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VwGH vom 28.03.2022, Ra 2021/18/0421

VwGH vom 28.03.2022, Ra 2021/18/0421

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des E S, vertreten durch Mag. Georg Bürstmayr, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Hahngasse 25/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W257 2185251-1/14E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Anfechtungsumfang (Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger aus der Provinz Ghandi, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz, den er zuletzt u.a. damit begründete, Atheist geworden zu sein, diese Überzeugung auch in sozialen Medien öffentlich vertreten zu haben und deshalb bei Rückkehr Verfolgung zu befürchten.

2Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte es mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

4Begründend führte das BVwG aus, der Revisionswerber habe „den Glaubensabfall vom Islam nicht derart verinnerlicht, dass sich dieser in seiner inneren Einstellung derart manifestiert hätte, dass [er] es dem [Revisionswerber] unmöglich [mache], mit seiner Ansicht im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan leben zu können". Dem Revisionswerber sei wohl zuzumuten, seine Überzeugung und Gedanken für sich zu behalten. Dass er dies könne, ohne mit den staatlichen Behörden in Berührung zu kommen, habe er bereits jahrelang in Afghanistan unter Beweis gestellt. Er habe auch nicht den Eindruck erweckt, aus innerer Überzeugung von einer Religion abgefallen zu sein. Durch seine Aussage habe er das Gefühl vermittelt, dass er im Zuge eines Reifeprozesses zu einem religiös desinteressierten Menschen geworden sei. In diesem Desinteresse sei aber noch keine Bindung zu einer inneren Einstellung zum Atheismus zu sehen. Dies, obwohl er durchaus den Eindruck einer intelligenten und gebildeten Person mache, die sich mit der Wissenschaft und der Philosophie auseinandersetze, weshalb er zum Schluss gekommen sei, dass es Gott nicht gebe. Dadurch habe er aber nicht zum Ausdruck gebracht, dass er seine atheistische Einstellung so sehr verinnerlicht habe, dass ihm eine Rückkehr nach Afghanistan unzumutbar wäre. Es könne von keiner tiefgründigen inhaltlichen Auseinandersetzung mit den atheistischen Inhalten ausgegangen werden. Er habe auch keinen konkreten Anlass für den Abfall vom Glauben angeben können. Dass der Revisionswerber in Afghanistan atheistische Lehren verbreiten würde, sei insbesondere aufgrund seiner kognitiven Fähigkeiten [erkennbar gemeint: seiner intellektuellen Fähigkeiten, in Afghanistan ein unauffälliges Leben im Rahmen der dortigen Sitten und Gebräuche zu führen] nicht anzunehmen. Im Übrigen werde nicht verkannt, dass sich der Revisionswerber in sozialen Netzwerken kritisch über die Sicherheitslage in Afghanistan geäußert habe, jedoch sei aus diesen Kommentaren eher eine politische Unzufriedenheit des Revisionswerbers zu erkennen. Eine antiislamische Geisteshaltung aufgrund seiner atheistischen Überzeugung sei diesen Kommentaren jedoch nicht zu entnehmen. Das BVwG wies zudem darauf hin, dass dem Revisionswerber eine innerstaatliche Fluchtalternative in einer afghanischen Großstadt offenstehe, weil in diesen der religiöse Einfluss viel geringer sei als in ländlichen Regionen.

5Dagegen erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof. Mit Erkenntnis vom , E 3300/2021-8, hob der Verfassungsgerichtshof die angefochtene Entscheidung in Bezug auf die Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten und die darauf aufbauenden Spruchpunkte wegen Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art. 2 EMRK sowie im Recht gemäß Art. 3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, auf. Im Übrigen lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab und trat sie über nachträglichen Beschluss vom , E 3300/2021-10, dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

6Die vorliegende außerordentliche Revision wendet sich nur mehr gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und macht zur Zulässigkeit zusammengefasst geltend, das BVwG habe in Hinblick auf den vom Revisionswerber geltend gemachten Nachfluchtgrund der Apostasie widersprüchliche Feststellungen zu seiner religiösen Überzeugung getroffen. Insbesondere wendet sich die Revision gegen die Beweiswürdigung zur Feststellung, dass der Revisionswerber die atheistische Überzeugung nicht verinnerlicht habe, sowie gegen die Ausführungen zu den auf Facebook veröffentlichten Postings, weil sie grobe Begründungsmängel aufwiesen. Unter Beachtung der vom BVwG getroffenen Feststellungen zu den Folgen von Kritik am Islam, Apostasie und Blasphemie sei davon auszugehen, dass dem Revisionswerber aufgrund seines Abfalls vom Islam asylrelevante Verfolgung drohe.

7Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9Die Revision erweist sich als zulässig und berechtigt.

10Der Verwaltungsgerichtshof hat unter Hinweis auf das Y und Z, C-71/11 und C-99/11, bereits erkannt, dass eine begründete Furcht des Antragstellers vor asylrelevanter Verfolgung vorliegt, sobald nach Auffassung der zuständigen Behörden im Hinblick auf die persönlichen Umstände des Antragstellers vernünftigerweise anzunehmen ist, dass er nach Rückkehr in sein Herkunftsland religiöse Betätigungen vornehmen wird, die ihn der tatsächlichen Gefahr einer Verfolgung aussetzen. Der EuGH hat in der zitierten Entscheidung in den Rechtssachen Y und Z auch ausdrücklich hervorgehoben, dass die Behörden bei der individuellen Prüfung eines Antrags auf Anerkennung als Flüchtling dem Antragsteller nicht zumuten können, auf diese religiöse Betätigung zu verzichten, um eine Verfolgung zu vermeiden (Rn. 78 f) (vgl. , mwN). Nichts anderes kann gelten, wenn - wie im vorliegenden Fall - die „religiösen Betätigungen“ darin liegen, den im Herkunftsstaat vorgeschriebenen Glauben nicht leben zu wollen, sondern sich - eben gerade durch das Unterlassen (erwarteter) religiöser Betätigungen - zu seiner Konfessionslosigkeit zu bekennen (vgl. , mwN).

11Die Tatsache, dass einem Asylwerber im Herkunftsstaat etwa aufgrund eines Gesetzes über Apostasie eine Todes- oder Freiheitsstrafe droht, kann für sich genommen - wie der EuGH in seinem Urteil vom , Bahtiyaar Fathi, C-56/17, Rn. 94 bis 96, präzisiert hat - eine „Verfolgung“ im Sinne von Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie darstellen, sofern eine solche Strafe in dem Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird (vgl. erneut , mwN). Neben einer strafrechtlichen Verfolgung durch die staatlichen Behörden kommen auch andere Verfolgungshandlungen nach Art. 9 der Statusrichtlinie durch Akteure im Sinne von Art. 6 der Statusrichtlinie in Betracht, vor denen die Sicherheitsbehörden des Herkunftsstaates nicht schützen können oder wollen (vgl. erneut , mwN).

12Der Verwaltungsgerichtshof ist zwar zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Allgemeinen nicht berufen. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG liegt - als Abweichung von der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes - allerdings dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die im Einzelfall vorgenommene Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat.

13Die Beweiswürdigung ist damit nur insofern einer Überprüfung durch den Verwaltungsgerichtshof zugänglich, als es sich um die Schlüssigkeit dieses Denkvorganges (nicht aber die konkrete Richtigkeit) handelt bzw. darum, ob die Beweisergebnisse, die in diesem Denkvorgang gewürdigt wurden, in einem ordnungsgemäßen Verfahren ermittelt worden sind. Unter Beachtung dieser Grundsätze hat der Verwaltungsgerichtshof auch zu prüfen, ob das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Beweiswürdigung alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. , mwN).

14Im angefochtenen Erkenntnis führte das BVwG aus, der Revisionswerber sei nicht aus innerer Überzeugung von einer Religion abgefallen. Aus dem Desinteresse gegenüber Religionen könne keine Bindung zu einer inneren Einstellung zum Atheismus abgeleitet werden. Der Revisionswerber habe sich nicht tiefergehend mit atheistischen Inhalten auseinandergesetzt.

