VwGH vom 18.11.2021, Ra 2021/18/0286

VwGH vom 18.11.2021, Ra 2021/18/0286

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer sowie die Hofräte Mag. Nedwed, Dr. Sutter, Mag. Tolar und die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des A M, vertreten durch DDr. Rainer Lukits als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W167 2176749-1/36E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. den Beschluss gefasst:

Die Revision wird, soweit sie sich gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten wendet, zurückgewiesen.

II. zu Recht erkannt:

Im Übrigen wird das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger der paschtunischen Volksgruppe aus der Provinz Kunar, beantragte am internationalen Schutz und begründete seine Flucht aus Afghanistan u.a. damit, von den Taliban zwangsrekrutiert worden zu sein, jedoch die Flucht ergriffen zu haben. Bei Rückkehr fürchte er deshalb um sein Leben.

2Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diesen Antrag - in Bestätigung eines entsprechenden Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom  - zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest. Die Revision erklärte das BVwG für nicht zulässig.

3Begründend erachtete das BVwG das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers aus näher dargestellten Gründen für nicht glaubhaft, weshalb ihm kein Asyl zu gewähren sei. Zum subsidiären Schutz führte das BVwG aus, eine Rückkehr des Revisionswerbers in seine Herkunftsprovinz komme aufgrund der dortigen Sicherheitslage bzw. mangels deren sicherer Erreichbarkeit derzeit nicht in Betracht. Dem Revisionswerber stünde aber eine zumutbare innerstaaatliche Fluchtalternative in den afghanischen Städten Mazar-e Sharif und Herat zur Verfügung.

4Den Parteien des Verfahrens seien die in den Feststellungen genannten Länderinformationen (nach der Verhandlung am ) am schriftlich mit der Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme zur Kenntnis gebracht worden (Darunter befand sich insbesondere das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan aus dem COI-CMS, Version 4 - veröffentlicht am ). Der Revisionswerber habe dazu mit Schreiben vom ein Vorbringen erstattet, welches jedoch zu keiner geänderten Beurteilung führe. Der vom Revisionswerber monierten amtswegigen Ermittlungspflicht sei das BVwG durch Einbringung der angeführten aktuellen Länderinformationen nachgekommen; ergänzend werde auf die aktuelle Kurzinformation der Staatendokumentation vom eingegangen. Damit werde auch der monierten mangelnden Aktualität der Länderinformationen entgegengetreten.

5Der Kurzinformation der Staatendokumentation, Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, Stand , welche eine Ergänzung zum Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Version 4 darstelle, sei zu entnehmen, dass es seit dem Beginn des Abzugs der US-Truppen und anderer Koalitionskräfte am zu mehr Kampfhandlungen als in den Monaten davor gekommen sei. Nach Einschätzung des Long War Journals vom kontrollierten die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan. Zudem hätten die Taliban im Juli wichtige Grenzübergänge erobert. Nach Angaben des US-Präsidenten Biden werde der Truppenabzug am abgeschlossen sein, die USA würden weiterhin zivile und humanitäre Hilfe leisten. Es komme weiterhin zu Angriffen auf und gezielte Tötungen von Zivilisten, wobei v.a. Mitarbeiter des Gesundheitswesens, humanitärer Organisationen, Menschenrechtsverteidiger und Journalisten Ziel einer Welle von Tötungen gewesen seien. Laut Berichten sei der Juni 2021 der tödlichste Monat mit den meisten militärischen und zivilen Opfern seit 20 Jahren gewesen. Damit werde jedoch - so das BVwG weiter - insbesondere für die Städte Mazar-e Sharif und Herat keine Änderung der Situation beschrieben. Festgehalten werde auch, dass aktuell die Flughäfen von Mazar-e Sharif und Herat angeflogen würden.

6Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die das angefochtene Erkenntnis in seinem gesamten Umfang bekämpft.

7In Bezug auf die Nichtgewährung von Asyl macht die Revision in der Zulässigkeitsbegründung geltend, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, wonach das individuelle Vorbringen eines Asylwerbers zu seinen Fluchtgründen auch mit der dafür maßgeblichen Berichtslage in Beziehung zu setzen und vor diesem Hintergrund zu würdigen sei. Außerdem seien die Voraussetzungen nach § 3 AsylG 2005 für den Zeitpunkt der Entscheidung zu beurteilen. Die asylrelevante Bedrohungs- und Gefährdungslage habe sich seit der mündlichen Verhandlung für den Revisionswerber wesentlich geändert, dies aus mehreren Gründen: Er habe sich einer Zwangsrekrutierung durch die Taliban durch Flucht entzogen; er habe bei den ausländischen Feinden in Europa Schutz gesucht und habe fünf Jahre in Europa gelebt. Somit laufe er Gefahr, durch die Taliban verfolgt zu werden, weil er vom Glauben abgefallen sei, die Taliban „verraten“ habe und als Spion der Feinde betrachtet werde.

