VwGH vom 16.03.2022, Ra 2021/19/0083
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Büsser sowie den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Dr. Funk-Leisch als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Seiler, über die Revision 1. der Z S, 2. des N S, und 3. der S S, alle vertreten durch Dr. Claudia Stoitzner, Rechtsanwältin in 1060 Wien, Mariahilfer Straße 45/5/36, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , 1. W161 2237626-1/2E, 2. W161 2237624-1/2E und 3. W161 2237625-1/2E, betreffend Einreisetitel nach § 35 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Österreichische Botschaft Islamabad), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von Euro 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
1Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter des minderjährigen Zweitrevisionswerbers und der minderjährigen Drittrevisionswerberin. Die Revisionswerber sind afghanische Staatsangehörige. Am machten sie bei der Österreichischen Botschaft Islamabad (in der Folge: Vertretungsbehörde) Eingaben in Hinblick auf die Erteilung von Einreisetiteln nach § 35 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005). Als Bezugsperson gaben sie ihren Ehemann bzw. Vater an, welchem mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden sei.
2Mit Bescheid vom wies die Vertretungsbehörde, diese Eingaben offenkundig als Anträge gemäß § 35 AsylG 2005 wertend, die Anträge der Revisionswerber ab.
3Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG den gegen eine abweisende Beschwerdevorentscheidung der Vertretungsbehörde erhobenen Vorlageantrag der Revisionswerber als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
4Das BVwG stellte, soweit hier maßgeblich, fest, die Revisionswerber hätten erstmals am bei der Vertretungsbehörde Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln nach § 35 AsylG 2005 gestellt. Diese Verfahren seien am eingestellt worden, da einem Verbesserungsauftrag nicht entsprochen worden sei. Am hätten die Revisionswerber neuerlich (die gegenständlichen) Anträge auf Erteilung von Einreisetiteln gestellt.
5Rechtlich folgerte das BVwG, die Antragstellung sei mehr als drei Monate nach Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die Bezugsperson erfolgt. Daher seien die Erteilungsvoraussetzungen nach § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 zu prüfen. Diese seien jedoch nicht erfüllt, da weder eine für eine vergleichbar große Familie ortsübliche Unterkunft noch ausreichende Mittel zur Bestreitung des Lebensunterhaltes, sodass der Aufenthalt nicht zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könne, nachgewiesen worden seien. Die Stattgebung der Anträge sei auch nicht im Sinn des § 35 Abs. 4 Z 3 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens dringend geboten. Eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien, falle für die Revisionswerber negativ aus. Es sei zu berücksichtigen, dass die Bezugsperson nach dreijährigem Zusammenleben mit der Erstrevisionswerberin bereits seit dem Jahr 2014 von seiner Familie getrennt lebe und aktuell nicht in der Lage sei, eine vierköpfige Familie zu ernähren. Art. 8 EMRK verlange nicht, dass in allen Fällen der Familienzusammenführung jedenfalls der Status des Asylberechtigten oder subsidiär Schutzberechtigten zu gewähren sei. Vielmehr werde im Regelfall ein Aufenthaltstitel nach dem Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) in Betracht kommen, welches den Weg für einwanderungswillige Drittstaatsangehörige zur Erlangung eines Aufenthaltstitels darstelle (Hinweis u.a. auf die Möglichkeit der Familienzusammenführung nach § 46 NAG).
6Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende (außerordentliche) Revision, welche das Verwaltungsgericht unter Anschluss der Verfahrensakten vorlegte.
7Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Durchführung des Vorverfahrens, in welchem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8Die Revision ist zulässig, weil sie zutreffend vorbringt, das BVwG habe sich nicht mit dem Vorbringen der Revisionswerber zu ihren Anträgen aus dem Jahr 2017 befasst. Sie ist auch begründet.
9Die Begründung eines Erkenntnisses des Verwaltungsgerichts hat nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes jenen Anforderungen zu entsprechen, die in seiner Rechtsprechung zu den §§ 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Danach erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheids geführt haben.
10Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben.
11Das Verwaltungsgericht hat neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhalts erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen (vgl. etwa , mwN).
