VwGH vom 19.06.2012, 2011/18/0024
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pallitsch, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Merl und Mag. Dr. Maurer-Kober sowie den Hofrat Mag. Straßegger als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde des XX in W, vertreten durch Dr. Karin Metz, Rechtsanwältin in 1020 Wien, Praterstraße 25A/19, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom , Zl. E1/282.134/2010, betreffend Ausweisung gemäß § 53 FPG, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
I.
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den - im Zeitpunkt ihrer Entscheidung minderjährigen - Beschwerdeführer, einen serbischen Staatsangehörigen, gemäß § 53 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet aus.
Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer sei mit einem vom bis gültigen Visum in Österreich eingereist. Meldebehördlich sei er - mit Wohnsitz in Wien - seit dem erfasst.
Mit Beschluss vom habe das Bezirksgericht Döbling die Obsorge für den Beschwerdeführer vorläufig und mit Beschluss vom letztlich endgültig auf seine in Wien lebenden Großeltern (mütterlicherseits) übertragen.
Der Beschwerdeführer sei nach Ablauf seines Visums im Bundesgebiet geblieben und hier seitdem unrechtmäßig aufhältig. Ein Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels sei wegen der im Inland erfolgten Antragstellung abgewiesen worden.
Da der Beschwerdeführer bei den obsorgeberechtigten Großeltern in Wien lebe und das Bestehen eines Familienlebens mit diesen "behauptet" werde, die Unmöglichkeit der Rückkehr des Beschwerdeführers nach Serbien vorgebracht werde und zudem der Beschwerdeführer den Polytechnischen Lehrgang in Wien besuche, sei mit der aufenthaltsbeendenden Maßnahme ein Eingriff in das Familien- und Privatleben des Beschwerdeführers verbunden.
Bei der Interessenabwägung nach § 66 FPG sei aber zunächst davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer seit Ablauf des ihm erteilten Visums unrechtmäßig in Österreich aufhältig sei. Deswegen sei das Gewicht seiner persönlichen Interessen, die "aus einer in dieser Zeit eventuell vollzogenen Integration" resultierten, als gemindert anzusehen.
Der Beschwerdeführer sei zwar im Haushalt seiner Großeltern "gemeldet", denen auch die Obsorge über den Beschwerdeführer übertragen worden sei. Die diesbezüglichen Bindungen seien allerdings erst im August 2009 begründet worden. Sowohl dem Beschwerdeführer als auch seinen Großeltern habe bewusst sein müssen, dass der Aufenthalt des Beschwerdeführers von vornherein nur auf Grund des Visums "legitimiert" gewesen sei. Er habe zu keiner Zeit mit einem darüber hinausgehenden Verbleib im Inland rechnen dürfen. Der Beschwerdeführer habe zwar "die 9. Schulstufe des Polytechnischen Lehrganges" besucht, es sei jedoch die überwiegende Mehrheit der Schulfächer nicht beurteilt worden. Eine maßgebliche Verstärkung seiner Interessen am Verbleib im Inland könnten sohin weder aus dem Schulbesuch noch aus dem Erwerb etwaiger Deutschkenntnisse abgeleitet werden. Am heimischen Arbeitsmarkt sei der Beschwerdeführer nicht integriert. Der minderjährige Beschwerdeführer sei "natürlich nicht selbsterhaltungsfähig". Sein Auslangen werde durch die Großeltern gewährleistet. Der Beschwerdeführer sei erst kurz im Bundesgebiet aufhältig, weshalb von einer "überwiegenden Schutzwürdigkeit des Privatlebens" nicht gesprochen werden könne. Er versuche vielmehr, vollendete Tatsachen zu schaffen, indem er seinen Aufenthalt hier unerlaubt fortsetze.