8Zur Nichtgewährung des subsidiären Schutzes macht die Revision - auf das Wesentliche zusammengefasst - geltend, dass das BVwG zu Unrecht von einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat ausgegangen sei. Das BVwG habe am eine mündliche Verhandlung durchgeführt, die Entscheidung aber nicht sofort getroffen. In der Folge habe der Revisionswerber am unter Hinweis auf einschlägige Medienberichte eine schriftliche Stellungnahme erstattet, in der er u.a. auf die sich verschlechternde Sicherheitslage in Afghanistan, insbesondere auch im Bereich der Städte Mazar-e Sharif und Herat hingewiesen habe. Die afghanischen Truppen hätten in den letzten Wochen zunehmend Gebiete und ganze Provinzen durch eine durchorganisierte und vernetzte Offensive der Taliban verloren. Darauf gehe das BVwG in seiner Entscheidungsbegründung nicht näher ein und es habe auch zu Unrecht eine Fortsetzung der Verhandlung unterlassen.

9Wenn das BVwG argumentiere, dass auch die Kurzinformation der Staatendokumentation vom keine Änderung der Situation in den Städten Mazar-e Sharif und Herat beschrieben habe, verschweige das BVwG die enorme Dynamik der Lageveränderung, wie sie aus dem Bericht der Staatendokumentation hervorgehe. Dort heiße es etwa, dass es den Taliban gelungen sei, innerhalb eines Zeitraums vom bis (40 Tage) die Kontrolle von zuvor 90 Distrikten auf nunmehr 223 auszudehnen. Damit werde deutlich, wie rasch der Kontroll- und Machtverlust der staatlichen Sicherheitskräfte in Afghanistan aktuell von statten gehe. Auch die Ursachen für den staatlichen Machtverfall lägen auf der Hand: Die afghanischen Streitkräfte seien nur gering motiviert; wegen des schlechten Zustandes und der mangelhaften Ausbildung der afghanischen Armee würden die Aussichten, dass es zu einer Gegenoffensive der afghanischen Armee komme, als durchwegs schlecht beschrieben (Hinweis auf einschlägige Medienberichte). Insgesamt stehe dem Revisionswerber u.a. deshalb keine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung.

10Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.

11Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zu I.:

12In Bezug auf die Nichtgewährung des Status des Asylberechtigten entfernt sich die Revision von den Sachverhaltsfeststellungen des BVwG, wonach das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers (Flucht nach Zwangsrekrutierung durch die Taliban; Gefährdung wegen seines Aufenthalts im westlichen Ausland) nicht glaubhaft sei. Zu diesen Feststellungen gelangte das BVwG in einer ausführlichen Beweiswürdigung, die auf die Steigerung des Vorbringens im Laufe des Verfahrens, die auffallend allgemein gehaltenen Angaben ohne Details und die mangelnde Plausibilität der angeblichen Flucht aus dem Ausbildungslager verwies. Die mangelnde Rückkehrgefährdung bei mehrjährigem Aufenthalt in Europa und im westlichen Ausland stützte das BVwG auf einschlägige Länderberichte.

13Dass eine Bezugnahme auf Hintergrundberichte zur realen Lage in Afghanistan zu einer anderen beweiswürdigenden Beurteilung des individuellen Vorbringens des Revisionswerbers führen hätte können, vermag die Revision nicht hinreichend darzutun. Mangels glaubhafter Gegnerschaft des Revisionswerbers zu den Taliban zeigt die Revision auch nicht auf, dass die Einschätzung des BVwG in Bezug auf eine nicht vorhandene asylrelevante Rückkehrgefährdung - trotz mehrjährigem Aufenthalt in Österreich - fehlerhaft erfolgt wäre. Insbesondere legt sie nicht dar, inwieweit - entgegen der Beurteilung des BVwG - aufgrund der aktuellen Ereignisse in Afghanistan eine geänderte Beurteilung Platz greifen müsste.

14Die Revision enthält somit kein geeignetes Vorbringen, das ihre Zulässigkeit im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG entgegen dem Ausspruch des BVwG begründen könnte (vgl. zu diesem Erfordernis § 28 Abs. 3 VwGG) und war daher insoweit gemäß § 34 Abs. 1 VwGG wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen des Art. 133 Abs. 4 B-VG zurückzuweisen.

