VwGH vom 08.06.2011, 2009/06/0213
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kail und die Hofräte Dr. Bernegger, Dr. Waldstätten, Dr. Bayjones und Dr. Moritz als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Zöchling, über die Beschwerde des A P in Graz, vertreten durch Dr. Franz Unterasinger, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Radetzkystraße 8/I, gegen den Bescheid der Berufungskommission der Landeshauptstadt Graz vom , Zl. 018579/2009-4, betreffend baupolizeilichen Auftrag gemäß § 39 Abs. 1 Stmk. BauG (weitere Partei: Stmk. Landesregierung), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Die Landeshauptstadt Graz hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Das auf dem verfahrensgegenständlichen Grundstück des Beschwerdeführers in Graz befindliche zweigeschoßige Wohnhaus wurde mit Bescheid des Stadtsenates der Landeshauptstadt Graz vom baurechtlich bewilligt. In den "Allgemeinen Auflagen" ist für Geländer Folgendes vorgesehen:
"4) Alle im gewöhnlichen Gebrauch zugänglichen, absturzgefährdeten Stellen (Niveauunterschiede über 60 cm) eines Bauwerkes sind durch baugesetzgemäße Geländer oder Brüstungen abzusichern.
5) Stiegenläufe mit mehr als 3 Stufen sind gemäß Ö-NORM B 5371 mit Anhaltevorrichtungen in einer Höhe von ca 85 cm zu versehen."
Ein Baukontrollor stellte bei einer örtlichen Erhebung am auf diesem Grundstück des Beschwerdeführers fest, dass die Bespannungen bei den Geländern im Eingangsbereich sowie bei der Terrasse über der Garage entfernt worden seien. Bei diesen Geländern seien Seile mit einem Abstand von ca. 12 cm gespannt (Absturzhöhe bei der Terrasse über der Garage ca. 3,00 m).
Der Stadtsenat der Landeshauptstadt Graz erteilte mit Bescheid vom dem Beschwerdeführer den Auftrag, das Geländer im Eingangsbereich sowie bei der Terrasse über der Garage gemäß Ö-NORM B 5371 auszuführen. Diese Maßnahme sei sofort zu erfüllen. Die Behörde führte dazu insbesondere aus, dass das Geländer, wie bei einer amtlichen Erhebung am festgestellt worden sei, nicht der Bewilligung entspreche, weshalb die Absicherung gemäß § 39 Abs. 1 Stmk. BauG spruchgemäß vorzuschreiben gewesen sei.
Die belangte Behörde wies die dagegen erhobene Berufung mit dem angefochtenen Bescheid als unbegründet ab. Sie führte im Wesentlichen aus, eine Zusammenschau der angeführten Bestimmungen (§ 43 Abs. 1, § 55 und § 112 Stmk. BauG) ergebe, dass der Gesetzgeber bei der Gewährung von Erleichterungen für Geländer und Brüstungen bei Ein- und Zweifamilienhäusern ausdrücklich nur § 55 Stmk. BauG hinsichtlich der Höhe, Breite und Ausführung ausgenommen habe, also die Anwendung einer besonderen bautechnischen Bestimmung, dass aber keine Ausnahme von den allgemeinen bautechnischen Bestimmungen, so auch nicht von der Bestimmung des § 43 Abs. 1 Stmk. BauG, der sich auf die Regeln der Technik beziehe, eingeräumt worden sei. Es sei daher der Auftrag, die Geländer gemäß ÖNORM B 5371 auszuführen, zu Recht ergangen.
In der dagegen erhobenen Beschwerde wird Rechtswidrigkeit des Inhaltes und Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften geltend gemacht.
Die belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift samt Antrag auf kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Im vorliegenden Beschwerdefall ist das Stmk. Baugesetz, LGBl. Nr. 59/1995 (Stmk. BauG), in der Fassung LGBl. Nr. 88/2008 anzuwenden.
Gemäß § 4 Z 39 Stmk. BauG sind Kleinhäuser Häuser, die ausschließlich dem Wohnen dienen und eine Gesamtwohnnutzfläche unter 600 m2 sowie höchstens drei oberirdische Geschoße (einschließlich Dachgeschoße) haben.
