VwGH vom 15.07.2022, Ra 2022/18/0013
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. Sutter und Mag. Tolar, sowie die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S M, vertreten durch Dr. Gerald Waitz, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Am Winterhafen 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W123 2185858-1/17E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),
Spruch
I. den Beschluss gefasst:
Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten richtet, zurückgewiesen.
II. zu Recht erkannt:
Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Maidan Wardak, beantragte am internationalen Schutz. Zur Begründung brachte er zusammengefasst vor, er fürchte bei Rückkehr nach Afghanistan getötet zu werden. Seine Familie sei zum einen in eine Fehde verwickelt, zum anderen sei er vor der Flucht von Taliban sowie - wegen Unterstützung des afghanischen Politikers Abdullah Abdullah - von Anhängern des afghanischen Staatspräsidenten Ashraf Ghani bedroht worden.
2Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.
3Begründend führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe aus näher genannten Gründen seine Fluchtgründe nicht glaubhaft machen können. Ihm sei daher kein Asyl zu gewähren.
4Die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz begründete das BVwG im Wesentlichen damit, dass die Taliban mittlerweile die Macht in Afghanistan übernommen hätten. Insofern sei daher von einer Beruhigung der Sicherheitslage im Staatsgebiet auszugehen. Dabei werde nicht verkannt, dass sich die Sicherheitslage für gewisse Gruppen durch die Machtübernahme der Taliban verschlechtert habe. Der Revisionswerber gehöre aber nicht zu diesen Gruppen, weil er kein den Vorstellungen der Taliban zuwiderlaufendes Verhalten gesetzt habe. Der Revisionswerber verfüge im Übrigen über familiäre Anknüpfungspunkte in Kabul und er könne auch zu seiner Tante in die Provinz Bamyan zurückkehren, wo er zumindest eine Grundversorgung vorfinde.
5Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zur Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst geltend macht, das BVwG habe seine Begründungspflicht von Entscheidungen verletzt. Es gebe im Rahmen der Sachverhaltsfeststellungen zwar den Inhalt der Länderinformation der Staatendokumentation vom über Afghanistan (Version 5) wieder, beziehe diese in seine weiteren Erwägungen aber nicht ein. Es erkenne auch, dass der Verfassungsgerichtshof im Erkenntnis vom , E 3445/2021, die Sicherheitslage als extrem volatil bezeichnet habe, halte aber - ohne hinreichende Begründung - diese Einschätzung für zwischenzeitlich überholt. Dem sei entgegen zu halten, dass der Verfassungsgerichtshof - gestützt auf die aktuelle Berichtslage zu Afghanistan - die andauernde extreme Volatilität der Sicherheitslage auch in einem Erkenntnis vom , E 4227/2021, bestätigt und für Rückkehrer nach Afghanistan weiterhin eine reale Gefahr der Verletzung von Art. 2 und 3 EMRK erkannt habe. Es könne nicht nachvollzogen werden, weshalb das BVwG zu einer im krassen Widerspruch zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes stehenden Entscheidung gelangt sei.
6Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
7Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8Die Revision ist teilweise zulässig und begründet.
Zu Spruchpunkt I.
9Nach Art. 133 Abs. 4 B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
10Hat das Verwaltungsgericht - wie im vorliegenden Fall - im Erkenntnis ausgesprochen, dass die Revision nicht zulässig ist, muss die Revision gemäß § 28 Abs. 3 VwGG auch gesondert die Gründe enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird.
11Derartige Gründe enthält die vorliegende Revision in Bezug auf die Nichtzuerkennung von Asyl nicht. Sie macht der Sache nach ausschließlich eine dem Revisionswerber bei Rückkehr nach Afghanistan drohende Verletzung von Art. 2 oder 3 EMRK geltend. Ein Asylanspruch setzt aber voraus, dass dem Betroffenen bei Rückkehr Verfolgung aus einem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention genannten Gründe drohen würde, was die Revision nicht einmal behauptet.
12In Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten war die Revision daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG als unzulässig zurückzuweisen.
Zu Spruchpunkt II.
13Zulässig und begründet ist die Revision jedoch insoweit, als sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wendet.
