VwGH vom 17.12.2009, 2009/06/0212

VwGH vom 17.12.2009, 2009/06/0212

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Kail und die Hofräte Dr. Bernegger, Dr. Waldstätten, Dr. Rosenmayr und Dr. Bayjones als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Zykan, über die Beschwerde 1. des H W und 2. der E W, beide in V, beide vertreten durch Kortschak & Höfler Rechtsanwälte OEG in 8430 Leibnitz, Kadagasse 15, gegen den Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom , Zl. FA13B-10.10-V2/2009-102, betreffend die Nichtigerklärung von Baubewilligungen (mitbeteiligte Parteien: 1. M B in K, 2. F G, 3. K S 4. I S 5. I S 6. F G, 7. R P, alle in V, alle vertreten durch Friedl & Holler, Rechtsanwalt-Partnerschaft in 8462 Gamlitz, Marktplatz 6), zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

Die Beschwerdeführer haben dem Land Steiermark Aufwendungen in der Höhe von EUR 610,60 und allen mitbeteiligten Parteien zusammen Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 je zur Hälfte binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren der mitbeteiligten Parteien wird abgewiesen.

Begründung

Der angefochtene Bescheid betrifft die Nichtigerklärung von Baubewilligungen für ein Bauvorhaben der Beschwerdeführer im Gebiet der (steiermärkischen) Gemeinde V.

Mit dem am eingebrachten Baugesuch vom selben Tag kamen die Beschwerdeführer beim Bürgermeister der Gemeinde V. um die Erteilung der baubehördlichen Bewilligung für die Errichtung eines Schweinestalles auf einem Grundstück im Gemeindegebiet ein. Das zu bebauende Grundstück war damals gemäß dem Flächenwidmungsplan 3.0 der Gemeinde als "Freiland", forstwirtschaftliche Nutzung, gewidmet (es ist zuletzt auf Grund des im Jahr 2006 beschlossenen und im selben Jahr genehmigten Flächenwidmungsplanes weiterhin als Freiland gewidmet). Im Zuge der Bauverhandlung vom erhoben verschiedene Nachbarn Einwendungen gegen das Vorhaben. In der Folge kam es zu mehrfachen Projektänderungen.

Mit Bescheid der Steiermärkischen Landesregierung vom wurde festgestellt, dass für das Vorhaben (für 370 Mastschweine und 61 Zuchtsauen - 368 Ferkel) keine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen sei.

Schließlich erteilte der Bürgermeister mit dem erstinstanzlichen Bescheid vom den Beschwerdeführern die angestrebte Baubewilligung für die Errichtung eines Schweinestalles (für 370 Mastschweine und 61 Zuchtsauen - 368 Ferkel) mit integriertem Güllekeller und erachtete die Einwendungen der verschiedenen Nachbarn als unbegründet.

Dagegen erhoben alle nunmehrigen mitbeteiligten Parteien mit (inhaltsgleichen) Schriftsätzen vom Berufungen, in der sie u.a. auch darauf verwiesen, dass der Bauplatz entgegen der Bestimmung des § 5 des Steiermärkischen Baugesetzes 1995 (BauG) hochwassergefährdet sei. Durch die Hochwassergefährdung sei jedenfalls ein Ausfließen der Gülle zu erwarten und damit in weiterer Folge eine Gefährdung der Hausbrunnen. Dass sich der Bauplatz im Hochwasserabflussgebiet des HQ 100 befinde, lasse sich der Hochwasserrisikoanalyse (HORA) des Landwirtschaftsministeriums entnehmen (Hinweis auf einen angeschlossenen Plan). Diese Gebiete des HQ 100 müssten jedoch gemäß der am in Kraft getretenen Verordnung LGBl. Nr. 117/2005 von derartigen Neubauten freigehalten werden.

Im Zuge des Berufungsverfahrens teilte der Bürgermeister den Beschwerdeführern zu Handen ihrer Vertreter mit Schreiben vom mit, vom Land Steiermark sei im Rahmen der Abflussuntersuchung Mur in einem näher bezeichneten Bereich der Überflutungsbereich bei HQ 100 ermittelt worden. Wie der "beiliegenden Karte" zu entnehmen sei, liege auch der Bauplatz im Überflutungsbereich.

Der Gemeinderat ergänzte das Ermittlungsverfahren und wies mit Bescheid vom alle Berufungen als unbegründet ab. Hinsichtlich einer möglichen Hochwassergefährdung komme den damaligen Berufungswerbern (den nunmehrigen mitbeteiligten Parteien) als Nachbarn kein Mitspracherecht zu, ebenso wenig hinsichtlich anderer (im nunmehrigen Beschwerdeverfahren nicht relevanten) Einwänden. Soweit ihnen ein Mitspracherecht zukomme, habe das Ermittlungsverfahren ergeben, dass ihre Nachbarrechte durch das Vorhaben nicht verletzt würden.

Dagegen erhoben die Erstmitbeteiligte, der Zweitmitbeteiligte und weitere mitbeteiligte Parteien (aber nicht alle) Vorstellungen an die belangte Behörde.