Zu II.:

15Zulässig und begründet ist die Revision in Bezug auf die Bekämpfung der Nichtzuerkennung von subsidiärem Schutz und die darauf aufbauenden weiteren Spruchpunkte des angefochtenen Erkenntnisses.

16Das BVwG verweist den Revisionswerber hinsichtlich seines Begehrens auf subsidiären Schutz auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in den afghanischen Städten Herat und/oder Mazar-e Sharif.

17Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt dargelegt, welche Kriterien erfüllt sein müssen, um von einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative im Sinne des § 11 AsylG 2005 sprechen zu können:

18§ 11 Abs. 1 AsylG 2005 legt als Voraussetzungen für die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative fest, dass dem Asylwerber in einem Teil seines Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden und ihm der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden kann. Schutz ist nach dem zweiten Satz dieser Norm gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8 Abs. 1 AsylG 2005) in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

19Mit dieser Norm macht der österreichische Asylgesetzgeber von der in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) eröffneten Möglichkeit Gebrauch, dem Asylwerber keinen internationalen Schutz zu gewähren, sofern er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung hat oder keine tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, besteht (lit. a) oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung oder ernsthaftem Schaden gemäß Art. 7 Statusrichtlinie hat (lit. b), und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

20§ 11 AsylG 2005 unterscheidet nach seinem klaren Wortlaut zwei getrennte und selbständig zu prüfende Voraussetzungen der innerstaatlichen Fluchtalternative. Zum einen ist zu klären, ob in dem als innerstaatliche Fluchtalternative ins Auge gefassten Gebiet Schutz vor asylrechtlich relevanter Verfolgung und vor Bedingungen, die nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 die Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden, gegeben ist. Demgemäß verbietet sich die Annahme, der Schutz eines Asylwerbers sei innerstaatlich zumindest in einem Teilgebiet gewährleistet, jedenfalls dann, wenn in dieser Region Verhältnisse herrschen, die Art. 2 oder 3 EMRK widersprechen.

21Darüber hinaus muss es dem Asylwerber möglich sein, im Gebiet der innerstaatlichen Fluchtalternative nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.

22Ob dies der Fall ist, erfordert eine Beurteilung der allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsstaat und der persönlichen Umstände des Asylwerbers. Es handelt sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (vgl. zum Ganzen grundlegend , mwN).

23Weiters ist auf die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu verweisen, wonach das BVwG bei seiner Entscheidung die zum Entscheidungszeitpunkt aktuellen Länderberichte zugrunde legen muss, wobei zu beachten ist, dass bei instabilen und sich rasch ändernden Verhältnissen im Herkunftsstaat auch zeitlich nicht lange zurückliegende Berichte ihre Aktualität bereits verloren haben können (vgl. etwa , mwN).

24Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in seiner Judikatur zur Verhandlungspflicht des BVwG auch, dass die Aktualisierung der Länderfeststellungen durch das Verwaltungsgericht, die eine zusätzliche Beweiswürdigung erfordert, grundsätzlich nur nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung erfolgen darf (vgl. etwa , mwN). Dies gilt auch dann, wenn sich nach der mündlichen Verhandlung relevante Sachverhaltsänderungen ergeben, die in einer weiteren Verhandlung zu erörtern gewesen wären (vgl. etwa - argumentum e contrario - , mwN).

25Vor dem Hintergrund dieser Rechtsprechung ist auch der gegenständliche Fall zu betrachten:

26Das BVwG hat in der gegenständlichen Rechtssache am eine mündliche Verhandlung durchgeführt. Die Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis hat es allerdings tragend auf Länderberichte gestützt, die erst nach der mündlichen Verhandlung in das Verfahren eingeführt worden sind. Dies gilt vor allem für das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan aus dem COI-CMS, Version 4 - veröffentlicht am , das dem Revisionswerber nach der mündlichen Verhandlung nur zum schriftlichen Parteiengehör zur Verfügung gestellt wurde. Der Revisionswerber hatte dazu am eine substantiierte Stellungnahme abgegeben und unter Bezugnahme auf aktuelle Medienberichte eine zwischenzeitliche dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage mit Auswirkungen insbesondere auch auf die als innerstaatliche Fluchtalternative herangezogenen Städte geltend gemacht. Dem trat das BVwG in seiner Entscheidung beweiswürdigend entgegen und führte einen weiteren Länderbericht (nämlich die Kurzinformation der Staatendokumentation zur Entwicklung der Sicherheitslage in Afghanistan, Stand: ) in seine Erwägungen ein, ohne diesen mit den Parteien des Verfahrens zu erörtern. Diese Vorgehensweise war ohne Durchführung einer weiteren mündlichen Verhandlung nach der oben zitierten hg. Rechtsprechung nicht zulässig.