15Die Revision macht zu Recht geltend, dass diese Ausführungen des BVwG nicht mit den Aussagen des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung übereinstimmen und nicht durchwegs nachvollziehbar sind. So führte das BVwG in Hinblick auf die Ausführungen des Revisionswerbers in der Verhandlung an, der Revisionswerber habe den Eindruck vermittelt, sich im Zuge eines Reifungsprozesses zu einem religiös desinteressierten Menschen entwickelt zu haben und hielt ausdrücklich fest, dass sich der Revisionswerber mit Wissenschaft und Philosophie auseinandergesetzt habe und aus diesem Grund zum Schluss gekommen sei, dass es Gott nicht gebe. An weiterer Stelle führte das BVwG aus, dass der Revisionswerber - tiefergehend befragt - seine Ansichten vortragen habe können, warum er nicht an Gott glaube und Religionen in seinem Leben keinen Platz hätten. Weshalb das BVwG trotzdem vermeinte, der Revisionswerber habe „nicht zum Ausdruck gebracht, dass er seine atheistische Einstellung“ verinnerlicht habe, wird nicht hinreichend nachvollziehbar begründet.

16Die Revision rügt ebenso zu Recht, dass sich das BVwG nur unzureichend mit den islamkritischen Aktivitäten des Revisionswerbers auf Facebook auseinandergesetzt hat. Den zahlreichen im Verfahren vorgelegten Postings, die der Revisionswerber auf Facebook veröffentlichte, wobei ein Beitrag auch in der Verhandlung von einem Dolmetscher übersetzt und näher erörtert wurde, sind eindeutig eine ablehnende Haltung des Revisionswerbers gegenüber dem Islam und eine Verurteilung von damit in Zusammenhang stehenden gewalttätigen Handlungen sowie der Zerstörung von unterschiedlichen Werken, welche mit religiösen Motiven begründet werden, zu entnehmen. Die Schlussfolgerungen des BVwG, wonach der Revisionswerber sich in seinen Postings lediglich kritisch über die Sicherheitslage in Afghanistan geäußert und keine atheistische Glaubenshaltung veröffentlicht habe, finden im Inhalt dieser Kommentare des Revisionswerbers in den sozialen Netzwerken somit keine Deckung, weshalb dem angefochtenen Erkenntnis auch insoweit Begründungsmängel anhaften.

17Darüber hinaus wird von der Revision zutreffend angeführt, dass das BVwG die vorgelegten Referenzschreiben unzureichend berücksichtigt hat. Das BVwG verwies zwar im Zusammenhang mit der Beurteilung der Integration des Revisionswerbers bei Prüfung der Rückkehrentscheidung auf diese Schreiben. Die inhaltlichen Angaben, welche die in seinem Umfeld allseits bekannte atheistische Haltung des Revisionswerbers bestätigen, blieben jedoch in der Beweiswürdigung des BVwG in Hinblick auf die gelebte Glaubenspraxis des Revisionswerbers unberücksichtigt.

18Im Übrigen erweisen sich auch die Ausführungen des BVwG, wonach dem Revisionswerber zuzumuten sei, seine Überzeugung und Gedanken für sich zu behalten, was er in der Vergangenheit auch bereits jahrelang unter Beweis gestellt habe, als rechtlich verfehlt, weil das BVwG den Revisionswerber damit unzulässig auf das „forum internum“ verweist und damit von der hg. Rechtsprechung abweicht (vgl. erneut , mwN).

19Zudem ist darauf hinzuweisen, dass schon aufgrund der vorangegangenen aufhebenden Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom , E 3300/2021-8, nicht davon ausgegangen werden kann, dass der Revisionswerber einer Verfolgung durch Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative im Sinne des § 11 Abs. 1 AsylG 2005 entgehen könnte. Warum in den in Aussicht genommenen afghanischen Großstädten dem Revisionswerber aufgrund der behaupteten Apostasie keine Verfolgungsgefahr drohen sollte, hat das BVwG des weiteren - ohne näheren Bezug auf entsprechende Länderfeststellungen - lediglich in den Raum gestellt.

20Das angefochtene Erkenntnis war daher vorrangig gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

21Der Kostenausspruch gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180421.L00

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