VwGH vom 21.07.2022, Ra 2022/05/0004
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Mag. Dr. Zehetner sowie die Hofrätinnen Mag. Liebhart-Mutzl und Dr.in Sembacher als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision 1. des M A, 2. der B K, 3. der A L, 4. des J L, 5. des F S, 6. der Mag. I S, 7. des D S und 8. des Dipl.-Ing. R S, alle vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, LL.M., MAS, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11/6, gegen den Beschluss des Landesverwaltungsgerichts Oberösterreich vom , LVwG-153081/5/MK/GSc - 153088/2, betreffend Zurückweisung einer Beschwerde in einem baubehördlichen Verfahren sowie Einstellung und Gegenstandsloserklärung eines Beschwerdeverfahrens betreffend einen Antrag auf aufschiebende Wirkung (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bürgermeister der Marktgemeinde S, vertreten durch die Dr. Heinz Häupl Rechtsanwalts GmbH in 4865 Nußdorf, Stockwinkl 18; mitbeteiligte Partei: Ing. Norbert Hartl MBA, MAS, MSc, Promenade 1b, 4863 Seewalchen am Attersee; weitere Partei: Oberösterreichische Landesregierung), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Beschluss wird im Umfang seines Spruchpunktes I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und im Übrigen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Die Marktgemeinde S hat den revisionswerbenden Parteien insgesamt Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Mit Spruchpunkt I. des Bescheides des Bürgermeisters der Marktgemeinde S. (im Folgenden: belangte Behörde) vom wurde Herrn N. H. gemäß § 35 Abs. 1 der Oö. Bauordnung 1994 (Oö. BauO 1994) die Baubewilligung für das Vorhaben „Änderungsplanung: Neubau eines Wohnhauses“ auf einem näher genannten Grundstück unter Vorschreibung von Bedingungen und Auflagen erteilt und mit Spruchpunkt II. die von den revisionswerbenden Parteien erhobenen Einwendungen ab- und zurückgewiesen, soweit diese in den Nebenbestimmungen des Spruchpunktes I. nicht berücksichtigt worden waren.
2Mit Schriftsatz vom , nach den unbestritten gebliebenen Feststellungen im angefochtenen Beschluss zur Post gegeben am , erhoben die revisionswerbenden Parteien Beschwerde an das Landesverwaltungsgericht Oberösterreich (im Folgenden: Verwaltungsgericht) und stellten zugleich einen Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde.
3Mit Bescheid vom wies die belangte Behörde den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung ab.
4Mit dem nunmehr angefochtenen Beschluss vom wies das Verwaltungsgericht - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - die Beschwerde gegen den Baubewilligungsbescheid vom als unzulässig zurück (Spruchpunkt I.), erklärte das Verfahren über die ebenfalls erhobene Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung als gegenstandslos geworden und stellte dieses Verfahren ein (Spruchpunkt II.). Die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG erklärte das Verwaltungsgericht für unzulässig (Spruchpunkt III.).
5Begründend führte das Verwaltungsgericht - soweit für das vorliegende Revisionsverfahren von Relevanz - aus, der Bescheid vom sei nach einem erfolglosen Zustellversuch an die rechtsfreundliche Vertretung der revisionswerbenden Parteien am hinterlegt und noch am selben Tag übernommen worden. Beginn der Abholfrist sei der gewesen. Ein Telefonat mit der Kanzlei habe ergeben, dass die Beschwerde am zur Post gegeben worden sei und dass die Annahme, dass der Bescheid vom am zugestellt worden sei, auf kanzleiinternen Vermerken beruhe.
6Unter der Überschrift „Beweiswürdigung“ legte das Verwaltungsgericht sodann dar, es habe Beweis erhoben durch Einsichtnahme in den Behördenakt sowie ein Telefonat. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe entfallen können, da die erste Beschwerde zurückzuweisen gewesen sei bzw. der entscheidungswesentliche Sachverhalt sich aus der Aktenlage ergebe. So ergäben sich alle Feststellungen aus dem im Akt aufliegenden Rückschein. Auf diesem sei in den Feldern „Zustellversuch am“ und „Beginn der Abholfrist“ der eingetragen, ebenso beim Feld „Übernahmebestätigung“. Zur übernehmenden Person sei keine Auswahlmöglichkeit, sondern eine leere Zeile angekreuzt und augenscheinlich nur mit einem Kurzzeichen eigenhändig unterschrieben worden. Der den Zustellvorgang dokumentierende Rückschein sei somit ordnungsgemäß ausgefüllt worden und als öffentliche Urkunde Beweis für die Rechtmäßigkeit der Zustellung; der Gegenbeweis sei möglich. Die in der Beschwerde vertretene Annahme der Zustellung am beruhe auf offenkundig unrichtigen kanzleiinternen Vermerken.
7Rechtlich führte das Verwaltungsgericht aus, dass der Bescheid vom gemäß § 17 Abs. 3 Zustellgesetz am zur Abholung bereitgelegen sei und damit am als zugestellt gelte. Die am zur Post gegebene Beschwerde erweise sich damit als verspätet und sei zurückzuweisen gewesen.
