VwGH 05.07.2021, Ra 2021/17/0060
Entscheidungsart: Erkenntnis
Rechtssätze
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RS 1 | Gemäß § 38 VwGVG gilt im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteivorbringen und -anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Betreffend die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte ist festzuhalten, dass gemäß Art. 130 Abs. 4 erster Satz B-VG (s. auch § 50 VwGVG) in Verwaltungsstrafsachen das Verwaltungsgericht immer in der Sache selbst entscheidet, woraus folgt, dass in Verwaltungsstrafverfahren dem Verwaltungsgericht in jedem Fall auch die Befugnis und Verpflichtung zu allenfalls erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zukommt (vgl. , mwN). Betreffend die Ermittlung des Sachverhaltes bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen ohne Rücksicht auf Vorträge, Verhalten und Behauptungen der Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. Der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht das Prinzip der materiellen (objektiven) Wahrheit, welcher es verbietet, den Entscheidungen einen bloß formell (subjektiv) wahren Sachverhalt zu Grunde zu legen. Der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Verwaltungsgerichte, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze II² E 4 zu § 25 VStG). In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können. Die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen. Auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das Verwaltungsgericht nicht seiner aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst - soweit das möglich ist - für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen (vgl. insgesamt erneut , mwN). |
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RS 2 | Wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, ist eine Beschlagnahme nach § 53 Abs. 1 GSpG nur dann zulässig, wenn ein ausreichend substantiierter Verdacht vorliegt, dass mit Glücksspielgeräten oder sonstigen Eingriffsgegenständen, mit denen in das Glücksspielmonopol des Bundes eingegriffen wird, fortgesetzt oder wiederholt gegen Bestimmungen des § 52 Abs. 1 GSpG verstoßen wird. Nicht erforderlich ist dabei zwar, dass die Übertretung des Gesetzes zum Zeitpunkt der Beschlagnahme bereits erwiesen ist (z.B. , oder auch , jeweils mwN), jedoch erfordert die Überprüfung eines Beschlagnahmebescheids jedenfalls Feststellungen über die Art des Spiels, weil ansonsten eine Überprüfung der rechtlichen Beurteilung nicht möglich ist. Hiezu ist die ansatzweise Darstellung des Spielablaufes erforderlich (vgl. nochmals , mwN, oder auch bereits , sowie , 2008/17/0009). Die konkrete Beurteilung eines ausreichend substantiierten Verdachts hängt dabei von den Umständen des Einzelfalles ab und obliegt dem Verwaltungsgericht (vgl. , oder auch , Ra 2017/17/0476, mwN) im Rahmen seiner Verpflichtung zur amtswegigen Wahrheitserforschung. Dabei können Dokumentationen von Probespielen, aber auch - insbesondere, wenn solche fehlen - Zeugenaussagen oder andere Beweismittel, die sich auch allenfalls bereits aus dem behördlichen Verwaltungsakt ergeben können, herangezogen werden. |
Hinweis auf Stammrechtssatz | GRS wie Ra 2019/17/0066 E RS 1 |
Entscheidungstext
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer und den Hofrat Mag. Berger sowie die Hofrätin Dr. Koprivnikar als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kovacs, über die Revision des Bundesministers für Finanzen gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichtes Niederösterreich vom , LVwG-S-571/001-2019, betreffend Beschlagnahme nach dem Glücksspielgesetz (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Lilienfeld; mitbeteiligte Partei: S s.r.o., vertreten durch Mag. Wolfgang Moser, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wächtergasse 1/11), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Begründung
1 1. Mit Bescheid vom ordnete die belangte Behörde gegenüber der mitbeteiligten Partei infolge einer in einem näher bezeichneten Lokal durchgeführten glücksspielrechtlichen Kontrolle gemäß § 53 Abs. 1 Z 1 lit. a Glücksspielgesetz - GSpG die Beschlagnahme von sieben näher bezeichneten Geräten an.
