zurück zu Linde Digital
TEL.: +43 1 246 30-801  |  E-MAIL: support@lindeverlag.at
Suchen Hilfe
VwGH vom 22.02.2012, 2009/08/0034

VwGH vom 22.02.2012, 2009/08/0034

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Müller und die Hofräte Dr. Strohmayer und Dr. Lehofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Peck, über die Beschwerde des M J in Wien, vertreten durch Dr. Thomas Majoros, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Walfischgasse 12/3, gegen den aufgrund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien vom , Zl. 2008-0566-9-002892, betreffend Notstandshilfe, zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.211,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Dem Notstandshilfe beziehenden Beschwerdeführer wurde im Rahmen einer Niederschrift vor dem Arbeitsmarktservice Wien W am eine als "arbeitsmedizinisches Sachverständigengutachten" bezeichnete Stellungnahme des Beruflichen Bildungs- und Rehabilitationszentrums (BBRZ) vom zur Kenntnis gebracht. Niederschriftlich wurde festgehalten, dass aufgrund dieses Gutachtens keine Kurs- und Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers gemäß § 8 AlVG bestehe und der Beschwerdeführer daher mit vom Arbeitsmarktservice "abgemeldet" werde. Der Beschwerdeführer gab in dieser Niederschrift an, er habe sich freiwillig zu dieser Untersuchung gemeldet, weil er sich eingeschränkt arbeitsfähig fühle und keine unpassenden Vermittlungsvorschläge mehr erhalten wolle. Er sei nach wie vor aktiv auf Arbeitssuche und werde auch passende Stellenangebote annehmen. Dass er vom Leistungsbezug abgemeldet werde, akzeptiere er nicht.

Mit Bescheid vom sprach die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Wien W aus, dass der Notstandshilfebezug des Beschwerdeführers mangels Arbeitsfähigkeit ab dem eingestellt werde. Wie das Ermittlungsverfahren ergeben habe, sei der Beschwerdeführer nicht arbeitsfähig.

In der dagegen erhobenen Berufung vom führte der Beschwerdeführer unter anderem aus, er sei sehr wohl arbeitsfähig, wenn auch in eingeschränktem Maße. Sowohl seiner Arbeitsmarktservice-Betreuerin als auch allen am arbeitsmedizinischen Gutachten beteiligten Sachverständigen habe er unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er in seinem angestammten Beruf in der Markenartikelbranche arbeitsfähig sei und dass er sich den üblichen Belastungen in diesem Berufsfeld gewachsen fühle.

Im Rahmen des dem Beschwerdeführer im Berufungsverfahren eingeräumten Parteiengehörs legte der Beschwerdeführer einen Befundbericht des Prim. Dr. P., Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin, vom vor. In diesem Befundbericht wird unter anderem ausgeführt:

"Insgesamt lässt sich die Symptomatik des (Beschwerdeführers) als Zwangserkrankung darstellen.

Diese ist im täglichen Berufsfeld in leichterem Maße beeinträchtigend, (der Beschwerdeführer) braucht für seine Handlungen einen gewissen zeitlichen Rahmen, in dem er alles ordentlich ausführen und auch aufpassen kann, nicht zu engen Kontakt mit andere Personen zu haben.

Unter diesen Voraussetzungen ist (der Beschwerdeführer) arbeitsfähig."

Mit dem angefochtenen Bescheid der belangten Behörde vom wurde die Berufung des Beschwerdeführers abgewiesen.

Nach Darlegung des Verwaltungsgeschehens und der angewendeten gesetzlichen Bestimmungen führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, dass das letzte längere arbeitslosenversicherungspflichtige Dienstverhältnis des Beschwerdeführers am geendet habe. Seither beziehe er mit kurzen Unterbrechungen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung. Zuletzt habe er am für den einen Antrag auf Notstandshilfe gestellt und in der Folge Notstandshilfe von (täglich) EUR 24,90 zuerkannt bekommen.

Anlässlich seiner persönlichen Vorsprachen beim Arbeitsmarktservice Wien W am und am habe er angegeben, aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen, wie zB Platzangst, Zwängen und psychischen Problemen, nur beschränkt einsatzfähig zu sein. Zur Abklärung seiner Angaben sei der Beschwerdeführer aufgefordert worden, sich am beim BBRZ einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen.

