VwGH vom 19.05.2022, Ra 2021/19/0325
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision der E K, vertreten durch Mag. Marguerita Sedrati-Müller, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Schottenring 19, als bestellte Verfahrenshelferin, diese vertreten durch Dr. Erich Gemeiner, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Apostelgasse 36/10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W129 2243538-1/2E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Die Revisionswerberin, eine syrische Staatsangehörige, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte sie vor, wegen des Krieges in Syrien in den Libanon gegangen zu sein, um dort ihren Magistertitel zu erwerben. Ihr Aufenthaltstitel sei jedoch nicht verlängert worden und man habe ihr gedroht, sie nach Syrien abzuschieben. Bei einer Rückkehr in ihre Heimat befürchte sie, von bewaffneten Gruppen entführt oder vergewaltigt zu werden.
2Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag der Revisionswerberin hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab, erkannte ihr den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu und erteilte ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigte.
3In der ausschließlich gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhobenen Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) brachte die Revisionswerberin vor, die Einvernahmesituation vor dem BFA sei für sie sehr einschüchternd gewesen, da der anwesende männliche Dolmetscher sie in einem scharfen Ton angewiesen habe, nicht im Detail auf Fragen zu antworten. Zu ihrer Einstellung gegenüber dem Assad-Regime und zu möglichen Gründen, warum ihr eine oppositionelle Gesinnung durch das Assad-Regime unterstellt werden könnte, sei sie nicht befragt worden, ebenso wenig im Detail zu ihren weiteren Rückkehrbefürchtungen. Aus einem unter dem in der Beschwerde angegebenen Link auf Youtube verfügbaren Video, das Demonstrationen durch Zivilisten in Damaskus zeige, in welchem die Revisionswerberin die einleitenden Worte spreche, ergebe sich die oppositionelle bzw. journalistische Tätigkeit der Revisionswerberin. Die Revisionswerberin befürchte außerdem, wie bereits in der Erstbefragung angegeben, als alleinstehende, unverheiratete Frau im Fall einer Rückkehr durch die diversen bewaffneten Akteure oder das Regime in Syrien entführt und vergewaltigt zu werden. Die Revisionswerberin beantragte in der Beschwerde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
4Das BVwG wies die Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG aus, dass die Revision nicht zulässig sei. Die Entscheidung erfolgte durch einen Richter männlichen Geschlechts.
5Begründend führte das BVwG - soweit für das gegenständliche Verfahren relevant - aus, die Revisionswerberin habe die Befürchtung geschildert, entführt oder vergewaltigt zu werden. Diese von der Revisionswerberin in den Raum gestellte Gefahr sei von ihr nicht näher konkretisiert, sondern nur allgemein zu Protokoll gegeben worden. Es sei daher davon auszugehen, dass die Revisionswerberin eine abstrakte Angst zum Ausdruck gebracht habe. Eine konkrete individuelle Gefahr habe nicht festgestellt werden können. Die Revisionswerberin habe erstmals in ihrer Beschwerde - in Steigerung ihres bisherigen Vorbringens - vorgebracht, dass sie in Syrien durch Weiterleitung von Fotos und Videos von Demonstrationen in arabischsprachigen Medien oder grafische Gestaltung von zwei politischen Facebook-Kanälen politisch bzw. oppositionell tätig gewesen sei, und sie eine Reflexverfolgung befürchte, weil ihr Vater und ihr Bruder entführt und wieder freigelassen worden seien. Auch das in der Beschwerde angeführte Youtube-Video einer Demonstration vermöge eine Verfolgung nicht glaubhaft zu machen. Das verspätete und gesteigerte Vorbringen könne vor dem Hintergrund, dass die Revisionswerberin bei ihren Einvernahmen ausreichend Gelegenheit dazu gehabt habe, diese Ereignisse darzulegen, lediglich als Versuch gewertet werden, ihrem bisherigen Vorbringen einen zusätzlichen, besonders relevanten Aspekt hinzuzufügen. Die Abstandnahme von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung begründete das BVwG unter Berufung auf § 21 Abs. 7 BFA-VG.
6Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobene außerordentliche Revision nach Einleitung des Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit zusammengefasst vor, das BVwG habe entgegen der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Verhandlungspflicht keine mündliche Verhandlung durchgeführt, zumal die belangte Behörde ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren durchgeführt habe und die Beweiswürdigung der belangten Behörde von der Revisionswerberin nicht unsubstantiiert bestritten worden sei.
8Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.
9Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG dann gerechtfertigt, wenn der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben wurde und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweist. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das BVwG die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet worden sein, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt (vgl. dazu grundlegend , sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa , mwN).
10Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er gemäß § 20 Abs. 1 AsylG 2005 von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen. Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt § 20 Abs. 1 AsylG 2005 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs. 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen (§ 20 Abs. 2 AsylG 2005).
11Der Verwaltungsgerichtshof hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bereits ausgeführt, dass die Verhandlungsführung gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 schon dann durch Personen desselben Geschlechts durchzuführen ist, wenn die Flucht aus dem Heimatstaat nicht mit bereits stattgefundenen, sondern mit Furcht vor sexuellen Übergriffen begründet wurde (vgl. , sowie , mwN; ).