Es sei auch kein Grund ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer nicht in sein Heimatland zurückkehren könne. Er habe zwar vorgebracht, dass er in seinem Heimatland nicht weiter versorgt werde, jedoch habe er bis zu seiner Ausreise am Bauernhof seiner Eltern in Serbien gelebt. Dort lebe auch nach wie vor seine Schwester. Sofern vorgebracht werde, dass die Mutter des Beschwerdeführers auf Grund ihrer Erkrankung regelmäßig intensive Therapien benötige und sowohl ihre Arbeitsfähigkeit als auch die Fähigkeit, sich um den Beschwerdeführer zu kümmern, vermindert wäre, sei auszuführen, dass die Mutter des Beschwerdeführers dem vorgelegten ärztlichen Befund zufolge bereits seit zehn Jahren in ärztlicher Behandlung stehe. Weiters wohne auch die Schwester des Beschwerdeführers immer noch bei den Eltern in Serbien. Auch schon bisher sei die Mutter des Beschwerdeführers durch ihre Krankheit nicht an der Ausübung der Obsorge und Fürsorge für den Beschwerdeführer gehindert gewesen. Es sei daher "keinesfalls von der Unmöglichkeit der (vorübergehenden) Rückkehr des Fremden in seine Heimat auszugehen und auch von keiner Gefährdung seines Kindeswohls". Abgesehen davon habe der Beschwerdeführer nicht ausgeführt, "welche Rolle sein Vater" für ihn spiele.
Soweit den Großeltern vom Bezirksgericht Döbling die Obsorge über den Beschwerdeführer übertragen und "ihnen insofern Pflege, Erziehung, gesetzliche Vertretung und Vermögensverwaltung des Kindes anvertraut" worden seien, stehe es den Großeltern frei, dieser Verpflichtung "zur Pflege (Erziehung) auch durch allfällige Geldüberweisungen (an den Minderjährigen bzw. dessen Mutter) nachzukommen um allenfalls auch eine vorübergehende Pflege der Mutter (od. Haushaltshilfe oder ähnliches mehr) zu gewährleisten". Auch stammten die Großeltern aus demselben Sprach- und Kulturkreis wie der Beschwerdeführer, weshalb es ihnen zumutbar sei, mit dem Beschwerdeführer auszureisen.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen:
Der Beschwerdeführer bestreitet nicht die Richtigkeit der Ausführungen der belangten Behörde, wonach er über keine Berechtigung zum Aufenthalt im Bundesgebiet verfüge. Zutreffend ging die belangte Behörde sohin davon aus, der die Ausweisung ermöglichende Tatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei erfüllt.
Allerdings erweist sich die von der belangten Behörde nach § 66 FPG vorgenommene Interessenabwägung und die dazu getroffenen Feststellungen als unvollständig. Die belangte Behörde hat zwar erkannt, dass sie bei ihrer Beurteilung das Kindeswohl zu berücksichtigen hat (vgl. dazu etwa das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , Zl. B 1644/10). Jedoch hat sie im vorliegenden Fall darauf nicht ausreichend Bedacht genommen.
Die belangte Behörde hat festgestellt, dass den in Österreich lebenden Großeltern des Beschwerdeführers, wobei seine Großmutter österreichische Staatsbürgerin ist, die Obsorge über den auch noch im Entscheidungszeitpunkt minderjährigen Beschwerdeführer übertragen worden war. Soweit die belangte Behörde meint, es könne dennoch weiterhin die Obsorge in Serbien über den Beschwerdeführer von seinen leiblichen Eltern übernommen werden, setzt sie sich über die Entscheidung des Bezirksgerichts Döbling, ohne sich mit dieser näher auseinanderzusetzen, obwohl diese davon ausging, die Obsorgeübertragung auf die in Österreich lebenden Großeltern sei zum Wohle des Kindes geboten, hinweg.