2 2.1. Das Landesverwaltungsgericht Niederösterreich (LVwG) gab der von der Mitbeteiligten erhobenen Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis hinsichtlich des Gerätes FA 7 (Einzahlungsgerät) Folge und behob den Beschlagnahmebescheid in diesem Umfang (Spruchpunkt 1.). Mit Spruchpunkt 2. erklärte es eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG gegen dieses Erkenntnis für nicht zulässig. Darüber hinaus wies das LVwG (erneut mit einem Spruchpunkt 1.) mit dem mit diesem Erkenntnis verbundenen Beschluss die Beschwerde der mitbeteiligten Partei hinsichtlich der übrigen Geräte als unzulässig zurück und erklärte mit Spruchpunkt 2. eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG gegen diesen Beschluss für nicht zulässig.
3 2.2. Begründend führte das LVwG nach Wiedergabe des Verfahrensganges aus, bei der genannten Kontrolle seien die näher bezeichneten Gegenstände in einem Lokal vorgefunden worden. Um das Einzahlungsgerät verwenden zu können, sei eine Prepaidkarte notwendig; zur Aufbuchung von Bargeld sei eine Registrierung notwendig. Die Organe der Finanzpolizei hätten dieses Gerät am Kontrolltag nicht bedient. Das Gerät sei kein Glücksspielautomat und stehe im Eigentum der mitbeteiligten Partei. Diese baue die Geräte in Ungarn und verkaufe sie in der Folge für Aufstellungsplätze mit hoher Kundenfrequenz, vermiete sie oder stelle sie gratis auf. In letzterem Fall verdiene die Gesellschaft an „Serviceleistungen“ oder dem Verkauf von Prepaidkarten. Die Gesellschaft erhalte Aufzeichnungen, dass Transaktionen durchgeführt würden, habe aber keine Einflussmöglichkeit darauf, wofür der Kunde die Karte verwende. Die Firma M überweise der S s.r.o. Beträge für die Transaktionen. Die Prepaidkarten würden von der S s.r.o. einzeln in einem Kuvert an verschiedene Handelspartner zu € 10,-- zuzgl. USt. verkauft und in der Folge von diesen an die Endabnehmer um € 20,-- brutto weiterverkauft. Die S s.r.o. habe dann einen Vertrag mit dem Handelspartner und dieser mit dem Endabnehmer. Es habe nicht festgestellt werden können, dass zwischen der S s.r.o. und der B GmbH eine Vereinbarung betreffend das Einzahlungsgerät und die Prepaidkarten bestehe; auch eine indirekte Vereinbarung zwischen der B GmbH und einem Handelspartner der S s.r.o. habe nicht festgestellt werden können. Es habe nicht festgestellt werden können, ob das Einzahlungsgerät vermietet worden sei; es sei betriebsbereit gewesen, es könne jedoch nicht festgestellt werden, ob Prepaidkarten ausgegeben worden seien. Die Monitore und Rechner seien zum Kontrollzeitpunkt betriebsbereit und eingeschaltet gewesen und habe auf jedem Monitor über google eine bestimmte Internetseite aufgerufen werden können. Auf der Spielauswahloberfläche seien verschiedene Walzenspiele zur Auswahl gestanden. In der Demoversion sei ohne Einwurf von Geld- oder Spielmarken um „Fun Points“ gespielt worden und seien auch keine Gewinne ausbezahlt worden. Es könne nicht festgestellt werden, ob eine vermögenswerte Leistung erbracht worden sei.
4 Weiters traf das LVwG Feststellungen zu den Walzenspielen und führte aus, dass die Monitore und Rechner keine Glücksspielautomaten seien; eine Verbindung zum Einzahlungsgerät habe nicht bestanden. Der Veranstalter der Spiele habe nicht festgestellt werden können.