12Nach dem Zweck des § 20 Abs. 2 AsylG 2005 soll die Durchführung der mündlichen Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Gleiches gilt für die Furcht vor Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung (vgl. erneut VwGH Ra 2014/18/0161; , Ra 2020/19/0002; jeweils mwN).
13Im vorliegenden Fall übersetzte bei der Einvernahme der Revisionswerberin durch das BFA ein männlicher Dolmetscher. In der Einvernahme hielt das BFA der Revisionswerberin vor, sie habe bei ihrer Erstbefragung angegeben, im Falle einer Rückkehr Furcht vor Vergewaltigung sowie Entführung durch bewaffnete Gruppierungen zu haben und befragte die Revisionswerberin, ob sie diese Angaben aufrecht halte, was die Revisionswerberin bejahte. Die Revisionswerberin gründete somit schon vor der belangten Behörde ihre Furcht vor Verfolgung auf einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung im Sinne des § 20 Abs. 1 AsylG 2005.
14Aus § 20 Abs. 1 AsylG 2005 ergab sich somit bereits im Verfahren vor dem BFA die Notwendigkeit, die Revisionswerberin im Beisein eines weiblichen Dolmetschers einzuvernehmen, da die Revisionswerberin anderes nicht verlangt hatte (vgl. zur Notwendigkeit der Beiziehung eines weiblichen Dolmetschers ; ).
15Da die Einvernahme der Revisionswerberin durch das BFA entgegen § 20 Abs. 1 AsylG 2005 nicht im Beisein eines weiblichen Dolmetschers erfolgte, führte das BFA kein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durch. Schon aus diesem Grund lagen die Voraussetzungen für das Absehen von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG durch das BVwG nicht vor.
16Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und - wie hier - des Art. 47 GRC zur Aufhebung der gerichtlichen Entscheidung, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. etwa , mwN).
17Indem das BVwG von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand nahm, ohne dass die Voraussetzungen des § 21 Abs. 7 BFA-VG vorlagen, belastete es das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften.
18Das angefochtene Erkenntnis ist allerdings auch mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes behaftet, die vom Verwaltungsgerichtshof vorrangig aufzugreifen ist. Dem steht nicht entgegen, dass die Ausführungen der Revision zu ihrer Zulässigkeit eine Abweichung des angefochtenen Erkenntnisses von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (nach dem Gesagten zutreffend) in Bezug auf die Voraussetzungen für das Absehen von der mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, nicht aber in Bezug auf die Frage der Entscheidungszuständigkeit des Verwaltungsgerichtes ins Treffen geführt hat, weil der Verwaltungsgerichtshof im Fall einer zulässigen Revision nicht auf jene Rechtsfragen beschränkt ist, die zur Zulässigkeit vorgebracht wurden (vgl. , mwN).
19Soweit § 20 Abs. 2 AsylG 2005 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung abstellt, hat bereits der Verfassungsgerichtshof klargestellt, dass eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde geltend macht, gleich bei Beschwerdeanfall und nicht erst dann, wenn sich nach dessen Prüfung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als notwendig erweist, einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zur Behandlung zuzuweisen ist, sofern der Asylwerber nicht anderes verlangt. Andernfalls würde nämlich der ursprünglich zuständige Richter eine inhaltliche Entscheidung treffen, die nach der - verfassungsrechtlich zutreffenden - Festlegung des Gesetzgebers nur das entsprechend der Behauptung des Asylwerbers betreffend einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung von Anfang an richtig zusammengesetzte Organ des BVwG treffen darf. Die Zuständigkeit wird also bereits durch die entsprechende Behauptung vor dem BFA oder in der Beschwerde begründet, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit zu erfolgen hätte oder bereits ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen herzustellen wäre (vgl. , mit Verweis auf ua).
20Im vorliegenden Fall wiederholte die Revisionswerberin in ihrer Beschwerde ihre bereits in der Einvernahme vor dem BFA dargelegte Furcht vor sexueller Gewalt im Herkunftsstaat. Die Revisionswerberin verlangte in ihrer Beschwerde auch keine Einvernahme durch einen (männlichen) Richter gemäß § 20 Abs. 1 iVm Abs. 2 erster Satz AsylG 2005. Die Beschwerde hätte daher bereits bei Beschwerdeanfall einer Richterin zugewiesen werden müssen.
21Ein Verstoß gegen § 20 Abs. 2 AsylG 2005 durch das BVwG kann vor dem Verwaltungsgerichtshof als Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes geltend gemacht werden. Die Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes ist im vorliegenden Fall aufgrund der Zulässigkeit der Revision von Amts wegen wahrzunehmen. Eine Relevanzdarstellung ist nicht erforderlich (vgl. erneut VwGH Ra 2014/18/0161).
22Da das BVwG somit nicht in der nach § 20 Abs. 2 AsylG 2005 vorgeschriebenen Besetzung entschieden hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen - vorrangig wahrzunehmender - Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichtes aufzuheben.
23Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 19. Mai 202219. Mai 2022
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190325.L00 |
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