zusätzlich zum laufenden Bezug - eine Nachzahlung in der Höhe von EUR 587,03 geleistet worden ist.
Mit dem angefochtenen Bescheid gab die belangte Behörde der Berufung des Beschwerdeführers keine Folge. Begründend führte sie im Wesentlichen aus, dass der Beschwerdeführer vom AMS Dresdner Straße ursprünglich ab Notstandshilfe in der Höhe von täglich EUR 12,49 erhalten habe. Die Auszahlung sei regelmäßig, jeweils am Anfang eines Monats für den jeweiligen Vormonat erfolgt. Im Dezember 2005 sei der Leistungsanspruch des Beschwerdeführers dahingehend berichtigt worden, dass ihm Notstandshilfe bereits ab zuerkannt worden sei, da er an diesem Tag persönlich beim AMS vorgesprochen habe. Irrtümlich sei vom AMS Dresdner Straße bei der Anweisung vergessen worden, den Krankengeldbezug des Beschwerdeführers vom 30. April bis zu berücksichtigen, sodass dieser die Notstandshilfe für 29. April bis ausbezahlt erhielt. Der Beschwerdeführer habe daher am eine Nachzahlung von EUR 587,03 (das seien 47 Tage zum Tagsatz von EUR 12,49) erhalten, es hätten ihm jedoch nur EUR 187,35 (das seien 15 Tage - nämlich der sowie die Zeit vom 1. Juni bis zum - zum Tagsatz von EUR 12,49) gebührt. Die Notstandshilfe für den Zeitraum vom 30. April bis zum sei daher zu widerrufen. Auch werde die zu Unrecht bezogene Notstandshilfe rückgefordert, da der Beschwerdeführer hätte erkennen müssen, dass ihm die Nachzahlung nicht in der gewährten Höhe gebührt habe.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtwidrigkeit seines Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufzuheben.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt, eine Gegenschrift erstattet und die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde begehrt.
Der Verwaltungsgerichtshof erwogen:
Gemäß § 16 Abs. 1 lit. a AlVG ruht der Anspruch auf Arbeitslosengeld während des Bezuges von Krankengeld.
Gemäß § 24 Abs. 2 AlVG ist die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes zu widerrufen oder dessen Bemessung rückwirkend zu berichtigen, wenn sich die Zuerkennung oder die Bemessung als gesetzlich nicht begründet herausstellt.
Gemäß § 25 Abs. 1 AlVG ist bei Einstellung, Herabsetzung, Widerruf oder Berichtigung einer Leistung der Empfänger des Arbeitslosengeldes zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn er den Bezug durch unwahre Angaben oder durch Verschweigung maßgebender Tatsachen herbeigeführt hat oder wenn er erkennen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte.
Diese Bestimmungen sind gemäß § 38 AlVG sinngemäß auch auf die Notstandshilfe anzuwenden.
Die Beschwerde richtet sich - dem Beschwerdepunkt zufolge - nicht gegen den Ausspruch, mit welchem die Höhe der Notstandshilfe nachträglich neu bemessen wurde. Die Beschwerde richtet sich nur dagegen, dass der Beschwerdeführer verpflichtet wurde, die Leistung zurückzuzahlen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist der dritte Rückforderungstatbestand des § 25 Abs. 1 erster Satz AlVG schon nach dem isolierten Wortlaut der Wendung "wenn er erkennen musste, dass ..." nicht erst dann erfüllt, wenn der Leistungsempfänger die Ungebührlichkeit der Leistung an sich oder ihrer Höhe nach erkannt hat; das Gesetz stellt vielmehr auf das bloße Erkennenmüssen ab und statuiert dadurch eine (freilich zunächst nicht näher bestimmte) Diligenzpflicht. Aus der Gegenüberstellung mit den zwei anderen in § 25 Abs. 1 erster Satz AlVG genannten Rückforderungstatbeständen (unwahre Angaben, Verschweigung maßgebender Tatsachen) wird jedoch deutlich, dass für die Anwendung des dritten Rückforderungstatbestandes eine gegenüber den beiden anderen Tatbeständen abgeschwächte Verschuldensform, nämlich Fahrlässigkeit, genügt. Fahrlässige Unkenntnis davon, dass die Geldleistung nicht oder nicht in der konkreten Höhe gebührt, setzt voraus, dass die Ungebühr bei Gebrauch der (im Sinne des § 1297 ABGB zu vermutenden) gewöhnlichen Fähigkeiten erkennbar gewesen ist. Ob dies zutrifft, ist im Einzelfall zu beurteilen, wobei jedoch der Grad der pflichtgemäßen Aufmerksamkeit weder überspannt noch überdurchschnittliche geistige Fähigkeiten verlangt werden dürfen (vgl. z.B. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/08/0017, mwN).
Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, ist die allgemeine Vermutung von der Gesetzeskenntnis (§ 2 ABGB) bei Beurteilung der Sorgfaltspflichtverletzung nach § 25 Abs. 1 AlVG nicht ohne Weiteres heranzuziehen, weil der Gesetzgeber in dieser Bestimmung nicht schon die Rechtswidrigkeit der Leistungsgewährung allein für die Rückforderung genügen lassen wollte. "Erkennenmüssen" im Sinne des § 25 Abs. 1 AlVG kann daher nicht mit Rechtskenntnis und schon gar nicht mit Judikaturkenntnissen gleichgesetzt werden. Im Falle des "Erkennenmüssens" handelt es sich definitionsgemäß um Sachverhalte, bei denen in der Regel nicht der Leistungsempfänger (z.B. durch falsche Angaben oder Verschweigen maßgebender Tatsachen), sondern die Behörde selbst den Überbezug einer Leistung verursacht hat. Da die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung dem Unterhalt des Leistungsempfängers zu dienen bestimmt sind und daher mit ihrem laufenden Verbrauch gerechnet werden muss, stellt die Rückforderung einer solchen Leistung in der Regel eine erhebliche Belastung für den Leistungsempfänger dar. Soweit daher der Leistungsempfänger am Entstehen eines Überbezuges nicht mitgewirkt hat, ist es sachlich nicht angebracht, vermeidbare Behördenfehler durch überstrenge Anforderungen an den vom Leistungsempfänger zu beobachtenden Sorgfaltsmaßstab zu kompensieren. Schlechtgläubig im Sinne des hier anzuwendenden Rückforderungstatbestandes ist daher nur ein Leistungsbezieher, der nach den konkret zu beurteilenden Umständen des Einzelfalles ohne Weiteres den Überbezug hätte erkennen müssen. Dem Leistungsbezieher muss der Umstand, dass er den Überbezug tatsächlich nicht erkannt hat - ohne dass ihn zunächst besondere Erkundigungspflichten träfen - nach seinen diesbezüglichen Lebens- und Rechtsverhältnissen vorwerfbar sein (vgl. das schon zitierte hg. Erkenntnis vom , mwN).
Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner bisherigen Rechtsprechung zum dritten Rückforderungstatbestand des § 25 Abs. 1 AlVG somit der Sache nach darauf abgestellt, ob der Leistungsbezieher (erkannt hat oder doch) unter Heranziehung eines ihm nach seinen konkreten Lebensumständen zumutbaren Alltagswissens hätte erkennen müssen, dass ihm die Leistung aus der Arbeitslosenversicherung nicht (oder nicht in dieser Höhe) gebührte.
Die belangte Behörde sprach im angefochtenen Bescheid lediglich aus, dass der Beschwerdeführer den Überbezug hätte erkennen müssen, ohne jedoch darauf einzugehen, worauf sie diese Beurteilung stützte. Erst in der Gegenschrift führte sie aus, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seines langjährigen Bezugs von Notstandshilfe hinlänglich bekannt gewesen sei, dass ihm während des Bezuges von Krankengeld keine Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung zustünden. Er habe auch gewusst, dass er bereits Krankengeld erhalten habe, dass eine "Bezugslücke" am und vom 1. Juni bis zum bestanden und dass der Tagsatz der Notstandshilfe EUR 12,49 betragen habe. Daher sei ihm das Nichterkennen des Überbezuges vorwerfbar.
Abgesehen davon, dass eine in der Gegenschrift nachgetragene Überlegung nicht geeignet ist, eine fehlende Bescheidbegründung zu ersetzen (vgl. etwa die bei Dolp, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit3, S 607 wiedergegebene hg. Rechtsprechung), können selbst diese Ausführungen der belangten Behörde im Zusammenhang mit den konkreten Umständen im gegenständlichen Fall nicht überzeugen:
Der Beschwerdeführer hat sowohl in seinem handschriftlichen Vermerk vom als auch in seiner Berufung zum Ausdruck gebracht, dass er eine Nachzahlung der Notstandshilfe für die Zeiträume, in denen er keinen Anspruch auf Krankengeld hatte, nämlich vom 11. April bis zum sowie vom 1. Juni bis zum wolle. Mit dem Abänderungsbescheid des AMS Dresdner Straße vom wurde ihm Notstandshilfe erst ab dem Tag seiner persönlichen Vorsprache, nämlich dem gewährt. Nun ist der bescheidmäßige Zuspruch von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung ab dem Tag der Geltendmachung, wenn der Arbeitslose diese auch rückwirkend ab einem Zeitpunkt vor Antragstellung geltend gemacht hat, nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - unter bestimmten Voraussetzungen - als Abweisung des Antrages für den Zeitraum vor dem Tag der Antragstellung zu sehen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 98/08/0145, mwN). Jedoch musste diese Rechtsprechung dem Beschwerdeführer im Hinblick auf den dritten Rückforderungstatbestand des § 25 Abs. 1 AlVG nicht bekannt sein. Es kann dem Beschwerdeführer im Sinne der zitierten Rechtsprechung im konkreten Fall nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er - wie aus dem Berufungsvorbringen deutlich hervorgeht - weiterhin meinte, dass ihm Leistungen für alle von ihm beantragten Tage zu Unrecht nicht ausgezahlt worden seien. Wenn ihm dann mehrere Monate nach Antragstellung auf Grund eines Fehlers der Behörde die gegenständliche Nachzahlung ohne nähere Information darüber, wie sich dieser Betrag errechne, ausgezahlt wurde, wäre es eine überstrenge Anforderung an ihn, von ihm zu verlangen, dass er den Fehler des AMS Dresdner Straße hätte erkennen müssen, zumal der Auszahlungsbetrag im Hinblick auf die strittigen Zeiträume von dem, was dem Beschwerdeführer nach seiner Auffassung zustand, offenbar nicht gravierend abgewichen ist. Dazu kommt, dass der Beschwerdeführer nicht damit rechnen musste, dass die Behörde, nachdem sie ihren ursprünglichen Bescheid berichtigt hat, nunmehr einen weiteren Fehler, und zwar bei der Anweisung der Nachzahlung, machen würde.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. II Nr. 333/2003.
Wien, am