27Ungeachtet dessen erweist sich die Einschätzung des BVwG zum Vorhandensein einer zumutbaren innerstaatlichen Fluchtalternative aber auch auf der Grundlage der von ihm verwerteten Länderberichte rechtlich als nicht nachvollziehbar:

28Der Verfassungsgerichtshof hat in einer jüngst ergangenen Entscheidung zu einem Erkenntnis des BVwG vom , in dem ein afghanischer Asylwerber auf eine innerstaatliche Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat verwiesen worden war, erkannt, dass das Verwaltungsgericht den Beschwerdeführer dadurch im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Leben gemäß Art. 2 EMRK sowie im Recht gemäß Art. 3 EMRK, nicht der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen zu werden, verletzt habe. Zusammengefasst führte der Verfassungsgerichtshof dazu aus, schon im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom sei nicht nur von einer vielfach befürchteten massiven Verschlechterung der Sicherheitslage im Falle des Abzuges der internationalen Truppen berichtet worden, sondern auch darüber, dass sich die Sicherheitslage nach dem erfolgten Truppenabzug tatsächlich stetig verschlechtert habe. In der Kurzinformation der Staatendokumentation vom werde zudem darüber berichtet, dass „die Taliban 223 der 407 Distrikte in Afghanistan“ kontrollierten. Zudem seien „die Distriktzentren nur mehr in vier Provinzen vollständig in Regierungshand“. Weiters seien im Juli „wichtige Grenzübergänge zu Turkmenistan und Iran, beide in der Provinz Herat sowie zu Usbekistan in der Provinz Balkh durch die Taliban“ erobert worden. Darüber hinaus komme es weiterhin zu „gezielten Angriffen auf Zivilisten“. Auf dieser Grundlage gelangte der Verfassungsgerichtshof zu der Auffassung, dass aufgrund der länderberichtlichen Informationen vom , insbesondere aber aufgrund der Kurzinformation der Staatendokumentation vom (und der zum Entscheidungszeitpunkt des BVwG verfügbaren, breiten medialen Berichterstattung) spätestens ab von einer extremen Volatilität der Sicherheitslage in Afghanistan auszugehen gewesen sei, sodass jedenfalls eine Situation vorgelegen habe, die den dortigen Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Afghanistan einer realen Gefahr einer Verletzung seiner verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechte gemäß Art. 2 und 3 EMRK aussetzen würde (, Rn. 18 bis 20).

29Diese Einschätzung teilt der Verwaltungsgerichtshof auch für den gegenständlichen Fall, in dem das BVwG (im angefochtenen Erkenntnis vom ) unter Bezugnahme auf die oben angeführten Berichte von einer innerstaatlichen Fluchtalternative in den Städten Mazar-e Sharif und Herat ausgegangen ist. Dies, obwohl schon der einleitende Kommentar der Kurzinformation der Staatendokumentation vom darauf verwies, dass „aufgrund der sich laufenden ändernden Situation ... es mit dem COI-CMS [Country of Origin Information - Content Management System der Staatendokumentation] allein ... nicht mehr möglich [sei,] eine adäquate und zeitnahe Aufbereitung der benötigten Informationen zu gewährleisten“. Dass das BVwG, wie dieser einleitende Kommentar nahelegt, zusätzliche Informationen in seine Überlegungen einbezogen hätte, ist nicht zu erkennen.

30Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem zitierten Erkenntnis ausgeführt hat, decken die verwerteten Länderberichte (insbesondere die Ausführungen in der Kurzinformation der Staatendokumentation vom ) nicht die rechtliche Einschätzung des BVwG, für die Städte Mazar-e Sharif und Herat (die in den Provinzen Balkh und Herat liegen) habe sich die Sicherheitslage nicht verändert, weshalb dort eine innerstaatliche Fluchtalternative gegeben sei. Das BVwG hat auch nicht begründet, warum speziell für den Revisionswerber (und anders als in dem vom Verfassungsgerichtshof beurteilten Fall) eine Situation bestehen sollte, in der er von der deutlich verschlechterten Sicherheitslage, wie sie den herangezogenen Berichten zu entnehmen war, nicht betroffen sein könnte.

31Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

32Der Kostenausspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021180286.L01

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