14Das BVwG begründet die Nichtgewährung von subsidiärem Schutz damit, dass sich die Sicherheitslage durch die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan (im August 2021) beruhigt habe und eine gefahrlose Rückkehr des Revisionswerbers in seinen Herkunftsstaat möglich sei
15Zu einschlägigen Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, die zu gegenteiligen Ergebnissen gelangt waren (insbesondere ), führt das BVwG aus, sie seien im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit den Kampfhandlungen vom Juli und August 2021 ergangen und daher schon wieder als überholt zu betrachten.
16Zu Recht verweist die Revision auf ein weiteres Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , E 4227/2021, mit der ein vom selben Richter des BVwG ergangenes Erkenntnis, das im Wesentlichen gleich wie im gegenständlichen Verfahren begründet worden war, wegen Verletzung des dortigen Beschwerdeführers in den verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten nach Art. 2 und 3 EMRK aufgehoben worden ist.
17Der Verfassungsgerichtshof führte in dieser Entscheidung unter anderem Folgendes aus:
„Das Bundesverwaltungsgericht stellt in seinem Erkenntnis vom fest, dass der Beschwerdeführer nicht habe glaubhaft machen können, dass im Falle der Rückkehr in seine Heimatprovinz Paktia bzw in die Stadt Kabul ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde. Diese Feststellung versucht das Bundesverwaltungsgericht auf das Wesentliche zusammengefasst damit zu begründen, dass sich die Sicherheitslage im Herkunftsstaat ‚wieder zu beruhigen scheint‘. Finanzielle Unterstützung des Beschwerdeführers durch Familienangehörige, denen es nach wie vor gut gehe, sei ‚vorstellbar‘. Trotz einer nicht auszuschließenden Verschlechterung der allgemeinen Versorgungslage würden ‚die Taliban‘ auf ‚gefestigte‘ Versorgungsstrukturen ‚schon aufgrund pragmatischer Erwägungen [...] aufbauen [...] (müssen)‘. Länderberichte, die die Versorgungslage ‚vor der Machtübernahme der Taliban‘ schilderten, seien daher nach wie vor aktuell.
... Nach Auffassung des Verfassungsgerichtshofes war insbesondere auf Grund der - im Entscheidungszeitpunkt des Bundesverwaltungsgerichtes verfügbaren - Kurzinformation der Staatendokumentation vom von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen, sodass jedenfalls eine Situation vorliegt, in der Rückkehrer nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung ihrer verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art 2 und 3 EMRK ausgesetzt wären (vgl ). Angesichts der aktuellen Berichtslage, wonach die Lage in Afghanistan (nach wie vor) volatil bleibe (vgl zB das Update der EASO Country Guidance Afghanistan aus November 2021), sieht sich der Verfassungsgerichtshof nicht veranlasst, von dieser Auffassung abzugehen.
Überdies erschöpft sich die Auseinandersetzung des Bundesverwaltungsgerichtes mit der Sicherheitslage in Afghanistan in der Bezugnahme auf Medienberichte zu einzelnen Sicherheitsaspekten (insbesondere der vom IS ausgehenden Terrorgefahr); Hinweise auf willkürliche Kontrollen und Bestrafungen bis hin zu gezielten Hinrichtungen werden beispielsweise nicht thematisiert, obwohl sie sich in den im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Länderberichten finden.
... Auch die Einschätzung des Bundesverwaltungsgerichtes in Bezug auf die Versorgungslage in Afghanistan ist für den Verfassungsgerichtshof mit Blick auf die aktuelle Berichtslage nicht nachvollziehbar (vgl zB das Situation Update von UNHCR zur ‚Afghanistan situation: Emergency preparedness and response in Iran‘ vom , wonach - insbesondere im Hinblick auf den kommenden Winter - fast die Hälfte der afghanischen Bevölkerung auf humanitäre Hilfeleistungen angewiesen sei, um zu überleben).