Gemäß § 4 Z 52 Stmk. BauG sind unter Regeln der Technik alle technischen Regeln und Festlegungen, die in Theorie und Praxis erprobt sind und die von der überwiegenden Mehrheit der Fachleute als richtig anerkannt und angewandt werden, zu verstehen.
Gemäß § 39 Abs. 1 Stmk. BauG hat der Eigentümer dafür zu sorgen, dass die baulichen Anlagen in einem der Baubewilligung, der Baufreistellungserklärung und den baurechtlichen Vorschriften entsprechenden Zustand erhalten werden.
Gemäß Abs. 3 dieser Bestimmung hat die Behörde dem Eigentümer, wenn er seinen Verpflichtungen nicht nachkommt, die erforderlichen Sicherungsmaßnahmen und die Behebung des der Bewilligung und den baurechtlichen Vorschriften widersprechenden Zustandes unter Festsetzung einer angemessen Frist aufzutragen.
Gemäß § 43 Abs. 1 Stmk. BauG muss jedes Bauwerk in all seinen Teilen nach den Regeln der Technik und den bautechnischen Vorschriften so geplant und ausgeführt werden, dass es nach seinem Verwendungszweck und den örtlichen Verhältnissen den in Abs. 2 angeführten Anforderungen entspricht. Auf die besonderen Bedürfnisse behinderter und alter Menschen sowie Kleinkinder ist im Rahmen des vorgesehenen Verwendungszweckes in ausreichender Weise Bedacht zu nehmen.
Betreffend die Nutzungssicherheit eines Bauwerkes ist in Abs. 2 Z 4 dieser Bestimmung angeordnet, dass das Bauwerk derart geplant und ausgeführt sein muss, dass sich bei seiner Nutzung oder seinem Betrieb keine unannehmbaren Unfallgefahren ergeben, wie Verletzungen durch Rutsch-, Sturz- und Aufprallunfälle, Verbrennungen, Stromschläge, Explosionsverletzungen.
§ 55 Abs. 1 bis 3 Stmk. BauG trifft für Geländer und Brüstungen an Bauwerken folgende Anordnungen:
"§ 55
Geländer und Brüstungen
(1) Alle im gewöhnlichen Gebrauch zugänglichen Stellen eines Bauwerkes, bei denen die Gefahr eines Absturzes besteht, sind mit standsicheren Geländern oder Brüstungen zu sichern.
(2) Geländer müssen mindestens 1,0 m hoch sein, bei Balkonen vom dritten Geschoß an, bei Dachterrassen und allgemein zugänglichen Flachdächern mindestens 1,10 m. Bei Brüstungen mit einer Breite von mindestens 40 cm genügt eine Höhe von mindestens 85 cm.
(3) Geländer sind so auszuführen, daß auch Kinder ausreichend geschützt sind. Sie dürfen keine Leiterwirkung aufweisen. Der kürzeste Abstand von Geländersprossen oder anderen Geländerteilungen darf 10 cm lichte Weite nicht überschreiten; dies gilt auch für den Abstand der Geländerunterkante zum Fußboden sowie zu Stufenvorderkanten."
Im § 112 Stmk. BauG sind Erleichterungen für Kleinhäuser vorgesehen. So gilt gemäß Z 2 lit. d dieser Bestimmung für Geländer und Brüstungen - ausgenommen Fensterbrüstungen - § 55 Stmk. BauG hinsichtlich der Höhe, Breite und Ausführung nicht.
Gemäß §§ 114 und 115 Stmk. BauG kann die Baubehörde unter bestimmten Voraussetzungen Erleichterungen gegenüber den Vorschriften des II., III., V. und VI. Abschnittes des I. Teiles des II. Hauptstückes für bestimmte Anlagen gewähren.
Gemäß § 116 Stmk. BauG hat die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen Ausnahmen von "bautechnischen Vorschriften" zuzulassen.