5 Das LVwG erläuterte seine Beweiswürdigung und führte weiters u.a. aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass mit jeweils drei zusammengehörigen Geräten eine Ausspielung durchgeführt worden sei und ob eine vermögenswerte Gegenleistung in Aussicht gestellt worden sei, weil nur eine Demoversion gespielt worden sei. Deshalb liege kein ausreichend substantiierter Verdacht vor; es sei darauf hinzuweisen, dass das Verwaltungsstrafverfahren vom LVwG eingestellt worden sei.
6 Die mitbeteiligte Partei sei hinsichtlich der übrigen Gegenstände weder Eigentümerin noch Veranstalterin noch Inhaberin, sodass ihre Beschwerde in diesem Umfang mangels Parteistellung mit Beschluss zurückzuweisen sei.
7 3.1. Ausdrücklich nur gegen das Erkenntnis des LVwG richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision des Bundesministers für Finanzen mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes, in eventu wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
8 3.2. Die mitbeteiligte Partei erstattete eine Revisionsbeantwortung.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
10 4.1. Zur Zulässigkeit der Revision wird vorgebracht, das LVwG habe ausgeführt, dass es zur Frage der Verwendung des elektronischen Kassensystems keine Feststellungen habe treffen können; diesbezüglich gebe es aber die Niederschrift der Aussage einer Kellnerin im Akt, wonach diese wahrgenommen habe, dass Personen auf dem elektronischen Kassensystem Prepaidkarten aufgeladen hätten und dass das Spielen an den Computerterminals nur mit diesen Karten möglich gewesen sei. Die Unterlassung der Einvernahme der Zeugin stelle aus näher dargelegten Gründen einen wesentlichen und relevanten Verfahrensmangel dar und verstoße gegen näher bezeichnete Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
11 Die Revision ist aus diesem Grund zulässig und auch begründet.
12 4.2.1. Gemäß § 38 VwGVG gilt im Verwaltungsstrafverfahren vor den Verwaltungsgerichten gemäß § 25 Abs. 1 VStG das Amtswegigkeitsprinzip und gemäß § 25 Abs. 2 VStG der Grundsatz der Erforschung der materiellen Wahrheit, wonach vom Verwaltungsgericht von Amts wegen unabhängig von Parteivorbringen und -anträgen der wahre Sachverhalt durch Aufnahme der nötigen Beweise zu ermitteln ist. Betreffend die Kognitionsbefugnis der Verwaltungsgerichte ist festzuhalten, dass gemäß Art. 130 Abs. 4 erster Satz B-VG (s. auch § 50 VwGVG) in Verwaltungsstrafsachen das Verwaltungsgericht immer in der Sache selbst entscheidet, woraus folgt, dass in Verwaltungsstrafverfahren dem Verwaltungsgericht in jedem Fall auch die Befugnis und Verpflichtung zu allenfalls erforderlichen Sachverhaltsfeststellungen zukommt (vgl. , mwN).
13 Betreffend die Ermittlung des Sachverhaltes bedeutet dies, dass die Verwaltungsgerichte verpflichtet sind, von Amts wegen ohne Rücksicht auf Vorträge, Verhalten und Behauptungen der Parteien die entscheidungserheblichen Tatsachen zu erforschen und deren Wahrheit festzustellen. Der Untersuchungsgrundsatz verwirklicht das Prinzip der materiellen (objektiven) Wahrheit, welcher es verbietet, den Entscheidungen einen bloß formell (subjektiv) wahren Sachverhalt zu Grunde zu legen. Der Auftrag zur Erforschung der materiellen Wahrheit verpflichtet die Verwaltungsgerichte, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, um der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen (vgl. Walter/Thienel, Verwaltungsverfahrensgesetze II² E 4 zu § 25 VStG). In diesem Sinne sind alle sich bietenden Erkenntnisquellen sorgfältig auszuschöpfen und insbesondere diejenigen Beweise zu erheben, die sich nach den Umständen des jeweiligen Falles anbieten oder als sachdienlich erweisen können. Die Sachverhaltsermittlungen sind ohne Einschränkungen eigenständig vorzunehmen. Auch eine den Beschuldigten allenfalls treffende Mitwirkungspflicht enthebt das Verwaltungsgericht nicht seiner aus dem Grundsatz der Amtswegigkeit erfließenden Pflicht, zunächst selbst - soweit das möglich ist - für die Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise zu sorgen (vgl. insgesamt erneut , mwN).
