VwGH vom 22.02.2012, 2009/08/0096
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer, Dr. Lehofer und MMag. Maislinger sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des H B in Z, vertreten durch Mag. Stefan Schlager, Rechtsanwalt in 2020 Hollabrunn, Brunnthalgasse 28, gegen den aufgrund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich vom , Zl. LGS NÖ/RAG/05661/2009, betreffend Ausschluss vom Bezug des Arbeitslosengeldes gemäß § 11 AlVG, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 957,60 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen Bescheid wurde einer Berufung des Beschwerdeführers gegen einen Bescheid der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice H, mit dem die Verhängung einer Sperrfrist gemäß § 11 AlVG für die Zeit vom 11. November bis ausgesprochen worden war, keine Folge gegeben. Die belangte Behörde sprach aus, dass der Tatbestand gemäß § 11 Satz 1 AlVG erfüllt worden sei und keine Nachsichtsgründe gemäß § 11 Satz 2 AlVG vorliegen würden.
Als entscheidungserheblichen Sachverhalt stellte die belangte Behörde fest, der Beschwerdeführer sei zuletzt seit im Arbeitslosengeldbezug gestanden, unterbrochen durch ein Dienstverhältnis vom 13. Oktober bis als LKW-Lenker bei der H. Transport GmbH. Laut der vorgelegten Arbeitsbescheinigung vom habe dieses Dienstverhältnis am durch Lösung durch den Dienstnehmer geendet. Die persönliche Wiedermeldung bei der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice H sei am erfolgt.
Am habe Frau H. von der H. Transport GmbH der regionalen Geschäftsstelle gemeldet, dass der Beschwerdeführer am in der Früh bei der Firma angerufen und gesagt habe, dass er bei dieser Nebelsuppe nicht zur Arbeit komme. Daraufhin sei er vom Dienstverhältnis abgemeldet worden.
Am sei der Beschwerdeführer niederschriftlich zu den Gründen seiner Lösung des Dienstverhältnisses befragt worden und habe ausgeführt, dass er sein Dienstverhältnis am bei der H. Transport GmbH selbst gelöst habe. Eine Klage sei nicht eingebracht worden. Zu allfälligen Nachsichtsgründen befragt, habe er bekannt gegeben, dass er das Dienstverhältnis deshalb gelöst habe, weil er die Lenkzeiten für die Fahrten mit dem Lastwagen meist überschreiten habe müssen. Er werde sich diesbezüglich bei der Arbeiterkammer erkundigen, ob er gerichtliche Schritte einleiten könne und werde dies dem Arbeitsmarktservice bekannt geben.
Bei seiner Vorsprache in der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice H am habe der Beschwerdeführer bekannt gegeben, dass er "laut Arbeiterkammer bezüglich der Intervention wegen der Fahrzeitüberschreitung keine Möglichkeit habe, da er keine schriftlichen Aufzeichnungen geführt habe". Er habe das Dienstverhältnis ohne Angabe von Gründen gekündigt.
Die regionale Geschäftsstelle habe am mit Herrn F. von der Arbeiterkammer Niederösterreich Rücksprache gehalten und erfahren, dass von der Arbeiterkammer Niederösterreich ein Interventionsantrag verfasst worden sei. Darin seien die Auszahlung des ausständigen Gehalts für eine Woche und anteilsmäßiger Urlaub sowie die Änderung des Kündigungsgrunds gefordert worden. Es handle sich laut Herrn F. um "Kündigung durch Dienstnehmer in der Probezeit", nicht - wie von der Firma angegeben - um "Kündigung durch den Dienstnehmer".
Am habe die belangte Behörde mit der Arbeiterkammer Niederösterreich Kontakt aufgenommen, um den Verfahrensfortschritt bezüglich des "Interventionsantrags" bei der H. Transport GmbH zu erfragen. Dabei sei seitens der Arbeiterkammer Niederösterreich bestätigt worden, dass das Verfahren beendet sei, da die H. Transport GmbH die Lohnforderungen nachgezahlt habe. An der Art der Lösung des Dienstverhältnisses habe sich nichts geändert.