8Hinsichtlich der Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung hielt das Verwaltungsgericht fest, dass die Beschwerde gegen den Baubewilligungsbescheid als verspätet zurückzuweisen gewesen sei. Damit sei die Hauptsache entschieden worden, weshalb der meritorischen Entscheidung über den Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung keine Bedeutung mehr zukomme. Die revisionswerbenden Parteien seien daher materiell klaglos gestellt, weshalb die Beschwerde für gegenstandslos zu erklären und dieses Beschwerdeverfahren einzustellen gewesen sei.
9Die revisionswerbenden Parteien erhoben zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der deren Behandlung mit Beschluss vom , E 3284/2021-5, ablehnte und die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat.
10Die vorliegende Revision stützt ihre Zulässigkeit auf Abweichungen des angefochtenen Beschlusses von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Überraschungsverbot und zur Wahrung des Parteiengehörs. Das Verwaltungsgericht habe es insbesondere unterlassen, den revisionswerbenden Parteien die Verspätung ihrer Beschwerde förmlich vorzuhalten. Weiters sei das Verwaltungsgericht zu Unrecht von einer rechtmäßigen Zustellung des Baubewilligungsbescheides am ausgegangen und dabei ebenfalls von näher genannter Rechtsprechung abgewichen (wird näher ausgeführt).
11Der Verwaltungsgerichtshof leitete nach Vorlage der Revision samt der verwaltungsbehördlichen und verwaltungsgerichtlichen Akten das Vorverfahren ein, im Zuge dessen die belangte Behörde eine Revisionsbeantwortung erstattete und die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision sowie Kostenersatz beantragte.
Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
12Die Revision ist bereits aufgrund ihres Zulässigkeitsvorbringens zur Abweichung des angefochtenen Beschlusses von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Wahrung des Parteiengehörs zulässig. Sie ist auch begründet.
13Die Wahrung des Parteiengehörs, das zu den fundamentalen Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit der Hoheitsverwaltung gehört, ist von Amts wegen, ausdrücklich, in förmlicher Weise und unter Einräumung einer angemessenen Frist zu gewähren. Das Parteiengehör besteht nicht nur darin, den Parteien im Sinn des § 45 Abs. 3 AVG Gelegenheit zu geben, vom Ergebnis einer Beweisaufnahme Kenntnis zu erlangen und dazu Stellung zu nehmen, sondern ihnen ganz allgemein zu ermöglichen, ihre Rechte und rechtlichen Interessen geltend zu machen, mithin Vorbringen zu gegnerischen Behauptungen zu erstatten, Beweisanträge zu stellen und überhaupt die Streitsache zu erörtern (vgl. , mwN). Auch von den Verwaltungsgerichten sind auf dem Boden des § 17 VwGVG sowohl das Amtswegigkeitsprinzip des § 39 Abs. 2 AVG als auch der Grundsatz der Einräumung von Parteiengehör im Sinne des § 45 Abs. 3 AVG zu beachten (vgl. , mwN).
14Im Revisionsfall ergibt sich weder aus dem angefochtenen Beschluss noch aus den Verfahrensakten, dass das Verwaltungsgericht den revisionswerbenden Parteien in förmlicher Weise und unter Setzung einer Frist zur Frage der angenommenen Verspätung ihrer Beschwerde gegen den Baubewilligungsbescheid vom ein solches Parteiengehör gewährt hätte. Es ist daher davon auszugehen, dass das Parteiengehör nicht ordnungsgemäß gewahrt wurde, wodurch das Verwaltungsgericht sein Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit belastete (vgl. zB. , mwN).
15Aufgrund des Revisionsvorbringens zu dem vom Verwaltungsgericht zur Begründung seiner zurückweisenden Entscheidung herangezogenen Rückschein kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass das Verwaltungsgericht bei Einhaltung der verletzten Verfahrensbestimmungen bei seiner Beurteilung, wann der mit Beschwerde bekämpften Bescheid vom dem Vertreter der revisionswerbenden Parteien zugestellt wurde, zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre, sodass von der Relevanz dieses Verfahrensmangels auszugehen ist.
16Der angefochtene Beschluss war daher schon deswegen im Umfang seines Spruchpunktes I. wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften nach § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
17Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes trifft es zu, dass mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts in der Hauptsache ein dort gestellter Antrag auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung gegenstandslos wird (vgl. ).
18Mit der Aufhebung des gegenständlich angefochtenen Zurückweisungsbeschlusses tritt gemäß § 42 Abs. 3 VwGG die Rechtssache jedoch in die Lage zurück, in der sie sich vor Erlassung des angefochtenen Beschlusses befunden hatte. Diese ex-tunc-Wirkung des aufhebenden Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes bewirkt, dass die Rechtslage zwischen Erlassung des angefochtenen Beschlusses des Verwaltungsgerichts und seiner Aufhebung so zu betrachten ist, als sei der Beschluss des Verwaltungsgerichts nie erlassen worden (vgl. ).
19Damit wird der durch das Verwaltungsgericht vorgenommenen Gegenstandsloserklärung der Beschwerde gegen die Abweisung des Antrags auf Zuerkennung der aufschiebenden Wirkung und Einstellung des bezüglichen Verfahrens (Spruchpunkt II.) die Grundlage entzogen, weshalb dieser Spruchpunkt gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG - und somit im Ergebnis der gesamte Beschluss - aufzuheben war.
20Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff. VwGG, insbesondere auf § 53 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2022050004.L00 |
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