VwGH vom 10.12.2013, 2013/22/0242
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Merl und den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde der K, vertreten durch Dr. Rudolf Mayer, Rechtsanwalt in 1090 Wien, Universitätsstraße 8/2, gegen den Bescheid der Bundesministerin für Inneres vom , Zl. 164.553/2- III/4/13, betreffend Aufenthaltstitel, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Mit dem angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag der Beschwerdeführerin, einer türkischen Staatsangehörigen, ihr zur Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft mit ihrem Ehemann einen Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" zu erteilen, gemäß § 21 Abs. 1 und Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ab.
Begründend führte die belangte Behörde aus, die Beschwerdeführerin sei am legal mit einem Visum in das österreichische Bundesgebiet eingereist. Am habe sie einen Antrag auf Gewährung von Asyl eingebracht. Das Verfahren über diesen Antrag sei mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom "rechtskräftig negativ abgeschlossen worden". Auf Grund des unerlaubten Aufenthalts in Österreich habe die Bundespolizeidirektion Wien gegen die Beschwerdeführerin mit Bescheid vom eine Ausweisung erlassen. Dieser Bescheid sei am in Rechtskraft erwachsen.
Den hier gegenständlichen Antrag habe die Beschwerdeführerin am eingebracht. Bei diesem Antrag handle es sich um einen Erstantrag, weil sie noch nie über einen Aufenthaltstitel für Österreich verfügt habe. Im Zeitpunkt der Antragstellung habe sie sich unrechtmäßig in Österreich aufgehalten.
Die Beschwerdeführerin hätte den Erstantrag allerdings gemäß § 21 Abs. 1 NAG vor der Einreise in das Bundesgebiet im Ausland bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde einbringen und die Entscheidung im Ausland abwarten müssen. Es sei keiner der die Inlandsantragstellung erlaubenden Ausnahmetatbestände des § 21 Abs. 2 NAG erfüllt.
Die Behörde könne gemäß § 21 Abs. 3 NAG auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland (ua.) zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, 2 oder 4 NAG vorliege und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar sei.
Nach Einräumung von Parteiengehör und nach Belehrung hinsichtlich der Bestimmungen des § 21 NAG habe die Beschwerdeführerin mit Schreiben vom einen Antrag nach § 21 Abs. 3 NAG gestellt und vorgebracht, sie wäre im Jahr 2003 nach Österreich gekommen und würde seitdem bei ihrem Ehemann wohnen. Sie wäre Hausfrau. Der Ehemann der Beschwerdeführerin, ebenfalls türkischer Staatsangehöriger, würde seit 1980 in Österreich leben und hier arbeiten. Sie würde in der Türkei über keine weiteren Familienangehörigen verfügen. In der Berufung gegen die erstinstanzliche Entscheidung habe die Beschwerdeführerin noch darauf verwiesen, dass sie sich in medizinischer Behandlung befände - es wäre für den eine Operation am Fuß vorgesehen - und dass die Unterstützung durch ihren Ehemann notwendig sei.
Es könne aber im vorliegenden Fall die "Notwendigkeit der Familienzusammenführung (..) keinesfalls gesehen werden". Zwar lebe die - im Zeitpunkt ihrer Einreise 44-jährige - Beschwerdeführerin seit "ungefähr 10 Jahren" mit ihrem Ehemann in Österreich. Es sei auch von einem aufrechten Familienleben auszugehen. Allerdings sei "dieses gemeinsame Familienleben zuvor 23 Jahre lang nicht existent" gewesen, weil ihr Ehemann seit dem Jahr 1980 im Bundesgebiet lebe. Bis zum Jahr 2003 habe die Beschwerdeführerin mit den Kindern allein in der Türkei gelebt. Die durch den dauernden Aufenthalt des Ehemannes in Österreich und den "eigenen mittlerweile langjährigen Aufenthalt" unbestritten begründeten familiären und privaten Interessen am Verbleib im Bundesgebiet seien nicht ausreichend, um aus Art. 8 EMRK einen Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels ableiten zu können. Es sei auch nicht erkennbar, dass die Beschwerdeführerin irgendwelche konkreten Schritte zur Integration in Österreich gesetzt hätte. So habe sie etwa nicht versucht, am Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Vielmehr habe sie gegenüber der erstinstanzlichen Behörde erklärt, Hausfrau zu sein. Ihren Antrag nach § 21 Abs. 3 NAG habe sie auf Türkisch verfasst und von einem beeideten Dolmetscher übersetzen lassen, weshalb davon auszugehen sei, dass die Beschwerdeführerin die Zeit ihres Aufenthalts auch nicht genutzt habe, sich ausreichende Deutschkenntnisse anzueignen.