12Diesen Anforderungen wird das angefochtene Erkenntnis nicht gerecht:
13Die Revisionswerber haben in einer Stellungnahme vom im verwaltungsbehördlichen Verfahren geltend gemacht, dass über ihre Anträge vom noch nicht entschieden worden sei. Erst auf Nachfrage sei der Bezugsperson mit E-Mail der Vertretungsbehörde vom mitgeteilt worden, dass diese Verfahren mangels Erfüllung eines Verbesserungsauftrages eingestellt worden seien und den Revisionswerbern, wenn sie neue Anträge stellen wollten, ein neuer Vorsprachetermin weitergeleitet werden könne. Auf Grund dieser „falschen Rechtsauskunft“ hätten die Revisionswerber bei der Vertretungsbehörde den „vermeintlichen Antrag“ vom gestellt. In den auf Grund der Anträge vom eingeleiteten Verfahren seien bislang keine Bescheide erlassen worden, die auf Grund dieser Anträge eingeleiteten Verfahren seien nach wie vor offen und die Anträge vom bloß als „weitere Eingabe“ zu werten. Da die Anträge vom innerhalb von drei Monaten nach der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die Bezugsperson gestellt worden seien, seien die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 von den Revisionswerbern nicht zu erfüllen.
14In ihrer Beschwerde gegen den Bescheid der Vertretungsbehörde vom wiederholten die Revisionswerber dieses Vorbringen unter Bezugnahme auf ihre Stellungnahme vom .
15Sowohl im Bescheid der Vertretungsbehörde vom also auch im angefochtenen Erkenntnis wird über dieses Vorbringen der Revisionswerber begründungslos hinweggegangen. Das BVwG stellte lediglich fest, dass das auf Grund der Anträge der Revisionswerber vom eingeleitete Verfahren eingestellt worden sei, weil einem Verbesserungsauftrag nicht entsprochen worden wäre, und wertete die Eingaben der Revisionswerber vom offenkundig als (neue) verfahrenseinleitende Anträge gemäß § 35 AsylG 2005.
16Dieser Verfahrensmangel war auch entscheidungsrelevant. Nach den Feststellungen des BVwG erfolgte die (erste) Antragstellung am und somit innerhalb von drei Monaten nach rechtskräftiger Zuerkennung des Status des Asylberechtigten an die Bezugsperson mit Erkenntnis des BVwG vom , weswegen bei einer Entscheidung über diese Anträge, sollten sie noch nicht erledigt sein, die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2 Z 1 bis 3 AsylG 2005 gemäß § 35 Abs. 1 letzter Satz AsylG 2005 nicht zu erfüllen wären.
17Das BVwG wird sich im fortzusetzenden Verfahren daher mit dem diesbezüglichen Vorbringen der Revisionswerber auseinanderzusetzen und Feststellungen zu den Anträgen vom zu treffen haben, und zwar insbesondere zum erwähnten „Verbesserungsauftrag“ (vgl. zur Mängelbehebung in einer Visumsangelegenheit ) sowie zur Frage, ob und in welcher Form die Anträge vom erledigt wurden. Ausgehend davon wird sich das BVwG damit auseinanderzusetzen haben, ob es sich bei den Eingaben der Revisionswerber vom etwa (in Entsprechung des „Verbesserungsauftrages“) um die Behebung von Mängeln der Anträge vom , um weitere (eine Entscheidungspflicht der Behörde nicht neu auslösende) Eingaben im Rahmen des noch anhängigen Verfahrens oder etwa um neue verfahrenseinleitende Anträge gemäß § 35 AsylG 2005 handelte (vgl. zur Möglichkeit einer neuen Antragstellung ).
18Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
19Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Hinsichtlich des Ausmaßes des zuerkannten Ersatzes ist auf das Antragsprinzip gemäß § 59 VwGG, wonach ziffernmäßig verzeichnete Kosten nur in der beantragten Höhe zuzusprechen sind, zu verweisen (vgl. , mwN), sodass den Revisionswerbern lediglich der begehrte Schriftsatzaufwand von EUR 1.106,40 zuzusprechen war. Das Mehrbegehren auf Zuspruch von 15 % Streitgenossenzuschlag findet in den anwendbaren Bestimmungen keine Deckung und war daher abzuweisen (vgl. , mwN).
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021190083.L00 |
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