Die belangte Behörde wies mit Bescheid vom die Vorstellungen als unbegründet ab. Zur eingewendeten mangelnden Tragfähigkeit des Untergrundes bzw. zur Tragfähigkeit des Güllekellers auf Grund des zu erwartenden hohen Grundwasserstandes, wie auch hinsichtlich der zu erwartenden Hochwassergefahr komme den Nachbarn kein Mitspracherecht zu. Es sei richtig, dass der Bauplatz innerhalb einer Überflutungsfläche des HQ 30 und HQ 100 ausgewiesen sei und diesbezüglich § 4 Abs. 1 Z. 1 der Verordnung LGBl. Nr. 117/2005 klar normiere, dass derartige Neubauten in Hochwasserabflussgebieten des HQ 100 nicht zulässig seien, dies könne jedoch nicht zu einer Aufhebung des bekämpften Berufungsbescheides aus dem Grund einer Verletzung von Nachbarrechten führen (weil den Vorstellungswerbern kein solches Nachbarrecht zukomme). Bescheide, die nicht im Einklang mit einem Entwicklungsprogramm erlassen worden seien, seien allerdings gemäß § 13 Abs. 2 des Raumordnungsgesetzes (ROG) mit Nichtigkeit bedroht. Eine solche Nichtigerklärung könne nur in einem gesonderten aufsichtsbehördlichen Verfahren vorgenommen werden, welches derzeit bereits anhängig sei.

Die Erstmitbeteiligte und der Zweitmitbeteiligte erhoben gegen diese Vorstellungsentscheidung vom die zur hg. Zl. 2009/06/0141 protokollierte Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof. Im Hinblick auf die Erlassung des nun angefochtenen Bescheides wurde die Beschwerde mit dem hg. Beschluss vom , Zl. 2009/06/0141, als gegenstandslos erklärt und das Verfahren eingestellt (ein Eingehen in die Sache erfolgte mit diesem Beschluss nicht).

Mit einer an die Gemeinde, die Beschwerdeführer sowie an alle mitbeteiligten Parteien gerichteten Erledigung vom gab die belangte Behörde bekannt, sie habe ein Verfahren zur Nichtigerklärung des Berufungsbescheides eingeleitet. Sie habe von Amts wegen davon Kenntnis erlangt, dass der Berufungsbescheid gegen § 4 Abs. 1 der Verordnung LGBl. Nr. 117/2005, wonach der Hochwasserabflussbereich des HQ 100 u.a. von Neubauten gemäß § 25 Abs. 3 Z. 1 lit. b ROG freizuhalten sei, verstoße. Über Anfrage habe die zuständige Fachabteilung der belangten Behörde mitgeteilt, dass am in der örtlich zuständigen Bezirkshauptmannschaft eine Informationsveranstaltung über die Ergebnisse der Hochwasserabflussuntersuchungen stattgefunden habe. Es habe auch die Gemeinde V. in der Person des Bürgermeisters daran teilgenommen. Bei dieser Veranstaltung seien die Projektstruktur der Abflussuntersuchung, die einzelnen Bearbeitungsschritte, sowie Hochwasseranschlaglinien, Fließgeschwindigkeiten und Wassertiefen für HQ 30, HQ 100 und HQ 300 präsentiert worden. Im Mai 2008 sei eine Vorinformation an alle betroffenen Gemeinden hinsichtlich der Ergebnisse dieser Untersuchung ergangen. Dabei sei jeder Gemeinde ein Übersichtslageplan (Vorabzug) mit der HQ 100-Anschlaglinie im Gemeindegebiet übermittelt worden. Dem Protokoll über die Sitzung des Gemeinderates vom sei zu entnehmen, dass der Bürgermeister den Gemeinderat über diese Untersuchung im Detail informiert habe. Dessen ungeachtet habe der Gemeinderat die Berufungen abgewiesen. Es sei aber in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass der Gemeinderat auf Grund seines eingeschränkten Prüfungsumfanges zu keinem anderen Ergebnis habe kommen können.

Der Berufungsbescheid widerspreche dem § 4 Abs. 1 dieser Verordnung. Der Verstoß dagegen sei gemäß § 13 Abs. 2 ROG mit Nichtigkeit bedroht.

§ 101 Abs. 1 der Gemeindeordnung 1967 (GemO) räume der Aufsichtsbehörde das Recht ein, einen rechtskräftigen Bescheid eines Gemeindeorgans auf Grund des § 68 Abs. 4 Z. 4 AVG zu beheben. Demnach werde das Nichtigerklärungsverfahren eingeleitet.

Verschiedene Mitbeteiligte gaben zustimmende Äußerungen ab. Die Beschwerdeführer äußerten sich ablehnend.

Mit dem angefochtenen Bescheid hat die belangte Behörde sowohl den Berufungsbescheid vom als auch den erstinstanzlichen Bescheid vom gemäß § 13 Abs. 1 und 2 ROG in Verbindung mit § 101 Abs. 1 GemO und § 68 Abs. 4 Z. 4 AVG aufgehoben und für nichtig erklärt.

