VwGH vom 05.05.2014, 2014/08/0028
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Waldstätten und den Hofrate Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Mag. Rossmeisel als Richterin, unter Beiziehung des Schriftführers Mag. Berthou, über die Revision der K M in T, vertreten durch Mag. DI Markus Petrowsky, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Rainergasse 3, gegen den auf Grund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid des Arbeitsmarktservice Niederösterreich vom , Zl. LGS NÖ/RAG/05661/2013, betreffend Widerruf und Rückforderung von Arbeitslosengeld, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde gemäß § 24 Abs. 2 ASVG das Arbeitslosengeld der Beschwerdeführerin für den Zeitraum vom 1. Jänner bis widerrufen und von ihr gemäß § 25 Abs. 1 AlVG den entstandenen Übergenuss von EUR 3.135,60 zurückgefordert.
Begründend führte die belangte Behörde nach Zitierung der für sie maßgeblichen gesetzlichen Bestimmungen und Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens aus, die Beschwerdeführerin habe vom bis Arbeitslosengeld bezogen, im maßgeblichen Zeitraum in der Höhe von täglich EUR 26,13. Am habe sie sich vom Leistungsbezug wegen eines Dienstverhältnisses abgemeldet. Laut Auszug aus dem Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherung vom sei die Beschwerdeführerin vom 1. Jänner bis als selbständig mit der Qualifikation F3, welche eine Pflichtversicherung beinhalte, versichert gewesen. Die selbständige Tätigkeit habe sie dem AMS nicht bekanntgegeben. Laut Firmenbuch sei sie vom bis handelsrechtliche Geschäftsführerin der Firma G GmbH gewesen. Da die Beschwerdeführerin keine Unterlagen vorgelegt habe, sei ihr Einkommen (Anmerkung: vom Finanzamt) geschätzt worden und es sei in weiterer Folge ein Einkommensteuerbescheid 2010 am ergangen. Es sei eine automatische Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgt und es sei dieser Einkommensteuerbescheid mit dem Einkommensteuerbescheid 2010 vom zugunsten der Beschwerdeführerin berichtigt worden. Daraus ergäben sich Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von EUR 4.000,--. Laut Rücksprache mit dem Finanzamt sei der Einkommensteuerbescheid 2010 vom rechtskräftig. Infolge Rücksprache mit der Sozialversicherung der gewerblichen Wirtschaft kämen zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb noch die Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von EUR 1.719,19 hinzu, das Bruttoeinkommen betrage EUR 5.719,19; somit sei die Geringfügigkeitsgrenze im Jahr 2010 von (monatlich) EUR 366,33 überstiegen worden und es sei die Beschwerdeführerin als vollversichert im Jahr 2010 gespeichert worden.
Rechtlich ging die belangte Behörde unter Zugrundelegung des § 12 Abs. 1 AlVG davon aus, dass die Beschwerdeführerin vom 1. Jänner bis GSVG pflichtversichert sei, dies laut Auszug aus dem Hauptverband der Österreichischen Sozialversicherung. Somit sei sie im Jahr 2010 der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung auf Grund ihrer selbständigen Tätigkeit unterlegen, weshalb die primäre Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit im Jahr 2010 nicht vorliege und somit der Widerruf hinsichtlich des Übergenusses auszusprechen gewesen sei. Dadurch, dass die Beschwerdeführerin die selbständige Tätigkeit im Jahr 2010 nicht bekannt gegeben habe, sei ihr auch eine Verletzung der Meldepflicht nach § 50 AlVG vorzuhalten und sei der Leistungsbezug vom 1. Jänner bis in Höhe von EUR 3.135,60 zurückzufordern.
Gegen diesen Bescheid wendet sich die vorliegende Revision mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften kostenpflichtig aufzuheben.
Das Bundesverwaltungsgericht hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt, auf die Erstattung einer Gegenschrift verzichtet, jedoch die kostenpflichtige Abweisung der Revision beantragt.
