VwGH vom 15.02.2022, Ra 2021/14/0162
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl und die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Sembacher als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des G in W, vertreten durch A K als einstweilige Erwachsenenvertreterin, diese vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , G301 2235942-1/2E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Jamaikas, stellte am seinen vierten Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er damit begründete, Angst davor zu haben, keine Medikamente zu bekommen und sein Leben zu verlieren. Zu den davor gestellten Anträgen ist auf den im Beschluss des Verwaltungsgerichtshofes vom , Ra 2019/21/0199, dargestellten Verfahrensgang zu verweisen.
2In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom machte der Revisionswerber keine Angaben. Der anwesende Rechtsvertreter legte auf Nachfrage des einvernehmenden Beamten zur Einvernahmefähigkeit des Revisionswerbers Schriftstücke zur Wirkung von - für den Revisionswerber notwendigen - Medikamenten vor und gab an, dass dieser nicht einvernahmefähig sei, die Bestellung eines Erwachsenenvertreters sei ratsam.
3Im Rahmen der weiteren Einvernahme vom machte der Revisionswerber einige Angaben zu seiner eigenen Person. Weitere Aussagen konnte der Revisionswerber nicht machen, im Protokoll wurde dazu festgehalten, dass der Revisionswerber teilnahmslos wirke, in die Luft schaue, die Augen schließe und lächle. Unter einem wurden Befundberichte des behandelnden Psychiaters vorgelegt.
4Mit Bescheid des BFA vom wurde der Antrag auf internationalen Schutz sodann vollinhaltlich abgewiesen und dem Revisionswerber kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt. Das BFA ging davon aus, dass der Revisionswerber geschäftsfähig sei und führte dazu in seiner Beweiswürdigung aus, dass die Krankheit und die hohe Wahrscheinlichkeit der Geschäftsfähigkeit sich aus einem Schreiben des Amtsarztes ergeben würden.
5In der dagegen erhobenen Beschwerde wurde unter anderem geltend gemacht, das BFA habe die Situation von psychisch Kranken in Jamaika nicht ermittelt und den Gesundheitszustand des Revisionswerbers, der an einer Geisteskrankheit leide und nicht geschäftsfähig sei, außer Acht gelassen. Der Revisionswerber müsse näher genannte Medikamente nehmen, sei dabei aber auf die Fürsorge durch seine Frau angewiesen, da er selbst die Einnahme verweigere. Bei Besorgungen und Tätigkeiten des täglichen Lebens und bei Arztbesuchen sei er auf Hilfe angewiesen. Der Revisionswerber führe Selbstgespräche und habe Wahnvorstellungen. Da der Revisionswerber seine täglichen Angelegenheiten nicht mehr selbst wahrnehmen könne, ohne sich selbst zu schaden, sei beim Bezirksgericht F. ein Verfahren zur Bestellung eines Erwachsenenvertreters anhängig. Das BFA habe lediglich eine Ferndiagnose durch einen Amtsarzt vorgenommen, eine tatsächliche Untersuchung habe nicht stattgefunden. Unter einem beantragte der Revisionswerber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
6Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
7Das BVwG stellte- soweit für das gegenständliche Revisionsverfahren wesentlich - fest, dass der Revisionswerber an näher bezeichneten psychischen Erkrankungen leide, die in seinem Heimatstaat behandelbar seien. Er sei „hinsichtlich des gegenständlichen Beschwerdeverfahrens und des diesem vorangegangenen Verwaltungsverfahren als geschäftsfähig und somit auch als prozessfähig anzusehen.“ Auch habe der Revisionswerber keine ihm aktuell drohende Gefährdung aus asylrelevanten Gründen glaubhaft machen können. In seiner Beweiswürdigung führte das BVwG aus, dass die Feststellung zur Geschäfts- und Prozessfähigkeit auf eine Stellungnahme des polizeiärztlichen Dienstes der Landespolizeidirektion Wien vom im Rahmen einer amtsärztlichen Beurteilung gestützt werde, wonach „auch die festgestellte psychiatrische Erkrankung des BF aufgrund der Akten- und Befundlage die Geschäftsfähigkeit nicht ausschließe.“ Weder die Tatsache, dass ein pflegschaftsgerichtliches Verfahren anhängig sei, noch, dass keine persönliche Untersuchung durchgeführt worden sei, ließen den Schluss zu, dass der amtsärztliche Befund, dem auch nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten worden wäre, unrichtig wäre. Die Beschwerde lege nicht konkret dar, weshalb die zusammenfassende Beurteilung auf Basis von Vorbefunden unrichtig sein sollte, (bloß) weil eine tatsächliche Untersuchung nicht vorgenommen worden wäre. Der Revisionswerber habe bereits in seinen früheren Verfahren unrichtige Angaben gemacht, weshalb das BFA ihm zurecht die Glaubwürdigkeit abgesprochen habe. Im vorliegenden Verfahren habe er sein Desinteresse und seine mangelnde Bereitschaft an der Ermittlung des Sachverhalts dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er nicht einmal versucht hätte, Fragen seitens der Behörde zu seinen Fluchtgründen zu beantworten, ebenso würden seine rechtskräftigen Verurteilungen sein Desinteresse unterstreichen. Es bestehe bei einer Rückkehr keine Gefahr für sein Leben, die benötigten Medikamente könnten im Herkunftsstaat bezogen werden. In dem Beschwerdevorbringen zur Verfolgung psychisch Kranker in Jamaika sei eine gemäß § 20 BFA-VG 2014 unzulässige Steigerung zu sehen. In weiterer Folge setzte sich das BVwG auch inhaltlich mit den in der Beschwerde genannten Berichten auseinander und führte aus, es handle sich um Einzelfälle und eine asylrelevante Verfolgung psychisch Kranker in Jamaika oder eine Gefährdung der Rechte des Revisionswerbers nach Art. 2 oder 3 EMRK seien daraus nicht ableitbar. Zum Entfall der mündlichen Verhandlung hielt das BVwG fest, dass in der Beschwerde kein dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens entgegenstehender Sachverhalt konkret und substantiiert behauptet worden sei. Zudem habe sich der erkennende Richter bereits im Rahmen einer mündlichen Verhandlung in einem anderen bereits abgeschlossenen Verfahren (Hinweis auf ) einen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen können, der nun mitberücksichtigt worden sei.
8Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit unter anderem näher begründet geltend macht, das BVwG habe zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung Abstand genommen. Weiters habe das BVwG den Sachverhalt nicht ausreichend ermittelt und insbesondere Ermittlungen zur Situation psychisch Kranker in Jamaika, zu den persönlichen Umständen des Revisionswerbers und zu seiner Geschäftsfähigkeit unterlassen.
9Weiters legte der Revisionswerbervertreter über Aufforderung den Beschluss des Bezirksgerichts F. vom , 79 P 54/20x, über die Bestellung der Ehefrau des Revisionswerbers zur einstweiligen Erwachsenenvertreterin gemäß § 120 AußStrG für Besorgung der dringenden Angelegenheiten „Vertretung im Verwaltungsverfahren und verwaltungsgerichtliche Verfahrenshandlungen“, vor. Dem Beschluss ist zu entnehmen, dass der Revisionswerber nicht in der Lage zu sein scheint, all seine Angelegenheiten ohne Gefahr eines Nachteils für sich selbst zu besorgen und das Verfahren über die Prüfung der Notwendigkeit der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters fortgesetzt werde. Mit der Vorlage teilte der Revisionswerbervertreter auch mit, dass die einstweilige Erwachsenenvertreterin die Erhebung der Revision beauftragt und genehmigt habe.
10Nach Vorlage der Revision samt den Verfahrensakten durch das Bundesverwaltungsgericht und der Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.
11Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
12Die Revision erweist sich vor dem Hintergrund des Vorbringens zur mündlichen Verhandlung als zulässig. Sie ist auch begründet.
13Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
14Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob im Sinn des § 21 Abs. 7 erster Satz BFA-VG „der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint“ und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
15Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. , 0018, sowie aus der jüngeren Rechtsprechung etwa , mwN).
16Diese Voraussetzungen lagen im gegenständlichen Fall nicht vor.
17Der Revisionswerber hat durch das zitierte Beschwerdevorbringen die fehlende Auseinandersetzung mit der Geschäftsfähigkeit, dem anhängigen Verfahren zur Bestellung eines Erwachsenenvertreters, den Ausführungen zur individuellen Situation des Revisionswerbers (sowie den vorgelegten Länderberichten) auf substantiierte Weise gerügt und ergänzende Tatsachenbehauptungen aufgestellt. Im Hinblick darauf konnte jedoch der Sachverhalt (bloß) aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde keineswegs als geklärt erscheinen, weshalb das Verwaltungsgericht verhalten war, eine - vom Revisionswerber in seiner Beschwerde auch ausdrücklich beantragte - mündliche Verhandlung durchzuführen, um eine umfassende mängelfreie Würdigung sämtlicher relevanter Umstände vornehmen zu können.
18Demnach lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von einer Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK oder - wie hier gegeben - des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. , mwN).
19Zudem übersieht das BVwG in seiner Begründung, dass die Frage des Vorliegens der Prozessfähigkeit von der Behörde bzw. vom Gericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen wahrzunehmen ist. Bei begründeten Bedenken in Bezug auf das Fehlen der Prozessfähigkeit der betreffenden Person ist daher diese Frage von Amts wegen zu prüfen und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren - in der Regel durch Einholung eines diesbezüglichen Sachverständigengutachtens - zu führen (vgl. , Punkt 5.2. der Entscheidungsgründe; siehe in diesem Sinn auch , Rn. 12, jeweils mwN).
20Derartige Zweifel an der Prozessfähigkeit hätte das BVwG - insbesondere vor dem Hintergrund der im Verfahren vor dem BFA vorgelegten Befunde - und dem Beschwerdevorbringen zur mangelnden Dispositionsfähigkeit des Revisionswerbers haben müssen und, vor allem da es durch die Beschwerde auch vom bereits eingeleiteten Verfahren über die Bestellung eines Erwachsenenvertreters erfahren hatte, eigene Ermittlungen auch zur Vorfrage des Vorliegens der Prozessfähigkeit anstellen müssen (vgl. , insbesondere Rz 10 bis 11; zur Prozessfähigkeit als Vorfrage erneut ; Rz 16; zur Möglichkeit der Aussetzung bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage durch das zuständige Gericht vgl. , Rz 19).
21Das angefochtene Erkenntnis war somit wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
22Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021140162.L00 |
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