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die Auslegung der angeführten Bestimmungen des Stmk. BauG, die im Ergebnis dazu führe, dass die mit § 112 Z 2 lit. d Stmk. BauG eingeführten Erleichterungen angesichts der jedenfalls anzuwendenden "allgemeinen bautechnischen Bauvorschriften" keine Rolle spielten. Mit dieser Auslegung werde faktisch die vom Gesetzgeber im Sinne einer Liberalisierung des privaten Wohnbaues normierte Erleichterung des § 112 Z 2 lit. d Stmk. BauG umgangen. Entgegen der im § 112 Stmk. BauG normierten Erleichterung für Kleinhäuser würden über die allgemeinen bautechnischen Bauvorschriften sogar strengere Vorschriften zur Anwendung gebracht. Es würden damit die speziell vorgesehenen Ausnahmen für Kleinhäuser und Wohnungen nach den §§ 112 und 113 Stmk. BauG "außer Kraft" gesetzt, was nicht im Sinne des Zieles des Gesetzgebers stehe, den privaten Wohnungsbau zu liberalisieren und die Eigenverantwortung zu stärken.
Dieses Beschwerdevorbringen ist nicht zielführend.
Im II. Hauptstück des Stmk. BauG betreffend "Bautechnische Vorschriften" bezieht sich der I. Teil auf "Allgemeine bautechnische Bestimmungen". Dazu gehören die §§ 43 ff (bis § 70) Stmk. BauG, die wiederum in sechs Abschnitte (I. - VI.) gegliedert sind, nämlich die Abschnitte betreffend Anforderungen an die Planung und die Bauausführung bzw. Brauchbarkeit von Bauprodukten (§§ 43 bis 47 Stmk. BauG; davon regelt § 43 "Allgemeine Anforderungen"), Bestimmungen für Wände, Decken, Dächer, baulicher Zivilschutz (§§ 48 bis 52 Stmk. BauG), weiters Bestimmungen für Stiegen, Geländer und Türen (§§ 53 bis 57 Stmk. BauG), betreffend Heizungsanlagen (§§ 58 bis 62 Stmk. BauG), haustechnische Anlagen (§§ 63 bis 66 Stmk. BauG) und Bestimmungen für Aufenthaltsräume und Wohnungen (§§ 67 bis 70 Stmk. BauG).
Es folgen im II. Teil dieses II. Hauptstückes die besonderen bautechnischen Bestimmungen (§§ 71 bis 116 Stmk. BauG). In diesem II. Teil sind als besondere bautechnische Bestimmungen im VII. Abschnitt Erleichterungen für Kleinhäuser im § 112 Stmk. BauG vorgesehen. § 55 Stmk. BauG stellt nach seiner Stellung im Gesetz (II. Hauptstück, I. Teil, III. Abschnitt) - entgegen der Annahme der belangten Behörde - eine allgemeine bautechnische Bestimmung und nicht eine besondere bautechnische Bestimmung dar.
Innerhalb der Regelungen über die allgemeinen bautechnischen Bestimmungen ist aber weiter beachtlich, dass im I. Abschnitt des I. Teiles dieses Hauptstückes in der ersten Bestimmung (nämlich § 43 Stmk. BauG) generalklauselhaft "allgemeine Anforderungen" u. a. für die Planung und die Bauausführung festgelegt werden. Das bedeutet, dass dann, wenn keine allgemeine bautechnische Regelung besteht, gemäß § 43 Abs. 1 Stmk. BauG die Regeln der Technik ganz allgemein gelten, die im Einzelfall anzuwenden oder für die Auslegung der Regelungen in Abs. 2 dieser Bestimmung heranzuziehen sind (vgl. dazu Hauer/Trippl , Steiermärkisches Baurecht4, S. 454, Anm. 1 zu § 43 Stmk. BauG). § 112 Z 2 lit. d Stmk. BauG bewirkt, dass die allgemeinen bautechnischen Regelungen des § 55 Abs. 2 und Abs. 3 Stmk. BauG, die die Höhe, Breite und die Ausführung von Geländern betreffen, bei Kleinhäusern nicht anzuwenden sind. Das sich daraus ergebende Fehlen einer konkreten allgemeinen bautechnischen Regelung für Geländer an einem Kleinhaus führt dazu, dass nach dem dargestellten System - wie dies die belangte Behörde im Ergebnis zutreffend angenommen hat - die allgemeinen Anforderungen an die Bauausführung gemäß § 43 Stmk. BauG zur Anwendung kommen.
