VwGH vom 22.05.2014, 2014/21/0001
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein des Schriftführers Mag. Klammer, über die Beschwerde der TZ in W, vertreten durch die Kocher Bucher Rechtsanwälte GmbH in 8010 Graz, Friedrichgasse 31, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates für die Steiermark vom , Zl. UVS 20.3-16/2010-15, betreffend Anhaltung und Abschiebung (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird, soweit mit ihm die Administrativbeschwerde gegen die Abschiebung der Beschwerdeführerin und gegen den der Abschiebung vorangehenden Freiheitsentzug ab Stellung des asylrechtlichen Folgeantrags am abgewiesen wurde, sowie im Kostenpunkt wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben. Im Übrigen (Abweisung der Administrativbeschwerde hinsichtlich des Freiheitsentzugs ab Festnahme der Beschwerdeführerin bis zur Stellung des Folgeantrags) wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die 1960 geborene Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige der Russischen Föderation und gehört der tschetschenischen Volksgruppe an. Nach ihrer Einreise nach Österreich stellte sie am einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen, weil Polen für die Prüfung ihres Antrages zuständig sei. Außerdem wurde die Beschwerdeführerin gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Polen ausgewiesen und "demzufolge" die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 für zulässig erklärt.
Zum Zweck der Überstellung der Beschwerdeführerin nach Polen erließ die Bundespolizeidirektion Graz einen Festnahmeauftrag nach § 74 Abs. 2 Z 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG. Dieser Festnahmeauftrag wurde am vollzogen. Die sodann im PAZ Graz angehaltene Beschwerdeführerin stellte hierauf am einen (neuerlichen) Antrag auf internationalen Schutz. Dessen ungeachtet wurde sie am - dieser Abschiebetermin war ihr bereits am gemäß dem damaligen § 67 Abs. 4 FPG zur Kenntnis gebracht worden - auf dem Luftweg nach Polen abgeschoben.
Das Bundesasylamt wies den neuerlichen Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz mit Bescheid vom gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurück. Diesen Bescheid ließ die Beschwerdeführerin unbekämpft. Sie erhob allerdings am Beschwerde gemäß § 67a Z 2 AVG und § 88 SPG gegen ihre Abschiebung nach Polen und beantragte, diese (und den damit im Zusammenhang stehenden Freiheitsentzug) für rechtswidrig zu erklären.
Der Unabhängige Verwaltungssenat für die Steiermark (die belangte Behörde) wies diese Beschwerde als unbegründet ab und verpflichtete die Beschwerdeführerin zum Kostenersatz. Er erachtete die Abschiebung, die auf die seinerzeitige asylrechtliche Ausweisung gestützt werden könne, insbesondere deshalb als rechtmäßig, weil der Beschwerdeführerin trotz des neuerlichen Antrages auf internationalen Schutz gemäß § 12a Abs. 1 AsylG 2005 kein faktischer Abschiebeschutz zugekommen sei.
Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde erwogen:
Vorauszuschicken ist, dass gemäß dem letzten Satz des § 79 Abs. 11 VwGG in der Fassung des BGBl. I Nr. 122/2013 in den mit Ablauf des beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren - soweit (wie für den vorliegenden "Altfall") durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013, nicht anderes bestimmt ist - die bis zum Ablauf des geltenden Bestimmungen des VwGG weiter anzuwenden sind.
1. Für die Entscheidung der belangten Behörde über die Rechtmäßigkeit der Abschiebung der Beschwerdeführerin waren ua. folgende Bestimmungen des AsylG 2005 (idF des FrÄG 2009) maßgeblich:
"Begriffsbestimmungen
§ 2. (1) Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist
...
13. ein Antrag auf internationalen Schutz: das - auf welche Weise auch immer artikulierte - Ersuchen eines Fremden in Österreich, sich dem Schutz Österreichs unterstellen zu dürfen; der Antrag gilt als Antrag auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und bei Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten als Antrag auf Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten;
...
23. ein Folgeantrag: jeder einem bereits rechtskräftig erledigten Antrag nachfolgender weiterer Antrag;
...
Faktischer Abschiebeschutz
§ 12. (1) Ein Fremder, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, kann, außer in den Fällen des § 12a, bis zur Erlassung einer durchsetzbaren Entscheidung, bis zur Gegenstandslosigkeit des Verfahrens oder nach einer Einstellung bis zu dem Zeitpunkt, an dem eine Fortsetzung des Verfahrens gemäß § 24 Abs. 2 nicht mehr zulässig ist, weder zurückgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben werden (faktischer Abschiebeschutz); § 32 bleibt unberührt. Sein Aufenthalt im Bundesgebiet ist geduldet. Ein auf Grund anderer Bundesgesetze bestehendes Aufenthaltsrecht bleibt unberührt. § 36 Abs. 4 gilt.
...
