VwGH vom 10.03.2022, Ra 2021/18/0321

VwGH vom 10.03.2022, Ra 2021/18/0321

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Dr. Sutter als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision der revisionswerbenden Parteien 1. M A, 2. F A, und 3. H A, alle vertreten durch Mag.a Sarah Moschitz-Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Schießstattgasse 30/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , 1. W220 2175349-1/27E, 2. W220 2175345-1/24E und 3. W220 2175347-1/13E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Afghanistans aus der Provinz Parwan, Angehörige der Volksgruppe der Hazara und der schiitischen Glaubensgemeinschaft. Der Erstrevisionswerber und die Zweitrevisionswerberin sind die Eltern des minderjährigen und in Österreich geborenen Drittrevisionswerbers.

2Sie stellten am bzw. für den Drittrevisionswerber nach dessen Geburt im September 2016 Anträge auf internationalen Schutz. Als Fluchtgrund brachten sie im Wesentlichen vor, dass der Onkel der Zweitrevisionswerberin gewollt habe, dass sie seinen Sohn heirate. Dies habe sie abgelehnt und sei stattdessen mit dem Erstrevisionswerber zusammengekommen, aus Afghanistan geflüchtet und habe mit ihm ein Kind bekommen. Es sei „Brauch“, dass Mädchen bei einem derartigen Verhalten gesteinigt werden würden. Die Zweitrevisionswerberin habe in Afghanistan keine Freiheiten und Rechte gehabt.

3Mit Bescheiden vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge der revisionswerbenden Parteien zur Gänze ab, erteilte ihnen keine Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen sie Rückkehrentscheidungen, stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte jeweils eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.

4Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das BVwG - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung an zwei Terminen - die dagegen erhobene Beschwerde der revisionswerbenden Parteien als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

5Begründend führte das BVwG, soweit hier maßgeblich, aus, dass das Vorbringen, der Onkel der Zweitrevisionswerberin habe sie mit seinem Sohn zwangsverheiraten wollen, nicht glaubhaft sei. Wenngleich durchaus denkbar sei, dass die Zweitrevisionswerberin an ihrem Herkunftsort in der Provinz Parwan in Afghanistan Einschränkungen unterworfen gewesen sei und dort keine Zukunft für sich gesehen habe, so sei in einer Gesamtschau nicht glaubhaft, dass sie gegen ihren Willen mit einem anderen Mann verlobt und mit einer Zwangsheirat bedroht worden sei bzw. sich einer solchen widersetzt bzw. entzogen habe, um stattdessen eine außereheliche Lebensgemeinschaft mit dem Erstrevisionswerber einzugehen; eine Bedrohung der revisionswerbenden Parteien bei einer Rückkehr nach Afghanistan aus diesem Grund sei sohin nicht ersichtlich.

6Des Weiteren kam das BVwG zu dem Schluss, dass die Zweitrevisionswerberin keine Lebensweise angenommen habe, aufgrund derer sie in Afghanistan Verfolgung zu befürchten hätte. Zu einer möglichen Rückkehr der revisionswerbenden Parteien in den Herkunftsstaat führte das BVwG aus, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass ihnen in ihrer Herkunftsprovinz Parwan ein Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit drohe. Für das Jahr 2020 werde die Sicherheitslage in der Provinz Parwan als „nicht stabil“ bezeichnet. Aufständische, insbesondere Taliban, seien in einigen Distrikten präsent, es komme immer wieder zu bewaffneten Zusammenstößen. Den revisionswerbenden Parteien sei jedoch eine Ansiedlung in der Stadt Kabul möglich und zumutbar.

7Gegen das angefochtene Erkenntnis erhoben die revisionswerbenden Parteien zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der dieses mit Erkenntnis vom , E 974-976/2021, im Umfang der Nichtzuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten samt den rechtlich davon abhängenden Aussprüchen aufhob.

