VwGH vom 10.03.2022, Ra 2021/21/0035

VwGH vom 10.03.2022, Ra 2021/21/0035

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher und den Hofrat Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger als Richterin, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des V P, vertreten durch MMag. Katrin Maringer, Rechtsanwältin in 1080 Wien, Laudongasse 55/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W103 2237786-1/3E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der 1974 geborene Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, reiste zu einem nicht mehr genau feststellbaren Zeitpunkt Ende Oktober 2005 in das Bundesgebiet ein. Mit Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Neusiedl/See vom wurde der Revisionswerber gemäß § 33 Abs. 2 Z 4 und 6 FrG ausgewiesen, weil er - innerhalb eines Monats nach der Einreise betreten - den Besitz der Mittel zu seinem Unterhalt nicht nachweisen konnte und unrechtmäßig eingereist war; gemäß § 33 Abs. 3 FrG wurde ihm aufgetragen, unverzüglich auszureisen.

2Beim wieder in Österreich aufhältigen Revisionswerber wurde am aufgrund seines auffälligen Verhaltens eine polizeiliche Kontrolle durchgeführt. Aufgrund seines unrechtmäßigen Aufenthalts wurde er anschließend gemäß § 34 Abs. 1 Z 2 BFA-VG festgenommen.

3Mit Bescheid vom sprach das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) - nach Einvernahme des Revisionswerbers - aus, dass ihm (von Amts wegen) kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt werde. Unter einem erließ es gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und erließ gegen ihn gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG wegen seiner Mittellosigkeit ein auf die Dauer von fünf Jahren befristetes Einreiseverbot. Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG erkannte es einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab.

4Noch am selben Tag wurde über den Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung verhängt.

5Mit Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom wurde für den Revisionswerber, wegen der Gefahr, dass er seine fremdenrechtlichen Angelegenheiten aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung seiner Entscheidungsfähigkeit nicht ohne Nachteil für sich selbst besorgen kann, mit sofortiger Wirkung gemäß § 120 AußStrG eine Rechtsanwältin als einstweilige Erwachsenenvertreterin bestellt.

6Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom wurde im Schubhaftverfahren des Revisionswerbers aus Anlass der von der einstweiligen Erwachsenenvertreterin bzw. deren Vertretung erhobenen Beschwerde gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 FPG festgestellt, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Trotz massiver Hinweise auf die Fluchtgefahr des Revisionswerbers erachtete das BVwG die Fortsetzung der Schubhaft unter Berücksichtigung seiner zweifellos nicht bloß geringfügigen intellektuellen Beeinträchtigung und der absehbaren Anhaltedauer von mehreren Monaten als unverhältnismäßig.

7Auch gegen den unter Rn. 3 erwähnten Bescheid wurde im Wege der einstweiligen Erwachsenenvertreterin für den Revisionswerber Beschwerde erhoben. Darin wurde ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt und unter anderem vorgebracht, das vom BFA durchgeführte Ermittlungsverfahren sei mangelhaft geblieben, weil die Behörde aufgrund des auffälligen Verhaltens des Revisionswerbers - der im Rahmen seiner niederschriftlichen Einvernahme am zum Teil nicht einmal antworten habe können - verpflichtet gewesen wäre, sich mit seinen aktuellen Lebensumständen, insbesondere seinen verfügbaren Barmitteln, seiner Wohnmöglichkeit im Bundesgebiet, Grund und Dauer seines Aufenthaltes sowie mit seinem offensichtlich beeinträchtigten Geisteszustand auseinander zu setzen.

8Dieser Beschwerde gab das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis vom - ohne Durchführung der beantragten Verhandlung - nur insoweit statt, als es die Dauer des Einreiseverbotes auf zwei Jahre herabsetzte. Im Übrigen wies es die Beschwerde „gemäß § 57 AsylG, § 10 Abs. 2 AsylG iVm § 9 und 18 Abs. 2 BFA-VG, § 52 Abs. 1 Z 1 und Abs. 9 FPG, § 46 FPG, § 55 Abs. 4 FPG“ als unbegründet ab.