Das arbeitsmedizinische Gutachten des BBRZ vom , welches dem Beschwerdeführer am nachweislich zur Kenntnis gebracht worden sei, habe unter Berücksichtigung des vorgelegten psychiatrischen Befunds von Dr. L. als führende Diagnose "Zwangskrankheit" ergeben und als weitere Diagnose "Coxarthralgie links". Es bestehe ein hohes Ausmaß an Beeinträchtigungen, sodass befristet für sechs Monate weder Arbeits- noch Kursfähigkeit vorliege. Es seien dem Beschwerdeführer aus gesundheitlicher Sicht derzeit keine Tätigkeiten zumutbar, insbesondere sei ihm eine Tätigkeit in seinem überwiegend ausgeübten Beruf im Vertrieb derzeit nicht zumutbar. Auch Kursfähigkeit sei derzeit nicht gegeben. Weiters ergebe sich aus arbeitsmedizinischer Sicht, dass Krankenstände von mehr als sieben Wochen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten seien.

Der Beschwerdeführer habe eine abgeschlossene Schulausbildung, sei 17 Jahre teilweise als Angestellter und teilweise selbständig im Vertrieb tätig gewesen. Aufgrund des festgestellten hohen Ausmaßes der Beeinträchtigungen in körperlicher und psychischer Hinsicht - befristet für sechs Monate seien keine Arbeiten oder Kurse zumutbar - sei der Beschwerdeführer als berufsunfähig im Sinne des § 273 ASVG einzustufen, da seine Arbeitsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten herabgesunken sei.

Diese Feststellungen würden sich auf den Leistungsakt, die chronologisch über EDV geführten Aufzeichnungen des Arbeitsmarktservice, das arbeitsmedizinische Gutachten vom , den psychiatrischen Befundbericht von Dr. L. vom , sowie den Befundbericht von Primar Dr. P. vom und die eigenen Angaben des Beschwerdeführers stützen.

Trotz Behauptung der Arbeitsfähigkeit im Notstandshilfe-Antrag des Beschwerdeführers vom und in seiner Berufung seien nach dem zitierten ärztlichen Gutachten die gesundheitlichen Einschränkungen derart massiv, dass Arbeitsfähigkeit nicht gegeben sei. Bereits die laut diesem Gutachten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Krankenstände im Ausmaß von mehr als sieben Wochen schlössen den Beschwerdeführer derzeit vom allgemeinen Arbeitsmarkt aus.

Der vom Beschwerdeführer im Zuge des Ermittlungsverfahrens vorgelegte Befundbericht von Primar Dr. P. sei nicht geeignet zu belegen, dass der Beschwerdeführer arbeitsfähig sei, da die in diesem Bericht notwendigen Voraussetzungen für die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers am allgemeinen Arbeitsmarkt derzeit nicht gegeben seien.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die Rechtswidrigkeit seines Inhalts sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend machende Beschwerde mit dem Antrag, ihn kostenpflichtig aufzuheben.

Die belangte Behörde legte die Verwaltungsakten vor und erstattete eine Gegenschrift mit dem Antrag, die Beschwerde kostenpflichtig abzuweisen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

1. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 und Abs. 2 AlVG ist eine Voraussetzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld die Arbeitsfähigkeit. Gemäß § 8 Abs. 1 AlVG ist arbeitsfähig, wer nicht invalid bzw. nicht berufsunfähig im Sinne der für ihn in Betracht kommenden Vorschriften der §§ 255, 273 bzw. 280 des Allgemeinen Sozialversicherungsgesetzes ist.

Gemäß § 24 Abs. 1 AlVG ist das Arbeitslosengeld einzustellen, wenn eine der Anspruchsvoraussetzungen wegfällt.

Gemäß § 38 AlVG sind die genannten Bestimmungen auf die Notstandshilfe sinngemäß anzuwenden.

2. Die belangte Behörde stützt die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit des Beschwerdeführers im Wesentlichen auf die als "arbeitsmedizinisches Sachverständigengutachten" bezeichnete Stellungnahme des BBRZ vom , wonach der Beschwerdeführer befristet für sechs Monate weder kurs- noch arbeitsfähig sei. Diese im Verwaltungsakt enthaltene Stellungnahme verweist auf einen psychiatrischen Befundbericht des Dr. L. vom , ohne dessen wesentliche Inhalte wiederzugeben. Als führende Diagnose wird "Zwangskrankheit" angeführt. Worin sich diese äußert und worauf sich die Diagnose im Einzelnen gründet, geht aus der Stellungnahme nicht hervor. Eine Krankenstandsprognose ist darin nicht enthalten.