Faktischer Abschiebeschutz bei Folgeanträgen
§ 12a. (1) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) nach einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 5 oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß § 5 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 AVG gestellt, kommt ihm ein faktischer Abschiebeschutz nicht zu, wenn
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1. | gegen ihn eine aufrechte Ausweisung besteht, |
2. | kein Fall des § 39 Abs. 2 vorliegt und |
3. | eine Zuständigkeit des anderen Staates weiterhin besteht oder dieser die Zuständigkeit weiterhin oder neuerlich anerkennt. |
(2) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gestellt und liegt kein Fall des Abs. 1 vor, kann das Bundesasylamt den faktischen Abschiebeschutz des Fremden aufheben, wenn
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1. | gegen ihn eine aufrechte Ausweisung besteht, |
2. | der Antrag voraussichtlich zurückzuweisen ist, weil keine entscheidungswesentliche Änderung des maßgeblichen Sachverhalts eingetreten ist, und |
3. | die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung keine reale Gefahr einer Verletzung von Art. 2, 3 oder 8 EMRK oder der Protokolle Nr. 6 oder Nr. 13 zur Konvention bedeuten und für ihn als Zivilperson keine ernsthafte Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konfliktes mit sich bringen würde. |
(3) Hat der Fremde einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) gemäß Abs. 2 binnen achtzehn Tagen vor einem bereits festgelegten Abschiebetermin gestellt, kommt ihm ein faktischer Abschiebeschutz nicht zu, wenn zum Antragszeitpunkt 1. gegen ihn eine aufrechte Ausweisung besteht,
2. der Fremde über den Abschiebetermin zuvor nachweislich informiert worden ist (§ 67 Abs. 4 FPG) und
3. darüber hinaus
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a) | sich der Fremde in Schubhaft befindet; |
b) | gegen den Fremden ein gelinderes Mittel (§ 77 FPG) angewandt wird, oder |
c) | der Fremde nach einer Festnahme gemäß § 74 Abs. 2 Z 1 oder 3 FPG iVm § 39 Abs. 2 Z 1 FPG angehalten wird. |
Liegt eine der Voraussetzungen der Z 1 bis 3 nicht vor, ist gemäß Abs. 2 vorzugehen. Für die Berechnung der achtzehntägigen Frist gilt § 33 Abs. 2 AVG nicht. |
(4) In den Fällen des Abs. 3 hat das Bundesasylamt dem Fremden den faktischen Abschiebeschutz in Ausnahmefällen zuzuerkennen, wenn der Folgeantrag nicht zur ungerechtfertigten Verhinderung oder Verzögerung der Abschiebung gestellt wurde. Dies ist dann der Fall, wenn
1. der Fremde anlässlich der Befragung oder Einvernahme (§ 19) glaubhaft macht, dass er den Folgeantrag zu keinem früheren Zeitpunkt stellen konnte oder
2. sich seit der letzten Entscheidung die objektive Situation im Herkunftsstaat entscheidungsrelevant geändert hat.
Über das Vorliegen der Voraussetzungen der Z 1 und 2 ist mit Mandatsbescheid (§ 57 AVG) zu entscheiden. Wurde der Folgeantrag binnen zwei Tagen vor dem bereits festgelegten Abschiebetermin gestellt, hat sich die Prüfung des faktischen Abschiebeschutzes auf das Vorliegen der Voraussetzung der Z 2 zu beschränken. Für die Berechnung der zweitägigen Frist gilt § 33 Abs. 2 AVG nicht. Die Zuerkennung des faktischen Abschiebeschutzes steht einer weiteren Verfahrensführung gemäß Abs. 2 nicht entgegen.
(5) Abweichend von §§ 17 Abs. 4 und 29 Abs. 1 beginnt das Zulassungsverfahren in den Fällen des Abs. 1 und 3 bereits mit der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz."
Auf Basis dieser Rechtslage konnte die schließlich am vollzogene Abschiebung der Beschwerdeführerin nur rechtens sein, wenn ihr ungeachtet ihres davor am gestellten Folgeantrages auf internationalen Schutz, dem die Zurückweisung eines ersten Antrages nach § 5 AsylG 2005 vorausgegangen war, im Grunde des § 12a Abs. 1 AsylG 2005 kein faktischer Abschiebeschutz zukam.
Mit Erkenntnis vom , G 59/2013-9, sprach der Verfassungsgerichtshof über Antrag des Verwaltungsgerichtshofes vom aus, dass § 12a Abs. 1 AsylG 2005 (idF des FrÄG 2009) verfassungswidrig war. Die als verfassungswidrig erkannte Norm ist im Beschwerdefall, der Anlassfall für den Ausspruch des Verfassungsgerichtshofes war, nicht anzuwenden. Unter diesem Blickwinkel kam der Beschwerdeführerin daher entgegen der Annahme der belangten Behörde faktischer Abschiebeschutz nach § 12 AsylG 2005 zu.