Über die gegen den angefochtenen Bescheid gemäß § 4 Abs. 1 erster Satz VwGbk-ÜG erhobene Revision hat der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
1. Die Revision wendet sich gegen die Feststellung der belangten Behörde, die Revisionswerberin sei im Bezug habenden Zeitraum 1. Jänner bis selbständig erwerbstätig gewesen. Sie habe ab Jänner 2010 die Geschäftsführung der G GmbH übernommen und habe bis einschließlich weder operative Tätigkeiten entfaltet noch Entgelt von dieser Gesellschaft erhalten. Erst ab habe sie die Tätigkeit für die Gesund und Sein Beratung und Bildung GmbH tatsächlich ausgeübt und sei dementsprechend unselbständig angestellt gewesen.
Das AMS beziehe sich im Berufungsbescheid u.a. auf einen Auszug des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherung vom , wonach die Revisionswerberin mit einer Qualifikation F3, die eine Pflichtversicherung beinhalte, versichert gewesen sei. Diese Annahme einer Pflichtversicherung sei allerdings zu Unrecht auf Grund einer unrichtigen und unberechtigten Schätzung der Finanzverwaltung erfolgt. Die belangte Behörde hätte die Frage des Vorliegens einer versicherungspflichtigen selbständigen Erwerbstätigkeit selbst beurteilen und die erforderlichen Feststellungen dafür treffen müssen.
2. Gemäß § 7 Abs. 1 Z 1 AlVG hat Anspruch auf Arbeitslosengeld, wer (u.a.) der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht. Nach § 7 Abs. 2 AlVG steht der Arbeitsvermittlung zur Verfügung, wer eine Beschäftigung aufnehmen kann und darf und arbeitsfähig, arbeitswillig und arbeitslos ist.
Gemäß § 12 Abs. 1 AlVG in der hier anzuwendenden Fassung BGBl. I Nr. 104/2007 ist arbeitslos, wer
"1. eine (unselbständige oder selbständige) Erwerbstätigkeit (Beschäftigung) beendet hat,
2. nicht mehr der Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung unterliegt oder dieser ausschließlich auf Grund des Weiterbestehens der Pflichtversicherung für den Zeitraum, für den Kündigungsentschädigung gebührt oder eine Ersatzleistung für Urlaubsentgelt oder eine Urlaubsabfindung gewährt wird (§ 16 Abs. 1 lit. k und l), unterliegt und
3. keine neue oder weitere (unselbständige oder selbständige) Erwerbstätigkeit (Beschäftigung) ausübt."
Gemäß § 24 Abs. 2 AlVG ist die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes zu widerrufen, wenn die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes gesetzlich nicht begründet war. Nach § 25 Abs. 1 AlVG ist bei Einstellung, Herabsetzung, Widerruf oder Berichtigung einer Leistung der Empfänger des Arbeitslosengeldes zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn er den Bezug durch unwahre Angaben oder durch Verschweigung maßgebender Tatsachen herbeigeführt hat oder wenn er erkennen musste, dass die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte. Nach § 25 Abs. 1 dritter Satz AlVG ist der Empfänger einer Leistung nach diesem Bundesgesetz auch dann zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen zu verpflichten, wenn sich ohne dessen Verschulden auf Grund eines nachträglich vorgelegten Einkommensteuer- oder Umsatzsteuerbescheides ergibt, dass die Leistung nicht oder nicht in diesem Umfang gebührte; in diesem Fall darf jedoch der Rückforderungsbetrag das erzielte Einkommen nicht übersteigen.
Nach dem Wortlaut des § 12 Abs. 1 AlVG sind die in Z 1 bis 3 dieser Bestimmung festgelegten Voraussetzungen kumulativ zu erfüllen. Es ist daher nicht nur erforderlich, dass die Erwerbstätigkeit beendet ist, sondern dass darüber hinaus (abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmen) auch keine Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung mehr besteht, sowie dass schließlich keine "neue oder weitere" Erwerbstätigkeit ausgeübt wird.