... Indem das Bundesverwaltungsgericht unzutreffend von einer im Hinblick auf Art 2 und 3 EMRK zulässigen Rückkehrsituation des Beschwerdeführers ausgegangen ist, verstößt die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes, soweit sie sich auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und - daran anknüpfend - die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Afghanistan unter Setzung einer zweiwöchigen Frist für die freiwillige Ausreise bezieht, gegen das Recht auf Leben gemäß Art 2 EMRK, ferner darauf, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen zu werden (Art 3 EMRK), und ist insoweit aufzuheben.“
18Diese Beurteilung erachtet der Verwaltungsgerichtshof auch im gegenständlichen Verfahren für zutreffend:
19Das BVwG stützt seine Einschätzung der beruhigten Sicherheitslage und hinreichenden Grundversorgung auf Annahmen, die bei genauer Betrachtung nicht haltbar sind.
20Es führt aus, dass die Machtübernahme der Taliban zu einer weitgehenden Beendigung von Kampfhandlungen und Übergriffen auf die Zivilbevölkerung geführt habe. Dabei übergeht das BVwG allerdings zum einen die aus den Länderberichten ersichtliche Information, dass die Bedrohung durch den „Islamischen Staat“ fortbestehe, und zum anderen, dass es nach glaubwürdigen Berichten schwerwiegende Übergriffe von Taliban-Kämpfern gegen Zivilisten gebe. Die Taliban-Kämpfer kontrollierten auf der Straße die Bevölkerung nach eigenen Regeln und würden selbst entscheiden, was sie sanktionierten (auf diese übergangenen Hinweise für willkürliche Kontrollen und Bestrafungen hat bereits der Verfassungsgerichtshof in dem oben zitierten Erkenntnis verwiesen).
21Zutreffend macht die Revision also geltend, dass die Schlussfolgerung des BVwG, der Revisionswerber könne wegen der verbesserten Sicherheitslage ungefährdet nach Afghanistan zurückkehren, mit den eigenen Sachverhaltsfeststellungen zur aktuellen Lage nicht vereinbar ist.
22Zur Frage der gesicherten Grundversorgung gesteht das BVwG in seiner Beweiswürdigung selbst zu, dass seine Beurteilung in einem Spannungsverhältnis zu den aktuellen Länderinformationen der Staatendokumentation betreffend die Wohn- und Arbeitssituation in Afghanistan stehe, wonach die möglichen Auswirkungen durch die Machtübernahme der Taliban nicht abgesehen werden könnten, womit auch eine Verschlechterung der allgemeinen Versorgungslage in näherer Zukunft nicht auszuschließen sei. Dem hält das BVwG lediglich die Vermutung entgegen, es sei nicht davon auszugehen, dass die Versorgungslage von heute auf morgen „einbrechen“ werde, weil die Taliban auf den von der Vorgängerregierung geschaffenen Strukturen aufbauen müssten. Deshalb seien die Kapitel „Grundversorgung und Wirtschaft“ aus den Länderberichten vor der Machtübernahme der Taliban nach wie vor aktuell.
23Diese Einschätzung ist aus mehreren Gründen nicht nachvollziehbar. Zum einen hat das BVwG die später in der Beweiswürdigung relativierten Länderfeststellungen aus der Länderinformation der Staatendokumentation unverändert übernommen und damit zu eigenen Sachverhaltsfeststellungen gemacht. Danach lassen sich die möglichen Auswirkungen durch die Machtübernahme der Taliban im August 2021 auf Wohnungsmarkt und Lebenshaltungskosten sowie auf den Arbeitsmarkt noch nicht absehen. Zum anderen geben die Länderfeststellungen des angefochtenen Erkenntnisses genügend Hinweise dafür, dass die Grundversorgung und Wirtschaft in Afghanistan nach der Machtübernahme, anders als das BVwG vermeint, nicht mit den Verhältnissen vor dem Regierungswechsel gleichgesetzt werden können. So wird dort - nur beispielhaft - ausgeführt, dass die Weltbank angesichts der jüngsten Entwicklungen alle Hilfen für Afghanistan eingefroren hat.
24Die vom BVwG getroffenen Länderfeststellungen lassen daher den gezogenen Schluss, der Revisionswerber finde in Afghanistan eine gesicherte Grundversorgung vor, nicht zu.
25Das angefochtene Erkenntnis war daher in Bezug auf die Nichtgewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (und die darauf aufbauenden weiteren Aussprüche) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
26Von der beantragten mündlichen Verhandlung war gemäß § 39 Abs. 2 Z 6 VwGG abzusehen.
27Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022180013.L00 |
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