Darüber hinaus greift die Begründung der belangten Behörde zur Möglichkeit der Ausübung der Obsorge durch die Mutter in Serbien schon deswegen zu kurz, weil der Beschwerdeführer bereits im Verwaltungsverfahren vorgebracht hat, dass sich der Gesundheitszustand der Mutter des Beschwerdeführers zuletzt drastisch verschlechtert hätte. Anders als die belangte Behörde meint, steht dazu auch nicht die von ihm vorgelegte ärztliche Bestätigung im Widerspruch; sagt doch diese Bestätigung nichts über das Fortschreiten - also auch nichts über das frühere Ausmaß -
der Krankheit der Mutter des Beschwerdeführers aus, sondern trifft lediglich eine Aussage für den Zeitpunkt der Ausstellung. Zu dieser Zeit weise sie dieser Bestätigung zufolge eine deutlich verminderte Fähigkeit auf, sich um ihren Sohn kümmern zu können. Soweit die belangte Behörde ins Treffen führt, die Schwester des Beschwerdeführers lebe immer noch bei der Mutter in Serbien, hat der Beschwerdeführer im Verwaltungsverfahren bereits geltend gemacht, dass seine Mutter zwar noch die Kraft aufweise, sich um ein Kind kümmern zu können, wobei es sich auf Grund der emotionalen Beziehung zwischen Mutter und Tochter eben dabei um die Schwester handle, sie aber nicht mehr die Kraft und Energie aufweise, sich auch um den Beschwerdeführer kümmern zu können. Dies sei letztlich auch der Grund gewesen, weshalb seinen Großeltern für ihn die Obsorge übertragen worden sei. Zu all diesem Vorbringen hat die belangte Behörde keine ausreichenden Feststellungen getroffen, um den gegenständlichen Fall einer umfassenden Beurteilung zuführen zu können. Vielmehr hat sie aus bloß unvollständig gebliebenen Feststellungen bereits Schlüsse zu Lasten des Beschwerdeführers gezogen. Das gilt auch für den Hinweis der belangten Behörde, es sei unklar, welche "Rolle der Vater spiele". Konkrete Feststellungen, aus denen abgeleitet werden könnte, dieser werde den Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in sein Heimatland unter seine Obhut nehmen oder für ihn ausreichend Sorge tragen, fehlen. Schon deshalb kann der angefochtene Bescheid der Prüfung durch den Verwaltungsgerichtshof nicht standhalten.
Darüber hinaus hat die belangte Behörde bei ihrer Abwägung aber überhaupt nicht auf die Bestimmung des § 66 Abs. 3 letzter Satz FPG Bedacht genommen, obwohl diese Bestimmung die Wertung erkennen lässt, dass der Bindung an österreichische Staatsbürger - wie fallbezogen der Großmutter des Beschwerdeführers - und Personen, die über ein unbefristetes Niederlassungsrecht - wie hier seinem Großvater - verfügen, bei der Interessenabwägung wesentliches Gewicht zuzumessen ist (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/21/0119, mwN).
Aber auch das Argument der belangten Behörde zum Angedeihen einer ausreichenden Obsorge durch Geldüberweisungen ist gänzlich verfehlt. Eine nachvollziehbare Begründung dafür, inwieweit den Großeltern des Beschwerdeführers die persönliche Ausübung der Pflege, Erziehung und der gesetzlichen Vertretung durch bloße Geldüberweisungen nach Serbien möglich sein sollte, bleibt die belangte Behörde, die den Ausführungen des angefochtenen Bescheides zufolge offenbar vor Augen hat, diese sollten - gegen Bezahlung - andere Personen übernehmen, schuldig.
Schließlich hat es die belangte Behörde unterlassen, den gegenständlichen Fall dahingehend einer Prüfung zu unterziehen, ob vor dem Hintergrund der Ausführungen des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) im Urteil vom , C- 256/11, und der sohin durch den EuGH nunmehr klargestellten Rechtslage anhand des unionsrechtlich vorgegebenen Maßstabes der vorliegende Fall einen solchen Ausnahmefall darstellt, wonach die Erlassung einer auf § 53 Abs. 1 FPG gestützten Ausweisung unzulässig wäre (vgl. dazu etwa das einen Ehegatten eines österreichischen Staatsbürgers betreffende, aber seinem Inhalt nach auch auf minderjährige Angehörige zutreffende hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/22/0158, auf dessen Entscheidungsgründe insoweit gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird).
Sohin war der angefochtene Bescheid wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Die Durchführung der beantragten Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG unterbleiben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am
Fundstelle(n):
WAAAE-91429