14 4.2.2. Wie der Verwaltungsgerichtshof wiederholt ausgesprochen hat, ist eine Beschlagnahme nach § 53 Abs. 1 GSpG nur dann zulässig, wenn ein ausreichend substantiierter Verdacht vorliegt, dass mit Glücksspielgeräten oder sonstigen Eingriffsgegenständen, mit denen in das Glücksspielmonopol des Bundes eingegriffen wird, fortgesetzt oder wiederholt gegen Bestimmungen des § 52 Abs. 1 GSpG verstoßen wird. Nicht erforderlich ist dabei zwar, dass die Übertretung des Gesetzes zum Zeitpunkt der Beschlagnahme bereits erwiesen ist, jedoch erfordert die Überprüfung eines Beschlagnahmebescheids jedenfalls Feststellungen über die Art des Spiels, weil ansonsten eine Überprüfung der rechtlichen Beurteilung nicht möglich ist. Hierzu ist die ansatzweise Darstellung des Spielablaufes erforderlich (vgl. etwa , mwN).
15 Die konkrete Beurteilung eines ausreichend substantiierten Verdachts hängt dabei von den Umständen des Einzelfalles ab und obliegt dem Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Verpflichtung zur amtswegigen Wahrheitserforschung (vgl. , 0844). Dabei können Dokumentationen von Probespielen, aber auch - insbesondere wenn solche fehlen - Zeugenaussagen oder andere Beweismittel herangezogen werden (vgl. ).
16 Im Revisionsfall war daher das LVwG nach § 38 VwGVG iVm § 25 Abs. 1 VStG verpflichtet, nach Durchführung eines amtswegigen Ermittlungsverfahrens Feststellungen zum Vorliegen eines substantiierten Verdachts zu treffen (vgl. erneut , mwN).
17 Dabei hat es alle ihm zu Gebote stehenden Beweismittel heranzuziehen.
18 4.2.3. Im vorliegenden Fall ist in den vom LVwG verbundenen Verwaltungsakten eine Niederschrift einer Zeugin enthalten, die Wahrnehmungen hinsichtlich des Aufladens am „Cash-Kiosk“ sowie des Bespielens der (jeweils) übrigen Gegenstände gemacht hatte. Diese Zeugin wurde vom LVwG jedoch in der mündlichen Verhandlung nicht vernommen, vielmehr traf es die Feststellung, nicht feststellen zu können, ob Prepaidkarten aufgeladen und für Spiele verwendet worden seien. Die Unterlassung der Einvernahme der Zeugin begründete das LVwG dabei nicht.
19 Bei Einvernahme dieser Zeugin kann jedoch vor dem Hintergrund der dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Beurteilung eines substantiierten Verdachts gemäß § 53 GSpG nicht ausgeschlossen werden, dass das LVwG zu anderen Feststellungen und in der Folge zu einer anderen rechtlichen Beurteilung gelangt wäre.
20 4.3. Da es das Verwaltungsgericht somit unterlassen hat, Beweiserhebungen zur Beurteilung eines substantiierten Verdachts gemäß § 53 GSpG durchzuführen, war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Wien, am
Zusatzinformationen
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Normen | B-VG Art130 Abs4 GSpG 1989 §52 Abs1 GSpG 1989 §53 Abs1 VStG §25 Abs1 VStG §25 Abs2 VwGVG 2014 §38 VwGVG 2014 §50 |
ECLI | ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021170060.L00 |
Datenquelle |
Fundstelle(n):
VAAAE-88824