Aus dem Versicherungsdatenauszug der Österreichischen Sozialversicherungsträger vom gehe hervor, dass der Beschwerdeführer seit wiederum im Arbeitslosengeldbezug stehe, ein Dienstverhältnis habe er nicht aufgenommen.
Rechtlich folge daraus, dass der Beschwerdeführer das Dienstverhältnis freiwillig gelöst habe und damit der Tatbestand des § 11 erster Satz AlVG erfüllt sei. Es liege im gegebenen Fall kein Lösungsgrund vor, der einem berechtigten Austrittsgrund gleichzuhalten sei. Wie unbestritten feststehe, habe der Beschwerdeführer am sein Dienstverhältnis zur H. Transport GmbH freiwillig und ohne Angabe von Gründen dem Dienstgeber gegenüber gelöst.
Dem Berufungsvorbringen, er habe die gesetzlichen Arbeitszeiten auf Dauer überschreiten müssen, könne nicht gefolgt werden, da der Beschwerdeführer diesbezüglich keine Aufzeichnungen vorlegen könne. Dies sei ihm bereits seitens der Arbeiterkammer Niederösterreich mitgeteilt worden.
Das Telefonat des Beschwerdeführers am mit der H. Transport GmbH, in welchem er der Firma mitgeteilt habe, dass er "bei dieser Nebelsuppe" nicht zur Arbeit fahre, bestätige ebenfalls, dass das Dienstverhältnis aus Gründen, die in der Sphäre des Beschwerdeführers lägen, gelöst worden sei. Ob der Zeitpunkt für die Lösung des Dienstverhältnisses nun in die Probezeit falle, sei für die Prüfung, ob der Tatbestand des § 11 AlVG erfüllt sei, nicht relevant. Lediglich der Umstand, dass die Lösung des Dienstverhältnisses vom Dienstnehmer ausgegangen sei, sei ausschlaggebend dafür, dass der Tatbestand des § 11 AlVG im gegenständlichen Fall erfüllt sei.
Weiters werde angemerkt, dass der Beschwerdeführer seit die Lehrabschlussprüfung als Berufskraftfahrer besitze. Laut der dem Arbeitsmarktservice vorliegenden Unterlagen sei er seit 1981 stets als LKW-Fahrer - mit saisonalen Unterbrechungen - beschäftigt. Es sei also davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer über ausreichend Praxis verfüge und somit Erfahrung mit dem Lenken eines Lastkraftwagens im Nebel habe.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde mit dem Antrag, ihn kostenpflichtig aufzuheben.
Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. § 11 AlVG in der Fassung vor der Novelle BGBl. I Nr. 142/2000 lautete:
"§ 11. Arbeitslose, deren Dienstverhältnis infolge eigenen Verschuldens beendet worden ist oder die ihr Dienstverhältnis freiwillig ohne triftigen Grund gelöst haben, erhalten für die Dauer von vier Wochen, gerechnet vom Tage der Beendigung des Dienstverhältnisses an, kein Arbeitslosengeld. § 10 Abs. 2 gilt sinngemäß."
Seit der Novelle BGBl. I Nr. 142/2000 lautet § 11 erster Satz:
"Arbeitslose, deren Dienstverhältnis infolge eigenen Verschuldens beendet worden ist oder die ihr Dienstverhältnis freiwillig gelöst haben, erhalten für die Dauer von vier Wochen, gerechnet vom Tage der Beendigung des Dienstverhältnisses an, kein Arbeitslosengeld."
Der gesamte § 11 AlVG in der hier maßgebenden Fassung BGBl. I Nr. 77/2004 lautet:
"§ 11. Arbeitslose, deren Dienstverhältnis infolge eigenen Verschuldens beendet worden ist oder die ihr Dienstverhältnis freiwillig gelöst haben, erhalten für die Dauer von vier Wochen, gerechnet vom Tage der Beendigung des Dienstverhältnisses an, kein Arbeitslosengeld. Der Ausschluss vom Bezug des Arbeitslosengeldes ist in berücksichtigungswürdigen Fällen, wie zB bei freiwilliger Beendigung eines Dienstverhältnisses aus gesundheitlichen Gründen oder wegen Aufnahme einer anderen Beschäftigung, nach Anhörung des Regionalbeirates ganz oder teilweise nachzusehen."