8Begründend führte der Verfassungsgerichtshof aus, das BVwG habe das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Kabul für die revisionswerbenden Parteien, eine vulnerable Familie, nicht hinreichend dargelegt.

9Betreffend die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten lehnte der Verfassungsgerichtshof die Behandlung der Beschwerde ab und trat sie mit Beschluss vom dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung ab.

10In der Folge wurde die vorliegende Revision gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten eingebracht die zur Zulässigkeit und in der Sache u.a. vorbringt, das BVwG übersehe, dass die Zweitrevisionswerberin ausgehend von den dem Erkenntnis zugrundeliegenden Länderberichten ihren aktuellen Lebensstil in ihrem Herkunftsstaat bzw. in ihrer Herkunftsregion nicht aufrecht erhalten könnte, ohne verfolgt zu werden.

11Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

12Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

13Die Revision ist zulässig und begründet.

14Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können Frauen Asyl beanspruchen, die aufgrund ihres „westlich“ orientierten Lebensstils bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat verfolgt würden. Gemeint ist damit eine von ihnen angenommene Lebensweise, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt. Voraussetzung ist, dass diese Lebensführung zu einem solch wesentlichen Bestandteil der Identität der Frauen geworden ist, dass von ihnen nicht erwartet werden kann, dieses Verhalten im Heimatland zu unterdrücken, um einer drohenden Verfolgung wegen Nichtbeachtung der herrschenden politischen und/oder religiösen Normen zu entgehen. Dabei kommt es nicht darauf an, dass diese Verfolgung von staatlichen Organen im Herkunftsland ausgeht. Auch eine private Verfolgung kann insoweit maßgeblich sein, als der Heimatstaat nicht gewillt oder in der Lage ist, Schutz vor solcher Verfolgung zu gewähren (vgl. , mwN).

15Aufgrund der aufhebenden Entscheidung des Verfassungsgerichtshofes vom kann im gegenständlichen Fall nicht zugrundegelegt werden, dass die revisionswerbenden Parteien einer allfälligen Verfolgung in ihrer Herkunftsprovinz Parwan durch Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (etwa in der afghanischen Hauptstadt) im Sinne des § 11 Abs. 1 AsylG 2005 entgehen könnten.

16Um das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgung insbesondere der Zweitrevisionswerberin beurteilen zu können, hätte sich das BVwG somit, wie es die Revision zutreffend aufzeigt, auf Basis konkreter Feststellungen zur aktuellen Lebensweise der Zweitrevisionswerberin sowie Heranziehung aktueller Länderberichte damit auseinandersetzen müssen, wie es der Zweitrevisionswerberin erginge, wenn sie in ihrer Herkunftsregion den im Entscheidungszeitpunkt gelebten Lebensstil führen würde (vgl. , mwN).

17Zu diesem aktuellen Lebensstil hat das BVwG der Zweitrevisionswerberin zugestanden, von den in Österreich - im Gegensatz zu Afghanistan - zukommenden Freiheiten teilweise Gebrauch zu machen, indem sie kein Kopftuch mehr trage, sich schminke und modisch kleide, allein aus dem Haus gehe und sportlich aktiv sei, indem sie etwa schwimmen gehe und Mitglied eines Fitnessclubs sei. Es hat festgestellt, dass die Zweitrevisionswerberin derzeit den Hauptschulabschluss mache und in Österreich einen Beruf ausüben sowie den Führerschein machen wolle. Es wurde ihr auch geglaubt, drei Monate vom Erstrevisionswerber getrennt gelebt zu haben, um „Abstand“ zu gewinnen, was für „eine gewisse Selbständigkeit“ ihrerseits spreche.

18Aus alledem ergebe sich nach Auffassung des BVwG aber nicht, dass die Zweitrevisionswerberin eine Lebensweise pflegen würde, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung ihrer Grundrechte zum Ausdruck käme. Ihre Lebensweise verstoße nicht in einer solchen Form gegen die sozialen Normen in Afghanistan, dass sie als gegen die sozialen Sitten sowie gegen religiöse und politische Normen verstoßend und die Zweitrevisionswerberin „exponierend“ wahrgenommen würde.