Die Beschwerdeführerin sei zwar mit einem Visum rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist, habe sodann aber einen unberechtigten Asylantrag gestellt. Sie sei in der Folge nur nach asylrechtlichen Bestimmungen vorübergehend bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens am zum Aufenthalt in Österreich berechtigt gewesen. Ihr Aufenthalt sei sodann unrechtmäßig gewesen. Auch nach Erlassung der Ausweisung habe sie durch ihren fortgesetzten unrechtmäßigen Aufenthalt fremdenrechtliche Bestimmungen missachtet. Mit einem dauerhaften Aufenthaltsrecht in Österreich habe die Beschwerdeführerin nicht rechnen dürfen.
Bei den krankhaften Veränderungen im Fußbereich handle es sich um keinen akuten medizinischen Notfall. Es bestehe auch keine lebensbedrohliche Erkrankung. Auch sei kein Grund erkennbar, weshalb sich die Beschwerdeführerin nicht nach der Operation, die bereits vor drei Monaten stattgefunden habe, ins Ausland begeben könnte. Soweit geltend gemacht werde, dass sie auf die Unterstützung ihres Ehemannes angewiesen sei, sei auszuführen, dass dieser die Beschwerdeführerin "durchaus für die Dauer einer ordnungsgemäßen Antragstellung auf Ihrer Reise in die Türkei begleiten" könne.
Bei einer Gesamtbetrachtung sei sohin zum Ergebnis zu kommen, dass die öffentlichen Interessen an der Einhaltung der Einwanderungsbestimmungen höher zu bewerten seien als das persönliche Interesse der Beschwerdeführerin an der Zulassung der Inlandsantragstellung. Nach Abwägung der gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen ergebe sich, dass der Beschwerdeführerin die Ausreise zumutbar sei. Dem Zusatzantrag gemäß § 21 Abs. 3 NAG könne nicht stattgegeben werden. Daher sei auch der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels wegen der im Inland erfolgten Antragstellung abzuweisen.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen:
Eingangs ist festzuhalten, dass sich die Beurteilung des gegenständlichen Falles angesichts des Zeitpunktes der Zustellung des angefochtenen Bescheides () nach den Bestimmungen des NAG idF des BGBl. I Nr. 68/2013 richtet.
Gemäß § 21 Abs. 1 NAG sind Erstanträge vor der Einreise in das Bundesgebiet bei der örtlich zuständigen Berufsvertretungsbehörde im Ausland einzubringen. Die Entscheidung ist im Ausland abzuwarten.
Die Beschwerde bestreitet nicht die Richtigkeit der Ausführungen der belangten Behörde, wonach im gegenständlichen Fall ein Erstantrag, auf den § 21 Abs. 1 NAG Anwendung finde, vorliege und der Antrag entgegen dieser Bestimmung gestellt worden sei. Der Verwaltungsgerichtshof hegt am Boden der im angefochtenen Bescheid enthaltenen Feststellungen auch keine Bedenken gegen die diesbezügliche behördliche Auffassung.
Abweichend von § 21 Abs. 1 NAG kann die Behörde gemäß § 21 Abs. 3 NAG auf begründeten Antrag die Antragstellung im Inland zulassen, wenn kein Erteilungshindernis gemäß § 11 Abs. 1 Z 1, Z 2 oder Z 4 NAG vorliegt und die Ausreise des Fremden aus dem Bundesgebiet zum Zweck der Antragstellung nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar ist: 1. im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen (§ 2 Abs. 1 Z 17 NAG) zur Wahrung des Kindeswohls oder 2. zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK (§ 11 Abs. 3 NAG). Die Stellung eines solchen Antrages ist nur bis zur Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides zulässig. Über diesen Umstand ist der Fremde zu belehren.