Der Beschwerdeführer hat im Berufungsverfahren einen - zeitlich nach Erstattung dieser Stellungnahme des BBRZ erstellten - Befundbericht eines Facharztes für Psychiatrie vom vorgelegt. Dieser Befundbericht erläutert näher, wie sich die Zwangskrankheit des Beschwerdeführers äußert und welche Einschränkungen sich daraus für den Beschwerdeführer ergeben. Auch hier wird keine Krankenstandsprognose erstellt.

Ungeachtet der Frage, ob es sich bei der Stellungnahme des BBRZ um ein Sachverständigengutachten im Sinne des § 52 AVG handelt, ist der Beschwerdeführer dieser Stellungnahme mit dem von ihm vorgelegten Befundbericht jedenfalls auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten. Nach dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Befundbericht beeinträchtige die Erkrankung des Beschwerdeführers diesen im täglichen Berufsfeld nur leicht. Der Beschwerdeführer brauche für seine Handlungen einen gewissen zeitlichen Rahmen, in dem er "alles ordentlich ausführen" und auch aufpassen könne, nicht zu engen Kontakt mit anderen Personen zu haben. Unter diesen Voraussetzungen sei der Beschwerdeführer arbeitsfähig.

Diese medizinische Befundlage lässt nicht ohne weiteres auf das Vorliegen von Arbeitsunfähigkeit im Sinne des § 8 Abs. 1 AlVG schließen, sondern zeigt nur eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers auf. Der vom Beschwerdeführer vorgelegte Befundbericht steht daher in Widerspruch zu der von der belangten Behörde herangezogenen Stellungnahme des BBRZ dessen Krankenstandsprognose in keiner Weise begründet wurde.

Die Behörde kann nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs bei Vorliegen zweier einander widersprechender Gutachten auf Grund eigener Überlegungen mit entsprechender Begründung einem Gutachten wegen dessen größerer Glaubwürdigkeit bzw. Schlüssigkeit den Vorzug geben (vgl. zB das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/12/0148).

Es kann den Verwaltungsakten nicht entnommen werden, dass die belangte Behörde das vom Beschwerdeführer vorgelegte privatärztliche Attest dem Amtssachverständigen zur ergänzenden Stellungnahme übermittelt hätte. Sie hat sich vielmehr im angefochtenen Bescheid mit dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Befundbericht folgendermaßen auseinandergesetzt:

"Der von Ihnen im Zuge des Ermittlungsverfahrens vorgelegte Befundbericht von Primar Dr. (P.) war nicht geeignet zu belegen, dass Ihrerseits Arbeitsfähigkeit vorliegen würde, da die in diesem Bericht angeführten notwendigen Voraussetzungen für Ihre Arbeitsfähigkeit am allgemeinen Arbeitsmarkt derzeit nicht gegeben sind."

Mit dieser Begründung kann die belangte Behörde aber nicht nachvollziehbar darlegen, weshalb der vom Beschwerdeführer vorgelegte Befundbericht nicht geeignet sein soll, die zwar eingeschränkte, aber grundsätzlich gegebene Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers darzulegen. Die belangte Behörde stellt weder die Glaubwürdigkeit noch die Schlüssigkeit dieses Beweismittels in Frage und sieht offenbar auch keinen Widerspruch zur Stellungnahme des BBRZ vom , meint aber, dass die Voraussetzungen, unter denen der Beschwerdeführer arbeitsfähig sei, am allgemeinen Arbeitsmarkt derzeit nicht gegeben seien. Damit arrogiert sich die belangte Behörde ohne Einholung eines ergänzenden Sachverständigengutachtens, und somit in unzulässiger Weise auch die Beurteilung der davor liegenden medizinischen Frage, in welchem Umfang der Beschwerdeführer aus medizinischer Sicht zur Erbringung von Arbeitsleistungen, wie sie am allgemeinen Arbeitsmarkt nachgefragt werden, noch in der Lage ist. Mit dem Fehlen einer Begründung der für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit entscheidenden Krankenstandsprognose setzt sie sich nicht auseinander.

Der aus der Stellungnahme des BBRZ und dem vom Beschwerdeführer vorgelegten Befundbericht resultierende Widerspruch wurde daher - wie die Beschwerde zutreffend aufzeigt - in der Begründung des angefochtenen Bescheides nicht in der dafür gebotenen Weise ausgeräumt, wodurch das Verfahren der Ergänzung bedarf.

3. Der angefochtene Bescheid war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am