19Bei diesen Erwägungen legte das BVwG offensichtlich vor allem die Lebensverhältnisse von einzelnen Frauen in afghanischen Großstädten zugrunde, die aber fallbezogen - wie gezeigt - nicht zu beurteilen sind. Entscheidend ist vielmehr, wie es der Zweitrevisionswerberin bei Fortsetzung nunmehrigen Lebensstils, in dem auch nach Auffassung des BVwG die Inanspruchnahme ihrer Grundrechte zum Ausdruck kommt, in ihrer Herkunftsprovinz erginge. Die Annahme des BVwG, ihr tatsächlich gelebter Lebensstil verstoße nicht in solcher Weise gegen die dortigen religiösen und politischen Normen bzw. die sozialen Sitten, dass ihr deshalb Verfolgung drohen könnte, steht in einem unaufgeklärten Spannungsverhältnis zu den getroffenen Länderfeststellungen.

20In Bezug auf die Lage von Frauen weisen die dem Erkenntnis zugrunde liegenden Länderfeststellungen aus, dass die Lage der Frauen innerhalb der Stadt nicht mit den Lebensbedingungen der Bewohnerinnen ländlicher Teile der Provinz verglichen werden könnten. Daher müsse die Lage von Frauen in Bezug auf das jeweilige Gebiet betrachtet werden. Bezüglich der Behandlung von Frauen insbesondere in ländlichen Gebieten könne grundsätzlich kein großer Unterschied zwischen Taliban und allgemeiner Bevölkerung verzeichnet werden, und sei Gewalt gegenüber Frauen sehr oft auch innerhalb der Familien gebräuchlich. Auch Zwangsverheiratungen seien noch weit verbreitet; die Durchsetzung eines solche Praktiken verbietenden Gesetzes sei limitiert. Zur Berufstätigkeit von Frauen wird festgehalten, in den meisten ländlichen Gemeinschaften seien konservative Einstellungen nach wie vor präsent und viele Frauen würden aus Furcht vor sozialer Ächtung keiner Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen. In den meisten Teilen Afghanistans sei es Tradition, dass Frauen und Mädchen selten außerhalb des Hauses gesehen oder gehört werden. Frauen berichteten weiterhin, mit Missgunst konfrontiert zu sein, wenn sie nach beruflicher oder finanzieller Unabhängigkeit streben würden - sei es von konservativen Familienmitgliedern, Hardlinern islamischer Gruppierungen oder gewöhnlichen afghanischen Männern. Betreffend die Reisefreiheit von Frauen dokumentieren die im Erkenntnis enthaltenen Länderberichte schließlich, dass Frauen sich grundsätzlich, abgesehen von großen Städten wie Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif, nicht ohne einen männlichen Begleiter in der Öffentlichkeit bewegen könnten.

21Eine fallbezogene Auseinandersetzung damit, wie es der Zweitrevisionswerberin vor dem Hintergrund dieser Länderfeststellungen erginge, wenn sie in ihrer Herkunftsregion Parwan den im Entscheidungszeitpunkt gelebten Lebensstil führen würde, ist das BVwG im angefochtenen Erkenntnis schuldig geblieben (vgl. dazu im Übrigen auch ).

22Das angefochtene Erkenntnis war daher hinsichtlich der Zweitrevisionswerberin wegen prävalierender Rechtswidrigkeit des Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Der Umstand, dass ein Erkenntnis eines Familienangehörigen aufgehoben wird, schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die übrigen Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidungen (vgl. , mwN). Eine etwaige asylrelevante Verfolgung der Zweitrevisionswerberin würde im Familienverfahren somit auch zu einer Gewährung des Status von Asylberechtigten an die erst- und drittrevisionswerbenden Parteien führen.

23Die Kostenentscheidung gründet sich auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180321.L00

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