Eine Pflichtversicherung in der Pensionsversicherung schließt nach § 12 Abs. 1 AlVG idF BGBl. I Nr. 104/2007 Arbeitslosigkeit aus, selbst wenn nur eine iSd § 12 Abs. 6 AlVG "geringfügige Erwerbstätigkeit" ausgeübt wurde (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/08/0025, mwN).
Die Ausübung einer neuen oder weiteren Erwerbstätigkeit schließt iSd § 12 Abs. 1 Z 3 AlVG Arbeitslosigkeit hingegen nur dann aus, wenn es sich nicht um eine "geringfügige Erwerbstätigkeit" in den im § 12 Abs. 6 AlVG näher festgelegten Grenzen handelt (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2009/08/0155).
Der Widerruf nach § 24 Abs. 2 AlVG hängt im Beschwerdefall davon ab, ob die Beschwerdeführerin in dem gegenständlichen Zeitraum iSd § 12 Abs. 1 Z 2 AlVG einer Pflichtversicherung unterlegen ist bzw. gemäß § 12 Abs. 1 Z 3 AlVG eine neue oder weitere die Geringfügigkeitsgrenze übersteigende Erwerbstätigkeit (Beschäftigung) ausgeübt hat.
3. Die belangte Behörde stützte den Widerruf und die Rückforderung des Arbeitslosengeldes im Wesentlichen darauf, dass aus dem Einkommensteuerbescheid der Revisionswerberin ein Einkommen aus selbständiger Tätigkeit hervorgehe und sie im maßgeblichen Zeitraum laut Auszug aus dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherung pflichtversichert gewesen sei.
Allein daraus, dass der Einkommensteuerbescheid des Jahres 2010 ein Einkommen ausweist, kann aber nicht darauf geschlossen werden, dass die Revisionswerberin im gesamten Jahr 2010 selbständig erwerbstätig war und während ihres Leistungsbezugs gemäß § 12 Abs. 3 lit. b AlVG keine Arbeitslosigkeit vorlag. Auch aus der Meldung des Hauptverbandes der österreichischen Sozialversicherungsträger, wonach die Revisionswerberin im Jahr 2010 nach dem GSVG pflichtversichert gewesen sei, kann eine - auf Grund der tatsächlichen Gegebenheiten zu beurteilende - selbständige Erwerbstätigkeit nicht ohne weitere Feststellungen abgeleitet werden (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/08/0094, mwN). Um das Vorliegen einer Pflichtversicherung (insbesondere auch deren Beginn und Ende sowie den Zweig, indem die Pflichtversicherung besteht) bzw. das Vorliegen der genannten unselbständigen oder selbständigen Erwerbstätigkeiten (Beschäftigungen) beurteilen zu können, sind Tatsachenfeststellungen über alle relevanten Umstände der in Frage kommenden Erwerbstätigkeiten zu treffen, die eine diesbezügliche rechtliche Beurteilung ermöglichen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/08/0221, mwN). In diesem Zusammenhang ist dem angefochtenen Bescheid auch nicht zu entnehmen, welche rechtliche Bedeutung die belangte Behörde dem Umstand der Geschäftsführertätigkeit der Revisionswerberin (vgl. § 2 Abs. 1 Z 3 GSVG) beigemessen hat.
4. Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der (auf "Altfälle" gemäß § 3 Z 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 idF BGBl. II Nr. 8/2014, weiter anzuwendenden) VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008. Das die Umsatzsteuer betreffende Mehrbegehren war abzuweisen, da diese in den Pauschalbeträgen der genannten Verordnung bereits berücksichtigt ist. Das auf Ersatz der Eingabegebühr gerichtete Mehrbegehren war ebenso abzuweisen, weil die Revisionswerberin im Rahmen der Verfahrenshilfe von deren Entrichtung befreit worden ist.
Wien, am