9Begründend führte das BVwG aus, der unbescholtene Revisionswerber habe im Bundesgebiet - mit Ausnahme der Aufenthalte in Polizeianhaltezentren - nie über eine Hauptwohnsitzmeldung verfügt. Er habe in Österreich keine familiären oder sonstigen engen sozialen Bindungen, gehe keiner Erwerbstätigkeit nach und habe keinen Nachweis über vorhandene Deutschkenntnisse erbracht. Demgegenüber habe der Revisionswerber in seinem Herkunftsstaat den überwiegenden und prägenden Teil seines Lebens verbracht, weshalb es ihm als „volljährigen, gesunden Mann ohne besonderen Schutzbedarf problemlos möglich“ wäre, in der Russischen Föderation wieder „Fuß zu fassen“. Vor diesem Hintergrund bestehe keine existenzbedrohende Situation bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat. Die Interessen der Republik Österreich an der Wahrung eines geordneten Fremdenwesens überwögen daher die persönlichen Interessen des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet.

10Bei der für das Einreiseverbot vorzunehmenden Gefährdungsprognose stützte sich das BVwG auf den Umstand, dass der Revisionswerber im Sinne des § 53 Abs. 2 Z 6 FPG den Besitz hinreichender, aus legalen Quellen stammender Geldmittel nicht nachweisen habe können und gegen ihn eine Anzeige wegen unrechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet gemäß § 120 Abs. 1a FPG vorliege. Allerdings sei die Ausschöpfung der fünfjährigen Höchstfrist vor dem Hintergrund bloß der Mittellosigkeit und einer begangenen Verwaltungsübertretung unverhältnismäßig. Insbesondere unter Berücksichtigung der strafgerichtlichen Unbescholtenheit sei ein Einreiseverbot von zwei Jahren angemessen, um den Wegfall der vom Revisionswerber ausgehenden Gefährdung zu erwarten.

11Von der Durchführung einer Verhandlung habe abgesehen werden können, da der Sachverhalt vom BFA vollständig erhoben worden sei und nach wie vor die gebotene Aktualität aufweise. Aus dem Amtswissen des BVwG hätten sich keine Hinweise auf eine Änderung der entscheidungsmaßgeblichen Situation ergeben. Das in der Beschwerde erstattete Vorbringen sei bloß unsubstanziiert gewesen, insbesondere sei keine im Fall der Rückkehr drohende Gefährdungslage konkret dargelegt worden. Im Hinblick auf das Fehlen eines schützenswerten Familienlebens oder einer außergewöhnlichen Integration sei die Verschaffung eines persönlichen Eindrucks nicht erforderlich gewesen.

12Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

13Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

14Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt, weil das BVwG - wie in der Zulässigkeitsbegründung der Revision aufgezeigt wird - von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat, obwohl der entscheidungswesentliche Sachverhalt, insbesondere im Hinblick auf den Gesundheitszustand des Revisionswerbers, nicht feststand.

15Zwar kann - worauf sich das BVwG auch gestützt hat - nach § 21 Abs. 7 BFA-VG trotz Vorliegens eines darauf gerichteten Antrages von der Durchführung einer Beschwerdeverhandlung abgesehen werden, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt bereits aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint. Allerdings muss nach den in der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dazu entwickelten Kriterien, der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen (vgl. etwa , Rn. 9, mwN).

16Im vorliegenden Fall hatte der Revisionswerber in der Beschwerde ausreichend konkret vorgebracht, bei seiner Einvernahme durch das BFA offensichtlich psychisch beeinträchtigt gewesen zu sein. Im Hinblick auf die Aktenlage, wonach für den Revisionswerber mit Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom eine einstweilige Erwachsenenvertreterin bestellt und die Fortsetzung der Schubhaft vom BVwG mit Erkenntnis vom unter maßgeblicher Berücksichtigung des Geisteszustandes des Revisionswerbers als unverhältnismäßig qualifiziert wurde, hätte das BVwG die völlig unzureichenden Angaben des Revisionswerbers bei seiner damaligen Einvernahme durch das BFA nicht zum Inhalt seiner Feststellungen machen dürfen. Die Revision macht, wie auch schon die Beschwerde, zu Recht geltend, es hätte einer ergänzenden Befragung des Revisionswerbers zu seiner Aufenthaltsdauer in Österreich und seinen diesbezüglichen Lebensumständen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung bedurft. Insbesondere ist vor dem Hintergrund des - ausgehend von der Aktenlage - anzunehmenden beeinträchtigten Geisteszustandes des Revisionswerbers nicht nachvollziehbar, weshalb das BVwG - mag der Revisionswerber sich selbst auch als „gesund“ bezeichnet haben - zu dem Ergebnis kommen konnte, dass es sich bei ihm um einen „gesunden Mann ohne besonderen Schutzbedarf“ handelt, dem ohne weiteres eine Existenzgründung bei der Rückkehr nach Russland möglich wäre.

17Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b und c VwGG aufzuheben war.

18Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021210035.L00

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