Gemäß § 11 zweiter Satz AlVG ist der Ausschluss vom Leistungsbezug in berücksichtigungswürdigen Fällen ganz oder teilweise nachzusehen. Mit der Novelle BGBl. I Nr. 142/2000 fiel die Formulierung "ohne triftigen Grund" in § 11 erster Satz AlVG weg. Nach dem Bericht des Budgetausschusses (369 BlgNR 21. GP) sollen bei einer freiwilligen Lösung des Dienstverhältnisses allenfalls vorliegende Nachsichtsgründe, die die Auflösung eines Dienstverhältnisses rechtfertigen können, künftig nur mehr im Wege eines Nachsichtsverfahrens nach Anhörung des Regionalbeirats geprüft werden.
Daraus ergibt sich, dass der Gesetzgeber mit der Änderung des § 11 durch die Novelle BGBl. I Nr. 77/2004 die Prüfung von im Einzelfall vorliegenden subjektiven Faktoren der Unzumutbarkeit der Weiterbeschäftigung in den Bereich der Nachsichtsgewährung verlegen wollte. Weder dem Gesetz noch den Materialien ist aber zu entnehmen, dass dabei der Maßstab für deren Beachtlichkeit geändert werden soll. Die in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs entwickelten Grundsätze zum Vorliegen von "triftigen Gründen" im Sinne des § 11 erster Satz AlVG aF sind daher auch für die Beurteilung der "berücksichtigungswürdigen Gründe" im Sinne des § 11 erster Satz AlVG nF heranzuziehen. Insbesondere sind für die Beurteilung des Vorliegens von Nachsichtsgründen im Sinne des § 11 erster Satz AlVG nF Zumutbarkeitsgesichtspunkte maßgebend, wie sie etwa § 9 Abs. 2 und 3 AlVG auch für den arbeitslos gewordenen Versicherten im Hinblick auf dessen Verpflichtung, eine vom Arbeitsmarktservice vermittelte oder sich bietende Arbeitsgelegenheit zu ergreifen, vorsieht. Soweit das Arbeitsverhältnis betreffende Umstände für die Auflösung eines Dienstverhältnisses in Betracht kommen, wird es sich zwar nicht nur um Vorfälle handeln müssen, die einen Austrittsgrund im Sinne des Arbeitsvertragsrechtes (etwa im Sinne des § 26 Angestelltengesetz und verwandter Rechtsvorschriften) darstellen, wohl aber um solche, die einem solchen wichtigen Grund zumindest nahe kommen. Jedenfalls hat die bei Anwendung des § 11 AlVG vorzunehmende Zumutbarkeitsprüfung die gänzlich anders geartete Situation des in Beschäftigung Stehenden (zum Unterschied zu dem bereits arbeitslos Gewordenen) zu berücksichtigen (vgl. dazu die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2007/08/0063 und vom , Zl. 2009/08/0272).
2. Im gegenständlichen Verfahren ist im Wesentlichen strittig, ob die belangte Behörde aufgrund des Vorbringens des Beschwerdeführers im Verwaltungsverfahren, er habe bei der H. Transport GmbH "die gesetzlichen Arbeitszeiten auf Dauer überschreiten müssen", die Sanktion des § 11 AlVG nachsehen hätte müssen.
3. Die Beschwerde macht dazu geltend, der Beschwerdeführer habe seinen "berechtigten vorzeitigen Austritt" in der Probezeit erklärt, da er ständig die gesetzlichen Arbeitszeiten überschreiten hätte müssen. Dass die Arbeitszeiten ständig überschritten worden seien, ergebe sich auch aus (mit der Beschwerde vorgelegten) Kopien von Tachografenscheiben. Es könne dem Beschwerdeführer sicherlich nicht zugemutet werden, einen rechtswidrigen Zustand aufrecht zu erhalten und ständig die gesetzlichen Arbeitszeiten zu überschreiten. Dies insbesondere auch deshalb, da diese Vorgangsweise für ihn in weiterer Folge auch verwaltungsstrafrechtliche Konsequenzen nach sich gezogen hätte. Die belangte Behörde hätte jederzeit die Möglichkeit gehabt, mittels Arbeitsinspektor die Überschreitung der Arbeitszeiten zu überprüfen und hätte dann leicht feststellen können, dass es hier auf Dauer zur Überschreitung der gesetzlichen Arbeitszeiten gekommen sei. Die belangte Behörde habe von sich aus sämtliche Beweise aufzunehmen, auch jene, die den Beschwerdeführer entlasteten. Sie sei dieser Pflicht nicht nachgekommen. Es liege daher ein Verstoß gegen das Prinzip der Amtswegigkeit des Verfahrens vor.