Bei der hier vorzunehmenden Beurteilung nach Art. 8 EMRK ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an der Versagung eines Aufenthaltstitels mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 11 Abs. 3 NAG genannten Kriterien in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen.
Fallbezogen hat die belangte Behörde bei ihrer Entscheidung den unsicheren Aufenthaltsstatus der Beschwerdeführerin sowie ihren seit Abschluss des Asylverfahrens unrechtmäßigen Aufenthalt in den Vordergrund gerückt und in erster Linie darauf gründend die Verweigerung des begehrten Aufenthaltstitels als im Sinn des Art. 8 EMRK verhältnismäßig angesehen. Dieser Ansicht ist nicht beizupflichten.
Zwar entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass das durch eine soziale Integration erworbene Interesse an einem Verbleib in Österreich in seinem Gewicht gemindert ist, wenn der Fremde keine genügende Veranlassung gehabt hatte, von einer Erlaubnis zu einem dauernden Aufenthalt auszugehen. In diesem Sinn durfte die belangte Behörde nach § 21 Abs. 3 Z 2 iVm § 11 Abs. 3 Z 8 NAG bei der Interessenabwägung darauf Bedacht nehmen, ob das Privat- und Familienleben der Beschwerdeführerin in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren. Allerdings hat diese Bestimmung schon vor dem Hintergrund der gebotenen Gesamtbetrachtung nicht zur Konsequenz, dass der während des unsicheren Aufenthalts erlangten Integration überhaupt kein Gewicht beizumessen ist und ein solcherart begründetes privates und familiäres Interesse nie zur Erteilung eines Aufenthaltstitels führen könnte (vgl. die zu § 66 FPG ergangenen, aber insoweit auch für die Beurteilung nach § 11 Abs. 3 NAG sinngemäß maßgeblichen Ausführungen im hg. Erkenntnis vom , Zl. 2013/22/0088, mwN).
Ausgehend von den Feststellungen der belangten Behörde erweist sich für die hier vorzunehmende Beurteilung als entscheidungswesentlich, dass sich die (unbescholtene) Beschwerdeführerin seit nahezu zehn Jahren im Bundesgebiet aufhält, hier seit ihrer Einreise mit ihrem Ehemann im gemeinsamen Haushalt lebt und sich ihr Ehemann bereits seit dem Jahr 1980 dauernd in Österreich aufhält. Der Verwaltungsgerichtshof vermag sich der Ansicht der belangten Behörde nicht anzuschließen, dass diese Umstände im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK in ihrer Gesamtheit nicht ein solches Gewicht aufwiesen, dass es fallbezogen im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides (immer noch) gerechtfertigt wäre, einen aus Art. 8 EMRK resultierenden Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltstitels zu verneinen. Rechtlich verfehlt ist es in diesem Zusammenhang, dem über fast zehn Jahre bestehenden Familienleben der Beschwerdeführer ein maßgebliches Gewicht mit dem Argument, ein solches habe zuvor 23 Jahre nicht bestanden, abzusprechen. Im gegenständlichen Fall können der unsichere Aufenthaltsstatus der Beschwerdeführerin, das geringe Ausmaß ihrer Deutschkenntnisse und das Fehlen einer - von ihr aber gar nicht angestrebten - Erwerbstätigkeit nicht (mehr) dazu führen, dem oben genannten öffentlichen Interesse Vorrang einzuräumen. Lediglich der Vollständigkeit halber sei in diesem Zusammenhang erwähnt, dass dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten zufolge auch die Landespolizeidirektion Wien mit Schreiben vom ausdrücklich ausgeführt hat, keine Bedenken gegen die Erteilung eines Aufenthaltstitels an die Beschwerdeführerin zu haben.
Nach dem Gesagten ist der angefochtene Bescheid mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit belastet, weshalb er aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am