VwGH vom 19.04.2016, Ra 2014/01/0216
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Blaschek und die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching sowie die Hofrätin Dr. Reinbacher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Berger, über die Revision des M A in Z, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W105 1425759-1/5E, betreffend eine Angelegenheit nach dem Asylgesetz 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Der Revisionswerber, ein somalischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz und brachte vor, Mogadischu aus Angst vor einer Zwangsrekrutierung durch die Al-Shabaab verlassen zu haben. Diese hätten bereits seinen Bruder getötet.
2 Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt (nunmehr Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 AsylG 2005 ab und wies den Revisionswerber gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 nach Somalia aus.
3 Begründend führte das Bundesasylamt zusammengefasst aus, der Revisionswerber habe in seiner Einvernahme angegeben, lediglich ein einziges Mal im Jahr 2009 von Mitgliedern der Al-Shabaab angesprochen worden zu sein. Bis zu seiner Ausreise im September 2011 sei er von dieser Gruppierung weder verfolgt noch bedroht worden. Der Revisionswerber habe keine asylrelevante Verfolgungsgefahr dargelegt. Auch bestehe für ihn im Falle seiner Rückkehr kein "real risk" einer Verletzung von Art. 2 EMRK, Art. 3 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention. Es könne nicht festgestellt werden, dass dem Revisionswerber in seinem Herkunftsland die Lebensgrundlage gänzlich entzogen gewesen wäre oder er bei seiner Rückkehr in eine existenzbedrohende Notlage geraten würde. Der Revisionswerber verfüge in seiner Heimat nach eigenen Angaben über familiäre Anknüpfungspunkte. Er habe die Schule besucht, sei als Gelegenheitsarbeiter tätig gewesen und habe unter guten finanziellen Umständen gelebt. Es sei daher davon auszugehen, dass der Revisionswerber nach seiner Rückkehr seinen Lebensunterhalt durch die Ausübung einer Erwerbstätigkeit selbständig bestreiten und so für die Deckung seiner Grundbedürfnisse sorgen könne. Auch könne er sich entsprechend der somalischen Tradition auf die Unterstützung seiner Verwandten verlassen.
4 In der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde vom wiederholte der Revisionswerber im Wesentlichen sein Fluchtvorbringen und brachte ergänzend vor, seine Mutter sei mittlerweile aus Mogadischu weggezogen, um seine Großmutter zu pflegen. Die Lage in Mogadischu sei weiterhin prekär. Er könne als junger Mann jederzeit zwangsrekrutiert werden oder aufgrund des schwelenden Konflikts direkt von Kampf- oder Terrorhandlungen betroffen sein.
5 Mit Schreiben vom gewährte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) dem Revisionswerber schriftliches Parteiengehör und räumte ihm die Möglichkeit ein, zu allfälligen Änderungen seiner persönlichen Situation in Österreich sowie zur beabsichtigten Aktualisierung der Länderinformationen zu Somalia Stellung zu nehmen.
6 In seiner Stellungnahme vom setzte sich der Revisionswerber eingehend mit den übermittelten Länderberichten auseinander. Zusammengefasst folge aus den Länderberichten, dass er im Falle einer Rückkehr der Gefahr der Zwangsrekrutierung durch die Al-Shabaab ausgesetzt wäre und mangels eines familiären Netzes in eine hoffnungslose Lage geraten würde.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das BVwG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde des Revisionswerbers gemäß §§ 3 Abs. 1 und 8 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet ab und verwies das Verfahren zur Prüfung der Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 75 Abs. 20 AsylG 2005 an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurück. Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig.
8 Begründend führte das BVwG aus, das BAA habe ein mängelfreies und ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt und habe der Revisionswerber im Rahmen der niederschriftlichen Einvernahmen ausreichend Gelegenheit gehabt, asylrelevantes Vorbringen zu erstatten. Der Revisionswerber habe selbst vorgebracht, seit der Begegnung mit den Islamisten im Jahr 2009 bis zu seiner Ausreise im September 2011 keinerlei Bedrohungen oder Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen zu sein und sich in diesem Zeitraum nicht versteckt zu haben. Eine konkrete Verfolgungsgefahr habe für den Revisionswerber in den letzten zwei Jahren vor seiner Ausreise nicht bestanden. Eine solche sei auch im Falle seiner Rückkehr nicht gegeben, seien radikalislamistische Gruppierungen wie Al-Shabaab doch mittlerweile weitgehend aus Mogadischu vertrieben worden.
9 Auch fänden sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Revisionswerber bei seiner Rückkehr nach Mogadischu mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer Gefährdungssituation im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgesetzt wäre. Den Revisionswerber treffe in Somalia keine unmittelbare und konkrete, aktuelle, individuelle und "schützenswerte" Bedrohung. Auch bestehe keine Gefahr für Leib und Leben in einem Maße, welches eine Abschiebung im Lichte des Art. 3 EMRK als unzulässig erscheinen lassen würde. Weiters fehle es Abgeschobenen in Somalia nicht generell an der notdürftigsten Lebensgrundlage. Insbesondere sei die Grundversorgung in Somalia gegeben. Für die Zumutbarkeit der Rückreise sei hervorzuheben, dass der Revisionswerber über familiäre Anknüpfungspunkte am Heimatort verfüge. Auch habe der Onkel ausreichende finanzielle Mittel, um den Revisionswerber zumindest für eine gewisse Zeit versorgen zu können.
10 Eine mündliche Verhandlung habe nach § 21 Abs. 7 B-VG unterbleiben können, "da eine Klärung des erstatteten Vorbringens und/oder dessen Glaubwürdigkeit durch die Vornahme einer mündlichen Verhandlung vor dem BVwG nicht zu erwarten" gewesen sei.
11 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, in der zur Zulässigkeit
u. a. vorgebracht wird, das BVwG hätte im Hinblick auf das konkrete, einzelfallbezogene Vorbringen des Revisionswerbers in seiner Stellungnahme zu den ihm vom BVwG übermittelten Länderberichten nicht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absehen dürfen.
12 Der Verwaltungsgerichtshof hat darüber - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - erwogen:
13 Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet. 14 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in nunmehr ständiger
Rechtsprechung, dass für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich sind:
15 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. etwa das Erkenntnis vom , Ra 2014/01/0200, mwN).
16 Im vorliegenden Verfahren hat es das BVwG selbst für erforderlich erachtet, die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Revisionswerbers anhand von neu ins Verfahren eingeführten Beweismitteln zu aktualisieren. Die im Beschwerdeverfahren eingeräumte Möglichkeit, zum Inhalt aktueller Länderberichte schriftlich Stellung zu nehmen, konnte im vorliegenden Fall allerdings die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht ersetzen, hat der Revisionswerber in seiner Stellungnahme zu den Länderberichten doch substantiiertes Vorbringen erstattet (vgl. auch die hg. Erkenntnisse vom , Ra 2014/01/0186 und vom , Ra 2015/18/0071).
17 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG schon deshalb wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
18 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am