In seinem Anfechtungsantrag vom hat der Verwaltungsgerichtshof erwogen (siehe Punkt 5.3. der Begründung), je nach Maßgabe des Eingriffs des Verfassungsgerichtshofes in § 12a Abs. 1 AsylG 2005 könnten von dieser Bestimmung nicht mehr erfasste Folgeanträge dem zweiten Absatz des § 12a AsylG 2005 bzw. insgesamt dem Regelungsmechanismus der Absätze 2 bis 4 dieser Bestimmung unterworfen sein. Selbst wenn davon ausgehend hier § 12a Abs. 3 AsylG 2005 schlagend geworden wäre und der Beschwerdeführerin vor dem Hintergrund dieser Bestimmung nach den Umständen des vorliegenden Falles kein faktischer Abschiebeschutz zugekommen wäre, hätte sich ihre Abschiebung dann aber jedenfalls deshalb als rechtswidrig erwiesen, weil sie ohne Entscheidung des Bundesasylamtes nach § 12a Abs. 4 AsylG 2005 erfolgte. Dazu kann gemäß § 43 Abs. 2 VwGG des Näheren auf das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/21/0118, verwiesen werden.
Nach dem Gesagten erweist sich - vor dem Hintergrund der nunmehr zu beachtenden Rechtslage (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2013/01/0112) - die Abschiebung der Beschwerdeführerin als rechtswidrig.
2. Die belangte Behörde hat nicht nur über die Abschiebung der Beschwerdeführerin abgesprochen, sondern - wenngleich ohne speziell darauf Bezug nehmende Erörterung - auch über die in der Administrativbeschwerde gleichfalls bekämpfte, der Abschiebung vorangegangene Anhaltung der Beschwerdeführerin. Diese Anhaltung wäre gesondert zu beurteilen gewesen, was schon daraus erhellt, dass die Beschwerdeführerin bei ihrem Beginn am noch nicht den wiederholten Antrag auf internationalen Schutz gestellt hatte (siehe auch dazu das oben genannte hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/21/0118; siehe zur gesonderten Anfechtbarkeit von Abschiebung einerseits und vorangegangener Freiheitsentziehung andererseits im Übrigen auch das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/21/0085).
Die erwähnte Anhaltung fußte auf § 74 Abs. 2 Z 3 FPG. Demnach kann gegen einen Fremden ein Festnahmeauftrag (auch dann) erlassen werden, wenn gegen ihn ein Auftrag zur Abschiebung (§ 46 FPG) erlassen werden soll. Dass die Bundespolizeidirektion Graz die Beschwerdeführerin in diesem Sinn - nach Polen - abschieben wollte, ist - bis zum Zeitpunkt der Stellung des asylrechtlichen Folgeantrags durch die Beschwerdeführerin am - im Hinblick auf die 2006 gegen sie ergangene asylrechtliche Ausweisung nicht zu beanstanden. Anders als in der vorliegenden Beschwerde ausgeführt, ist nämlich am Boden der substantiell nicht bekämpften Feststellungen der belangten Behörde, seit 2006 sei es zu keinen nennenswerten Integrationsschritten der Beschwerdeführerin gekommen, nicht zu sehen, dass diese asylrechtliche Ausweisung wegen einer maßgeblichen Sachverhaltsänderung ihre Wirksamkeit verloren hätte. Dass die auf Basis dieser Ausweisung zu vollziehende Überstellung der Beschwerdeführerin nach Polen aber aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (zur Effektuierung der sich nach der Dublin II-VO ergebenden Zuständigkeit Polens zur inhaltlichen Prüfung des Schutzersuchens der Beschwerdeführerin) einer Überwachung bedurfte, sodass der Abschiebetatbestand des § 46 Abs. 1 Z 1 FPG erfüllt war, kann ebenfalls nicht als rechtswidrig erkannt werden. Die Beschwerdeführerin hat nämlich, soweit ersichtlich, niemals zu erkennen gegeben, freiwillig nach Polen ausreisen zu wollen, weshalb die Annahme, die Überstellung dorthin sei nur zwangsweise zu erwirken, gerechtfertigt erscheinen durfte. Die Regelungen der Dublin II-VO stehen dem, wie sich aus der Auflistung der Überstellungsmethoden in Art. 7 Abs. 1 der Durchführungsverordnung ergibt, nicht entgegen.
Zusammenfassend durfte die Beschwerdeführerin damit auf Grundlage des § 74 Abs. 2 Z 3 FPG zum Zweck ihrer Abschiebung festgenommen und bis zur Stellung des asylrechtlichen Folgeantrages am angehalten werden.
3. Aus all dem folgt, dass die belangte Behörde der Administrativbeschwerde, soweit sie sich auf die Anhaltung der Beschwerdeführerin ab ihrer Festnahme am bis zur Stellung des Folgeantrages am bezog, zu Recht nicht Folge gegeben hat. Insoweit war die vorliegende Beschwerde daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen, während der bekämpfte Bescheid im Übrigen nach den obigen Ausführungen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben war.
4. Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abgesehen werden.
Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der (auf "Altfälle" gemäß § 3 Z 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014 weiter anzuwendenden) VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am