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VwGH vom 24.03.2022, Ra 2021/18/0249

VwGH vom 24.03.2022, Ra 2021/18/0249

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer, den Hofrat Mag. Nedwed und die Hofrätin Dr.in Gröger als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des S N, vertreten durch Mag. Robert Igali-Igalffy, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Landstraßer Hauptstraße 34, als einstweiliger gerichtlicher Erwachsenenvertreter, dieser vertreten durch Mag.a Brigitte Sammer, Rechtsanwältin in 1030 Wien, Schwarzenbergplatz 7, als bestellte Verfahrenshelferin, diese wiederum vertreten durch Dr. Christian Schmaus, Rechtsanwalt in 1060 Wien, Chwallagasse 4/11, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W276 2205593-1/29E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein afghanischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich, den er im Wesentlichen auf Verfolgung durch die Taliban in seiner Heimatprovinz Paktia stützte.

2Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zur Gänze ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei, legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest und erließ ein sechsjähriges Einreiseverbot.

3Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

4Begründend erachtete das BVwG unter anderem das Fluchtvorbringen des Revisionswerbers als nicht glaubhaft, sowohl was seine Verfolgung durch die Taliban betreffe als auch eine individuell gegen den Revisionswerber gerichtete Verfolgung in Bezug auf seine psychische Erkrankung. Beim Revisionswerber lasse sich aktuell keine psychiatrische Erkrankung erkennen. Es seien psychische Störungen und Verhaltensstörungen durch Cannabinoide vorgelegen. Der weitere Verlauf der aktuell nachlassenden psychotischen Störung könne nicht prognostiziert werden. Problematisch sei die Therapietreue des Revisionswerbers und seine Entschlossenheit, keine Medikamente einzunehmen. Eine Rückführung hätte darauf aber keine gesonderte Auswirkung. Näher bezeichnete Antipsychotika wären im Heimatland verfügbar. Vor seiner Ausreise habe er zumindest ein Jahr bei Verwandten in Kabul gelebt. Effektive ärztliche Versorgung sei für ihn in Kabul erreichbar; eine unzumutbare Verschlechterung seines Gesundheitszustandes sei nicht zu erwarten, es drohe keine Verletzung von Art. 3 EMRK.

5An der Prozess- und Handlungsfähigkeit des Revisionswerbers würden trotz des anhängigen Prüfverfahrens zur Bestellung einer gerichtlichen Erwachsenenvertretung keine Zweifel bestehen. Nach dem persönlichen Eindruck des erkennenden Richters sei er vollständig orientiert gewesen, habe sämtliche an ihn gestellten Fragen verstanden und sinnentsprechende Antworten auf die Fragen geben können. Er habe ausdrücklich erklärt, dass es ihm gut gehe und er sich geistig und körperlich in der Lage sehe, an der Verhandlung teilzunehmen.

6Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Zu ihrer Zulässigkeit wird zusammengefasst geltend gemacht, das BVwG habe seine Ermittlungspflicht zur Prozess- und Handlungsfähigkeit des Revisionswerbers schon im Hinblick auf das verwaltungsbehördliche Verfahren, aber insbesondere auch betreffend das Verfahren vor dem BVwG, verletzt. Für den Revisionswerber sei mit Beschluss des Bezirksgerichtes Hernals vom ein einstweiliger Erwachsenenvertreter zur „Vertretung im Asylverfahren bzw. gegenüber BBU GmbH“ bestellt worden. Das BVwG hätte sich außerdem mit der Stellungnahme des Revisionswerbers auseinandersetzen müssen, mit der er dem vom BVwG zu den psychischen Beschwerden des Revisionswerbers eingeholten Sachverständigengutachten entgegengetreten sei. Der Revisionswerber würde bei einer Rückkehr in sein Heimatland aufgrund seines Krankheitsbildes in eine ausweglose Situation geraten.

7Das BFA hat keine Revisionsbeantwortung erstattet.

8Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem nach § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9Die Revision ist zulässig und begründet.

10Die Frage der prozessualen Handlungsfähigkeit (Prozessfähigkeit) einer Partei ist gemäß § 9 AVG - wenn in den Verwaltungsvorschriften nichts anderes bestimmt ist - nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Damit wird die prozessuale Rechts- und Handlungsfähigkeit an die materiell-rechtliche Rechts- und Handlungsfähigkeit geknüpft. Hierfür ist entscheidend, ob die Partei im Zeitpunkt der betreffenden Verfahrensabschnitte in der Lage war, Bedeutung und Tragweite des Verfahrens sowie der sich aus ihm ereignenden prozessualen Vorgänge zu erkennen, zu verstehen und sich den Anforderungen eines derartigen Verfahrens entsprechend zu verhalten, was neben den von ihr gesetzten aktiven Verfahrenshandlungen auch Unterlassungen erfasst. Das Fehlen der Prozessfähigkeit ist nach § 9 AVG als Vorfrage in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen. Die Behörde hat somit bei Zweifeln über die Handlungsfähigkeit des Betroffenen die Frage von Amts wegen zu prüfen und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren - in der Regel durch Einholung eines Sachverständigengutachtens - zu führen.

11Der Beschluss über die Bestellung eines Erwachsenenvertreters hat konstitutive Wirkung und führt ab seiner Erlassung - innerhalb des Wirkungskreises des Erwachsenenvertreters - zur eingeschränkten Geschäfts- und Handlungsfähigkeit des Betroffenen. Selbige Überlegungen gelten auch für einen mit sofortiger Wirkung gemäß § 120 AußStrG bestellten einstweiligen Erwachsenenvertreter. Über den Zeitraum vor der Erwachsenenvertreterbestellung ist aus dem Umstand einer solchen Bestellung zu gewinnen, dass sich begründete Bedenken gegen die in Rede stehenden Fähigkeiten der betreffenden Person ergeben (vgl. zum Ganzen etwa ).

12Auch wenn die Prozessfähigkeit des Revisionswerbers zum Zeitpunkt des Behördenverfahrens noch gegeben gewesen sein mag - aus den Ausführungen des Erkenntnisses im Zusammenhang mit dem psychiatrischen Gutachten ergeben sich vermehrte Behandlungen ab 2020 - kann der bloße Umstand, dass er selbst angegeben hat, zur Einvernahme fähig zu sein, die von der Revision berechtigt aufgezeigten Bedenken an seiner Prozessfähigkeit nicht entkräften. Die Vertretung des Revisionswerbers durch die BBU GmbH kann dabei seine allenfalls erforderliche Vertretung durch einen Erwachsenenvertreter nicht substituieren. Das BVwG hätte weitere Erhebungen zur Frage tätigen müssen, ob der Revisionswerber bereits vor der Bestellung des einstweiligen Erwachsenenvertreters noch jene persönlichen Fähigkeiten besessen hat, die für die Wirksamkeit von Verfahrensschritten ihm gegenüber erforderlich sind. Weder wurden der im Verfahren vor dem BVwG bestellten Sachverständigen für Psychiatrie und Psychotherapie ergänzende Fragen zur Prozessfähigkeit des Revisionswerbers gestellt, noch das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Bezirksgerichtes Hernals unterbrochen (zur Möglichkeit der Aussetzung bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage durch das zuständige Gericht vgl. , Rz 19).

13Im fortgesetzten Verfahren wird sich das BVwG darüber hinaus nach der Einholung aktueller Länderberichte mit der sich konkret für den Revisionswerber ergebenden Situation in seinem Heimatland aufgrund seiner psychischen Probleme und Drogenabhängigkeit auseinanderzusetzen haben.

14Das angefochtene Erkenntnis war somit wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

15Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021180249.L00

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