4. Zur Überschreitung der Arbeitszeiten hat der Beschwerdeführer in der vor der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice H aufgenommenen Niederschrift vom angegeben, er habe das Dienstverhältnis gelöst, da er meist die Lenkzeiten für die Fahrten mit dem Lastwagen überschreiten habe müssen. Einem auf dieser Niederschrift handschriftlich vermerkten Aktenvermerk vom zufolge könne er "keinen Einspruch erheben", weil er "keine schriftlichen Nachweise habe". In der gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobenen Berufung vom führte der Beschwerdeführer erneut aus, es sei ihm nicht möglich, bei der Firma H. Transport GmbH ein unbefristetes Dienstverhältnis einzugehen, da er sonst die gesetzlichen Arbeitszeiten auf Dauer überschritten hätte.
Die belangte Behörde setzte sich im angefochtenen Bescheid mit diesem Vorbringen nur kursorisch auseinander, indem sie ausführte, dem Vorbringen könne "nicht gefolgt werden", da der Beschwerdeführer diesbezüglich keine Aufzeichnungen vorlegen könne. Dies sei ihm bereits seitens der Arbeiterkammer Niederösterreich mitgeteilt worden.
5. Zunächst ist festzuhalten, dass eine Beschäftigung, bei der vom Arbeitnehmer regelmäßig die Überschreitung der gesetzlichen Arbeitszeiten erwartet wird, unzumutbar im Sinne des § 9 Abs. 2 AlVG wäre (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2004/08/0177, mwN). Im Sinne der bereits zitierten hg. Rechtsprechung läge ein berücksichtigungswürdiger Fall im Sinne des § 11 zweiter Satz AlVG jedenfalls dann vor, wenn der Arbeitnehmer trotz vergeblicher Versuche, im Wege seiner Vorgesetzten Abhilfe zu erlangen (es sei denn, dass solche Versuche nach den Umständen des Falles gänzlich aussichtslos erscheinen), weiterhin verhalten wird, gegen gesetzliche Verbote zu verstoßen. Ob dies der Fall war, vermag der Verwaltungsgerichtshof aufgrund des angefochtenen Bescheides nicht zu beurteilen.
Nähere Feststellungen über die vom Beschwerdeführer zu verrichtenden Arbeitszeiten während seiner Beschäftigung bei der H. Transport GmbH als LKW-Fahrer finden sich im angefochtenen Bescheid jedoch nicht. Auch wenn der Beschwerdeführer selbst keine Aufzeichnungen über seine Arbeitszeit vorlegen konnte, wäre die belangte Behörde aber aufgrund seines Vorbringens zu weiteren Ermittlungen verhalten gewesen, wobei auch zu berücksichtigen ist, dass beim Dienstgeber entsprechend den arbeitszeitrechtlichen Vorschriften Aufzeichnungen über die Arbeitszeiten des Beschwerdeführers hätten vorhanden sein müssen.
In einer im Verwaltungsverfahren eingeholten Stellungnahme der H. Transport GmbH vom erklärt diese hinsichtlich der Arbeitszeiten des Beschwerdeführers, sie werde die Aussage des Beschwerdeführers, er hätte die Lenkzeiten dauernd überschreiten müssen, mit ihrem Anwalt abklären; bestritten wurde die Überschreitung der Lenkzeiten damit nicht. Weitere Ermittlungen hat die belangte Behörde nicht angestellt. Sie hat auch weder versucht, die H. Transport GmbH zur Übermittlung allfällig vorhandener Arbeitszeitaufzeichnungen oder zu einer konkreten Stellungnahme zu den Lenkzeiten zu bewegen, noch hat sie den im Verwaltungsverfahren unvertretenen Beschwerdeführer zur Konkretisierung seines Vorbringens aufgefordert.
6. Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am