Der Gesetzgeber hat in § 112 Z 2 lit. d Stmk. BauG nur eine Ausnahme von § 55 Abs. 2 und Abs. 3 Stmk. BauG statuiert, nicht aber von den allgemeinen Anforderungen an jedes Bauwerk nach § 43 Stmk. BauG. Auch die benachbarten Ausnahmeregelungen der §§ 114 und 115 Stmk. BauG bestätigen, dass der Gesetzgeber Ausnahmen nur für die jeweils bezogenen Abschnitte (hier II., III., V. und VI.) des I. Teiles des II. Hauptstückes des Stmk. BauG einräumt und nicht im Hinblick auf die Abschnitte I. und IV. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, die in § 112 Z 2 lit. d Stmk. BauG gewährte Ausnahme von § 55 Abs. 2 und Abs. 3 leg. cit. dahin zu verstehen, dass damit auch eine Ausnahme von § 43 Stmk. BauG erfasst sein sollte. § 43 Stmk. BauG konnte daher im vorliegenden Fall rechtens herangezogen werden.
Der Verweis in § 43 Abs. 1 Stmk. BauG auf die Regeln der Technik, denen ein Bauwerk zu entsprechen hat, bezieht sich ohne Frage auf aktuelle ÖNORMEN. Die angeführte ÖNORM B 5371 betrifft Gebäudetreppen und erfasst in Pkt. 12 u.a. Geländer, die sich entlang von solchen Treppen und Podesten im Zusammenhang mit solchen Treppen befinden. Gemäß Pkt. 1 dieser ÖNORM sind unter Gebäudetreppen Treppen zu verstehen, die unmittelbar mit einem Gebäude fest und unbeweglich verbunden sind, nicht jedoch Treppen im Freigelände. Aus den im Akt einliegenden Fotos zu den fraglichen Geländern ergibt sich, dass das bezogene Terrassengeländer nicht entlang einer Treppe bzw Gebäudetreppe liegt. Auch das angesprochene Geländer im bezogenen "Eingangsbereich" (diese Anordnung ist höchst unklar) dürfte zum Großteil nicht entlang einer Treppe liegen, wobei die Treppe, die zu diesem auf dem Foto festgehaltenen Bereich hinaufführt (auf dem Foto ist nur das obere Ende einer Treppe zu sehen), keine Gebäudetreppe im dargelegten Sinne sein dürfte, sondern eine Treppe im Freigelände. Soferne es keine eigene Regel der Technik für Geländer, die nicht mit einer Gebäudetreppe im Sinne der angeführten ÖNORM in Verbindung stehen, gibt, ist nach Ansicht des Verwaltungsgerichtshofes die sozusagen analoge Heranziehung dieser ÖNORM nicht ausgeschlossen. Dies müsste aber in jedem Fall entsprechend begründet werden. Eine solche Begründung erfolgte in keinem der in diesem Verwaltungsverfahren ergangenen Bescheide. Es stellt einen wesentlichen Verfahrensfehler dar, wenn eine solche Begründung nicht erfolgt.
Darüber hinaus hat der erteilte Auftrag dem Gebot der hinreichenden Bestimmung nämlich derart, dass sein Spruch Titel einer Vollstreckungsverfügung sein kann bzw. nach dem ein solcher Bescheid auch einer Vollstreckung im Wege einer behördlichen Ersatzvornahme zugänglich sein muss (vgl. die hg. Erkenntnisse vom , VwSlg. Nr. 2356/A, und vom , Zl. 90/06/0176; Hengstschläger-Leeb , AVG § 59, Rz 90), nicht entsprochen. Der die "Umwehrung" bei Treppen und Podesten betreffende Punkt 12 dieser ÖNORM umfasst vier Unterpunkte (u.a. Umwehrungshöhe und Kinderschutz), wobei drei dieser Unterpunkte zwei oder mehrere Absätze umfassen. Die Behörde müsste präzise zum Ausdruck bringen, auf welche Anordnung oder Anordnungen des Punktes 12 der angeführten Richtlinie sie sich bezieht. Eine derartige Konkretisierung des Auftrages erfolgte nicht.
Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Angemerkt wird, dass letztlich gemäß § 43 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 Z 4 Stmk.BauG im Zusammenhalt mit der angeführten Auflage
4. der Baubewilligung gemäß § 39 Abs. 1 Stmk. BauG auch ein entsprechend konkretisierter baupolizeilicher Auftrag erlassen werden könnte, mit dem vor allem auch einer möglichen Absturzgefahr für Kinder bei den angeführten Geländern begegnet und auch für die sichere Benutzung durch Kinder, gesorgt werden könnte.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG i.V.m. der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Wien, am