Nach Darstellung des Verfahrensganges (auch wie in der Mitteilung vom ) führte die belangte Behörde (zusammengefasst) aus, § 4 Abs. 1 Z. 1 der Verordnung LGBl. Nr. 117/2005 regle, dass die Hochwasserabflussgebiete des HQ 100 u. a. von Neubauten gemäß § 25 Abs. 3 Z. 1 lit. b ROG freizuhalten seien. Gemäß Abs. 2 dieser Bestimmung seien lediglich Zubauten gemäß § 25 Abs. 3 lit. b ROG zulässig. Andere Ausnahmebestimmungen gebe es für Neubauten im Hochwasserabflussgebiet des HQ 100 in diesem Sinne nicht. Diese Verordnung sei mit in Kraft getreten. Das Sachprogramm sei zum Zweck der Freihaltung der Überflutungsbereiche sowie zur Verringerung von Gefährdungen und des Schadenspotenzials erlassen worden.

Nach Hinweis auf § 101 Abs. 1 und § 97 Abs. 2 GemO, § 68 Abs. 4 Z. 4 AVG und § 13 Abs. 1 und 2 ROG führte die belangte Behörde weiter aus, sowohl der erstinstanzliche Bescheid des Bürgermeisters als auch der Berufungsbescheid widersprächen eindeutig den Bestimmungen dieser Verordnung und seien somit rechtswidrig, wenn auch zu bedenken sei, dass die Berufungsbehörde auf Grund ihrer eingeschränkten Prüfungsbefugnis gar nicht anders habe entscheiden können.

Die offizielle Information über die Hochwasserabflussbereiche des HQ 100 bzw. die Vorinformation über die Überflutungsverhältnisse im Mai 2008 habe zwar erst am stattgefunden, dennoch sei auch der erstinstanzliche Baubewilligungsbescheid für nichtig zu erklären gewesen. Zum einen sei aus HORA bereits zum Zeitpunkt der Erlassung des erstinstanzlichen Baubewilligungsbescheides eindeutig erkennbar gewesen, dass der Standort auch unter Berücksichtigung des Maßstabes 1 : 10.000 zweifellos im Abflussbereich des HQ 100 liege, weil der Überflutungsbereich weit über den Standort des Schweinestalles hinausreiche. Zum anderen stellten beide Bescheide, nämlich jener des Bürgermeisters und der Berufungsbescheid, eine "kompakte Einheit" dar, sodass die Nichtigerklärung nur des Berufungsbescheides die Rechtssache nicht vollständig erledigen würde. Außerdem würde dies zum Ergebnis führen, dass Berufungsanträge noch offen wären, über die die Berufungsbehörde auf Grund der Rechtslage wiederum völlig inhaltsgleich entscheiden müsste.

Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Beschwerdeführer noch über andere, vom Abflussbereich des HQ 100 nicht betroffene Flächen verfügten, um dort das Projekt zu realisieren, und andere Möglichkeiten, den nunmehrigen Standort als Überflutungsbereich freizuhalten, nicht mehr zur Verfügung stünden, sei jedenfalls eine Nichtigerklärung gerechtfertigt gewesen.

Unzutreffend seien die Einwendungen der Beschwerdeführer, die belangte Behörde sei zur beabsichtigten Nichtigerklärung unzuständig, ihre Zuständigkeit ergebe sich vielmehr aus § 101 Abs. 1 GemO.

Das Programm zur hochwassersicheren Entwicklung der Siedlungsräume (Verordnung LGBl. Nr. 117/2005) stelle ein Entwicklungsprogramm im Sinne des § 8 ROG dar. Es sei keineswegs nur für künftiges Planungshandeln von Raumordnungsbehörden bestimmt. So enthalte es zur hochwassersicheren Entwicklung von Siedlungsräumen in seinem § 4 Abs. 1 eine Norm, die ausschließlich die Baubehörde und nicht bloß die Raumplanungsbehörde binde bzw. binden könne. Gerade im Zusammenhang mit Baulichkeiten, welche im Freiland entsprechend den Bestimmungen des § 25 ROG errichtet werden könnten, sei eine die Baubehörden bindende Regelung erforderlich, weil ein bloßes "Inpflichtnehmen" der Planungsbehörden im Zusammenhang mit Freilandbestimmungen ins Leere gehen würde.

Dem Vorhalt der Beschwerdeführer, eine näher bezeichnete Abflussuntersuchung könne deshalb nicht als Grundlage für eine Nichtigerklärung herangezogen werden, weil sie nicht den Bestimmtheitskriterien einer generellen Norm entspreche, somit keinen konkreten Bezug zu einem einzelnen Grundstück herstellen könne und als Studie nicht wie eine Verordnung kundgemacht worden sei, sei entgegen zu halten, dass die Abflussuntersuchung ebenso wie bereits die Darstellung in HORA speziell für das Baugrundstück jedenfalls die Lage im HQ 100 zweifellos erkennen ließen, zumal der Überflutungsbereich weit über dieses Grundstück hinausreiche. Der Vorwurf der nicht möglichen grundstücksscharfen Abgrenzung könne allenfalls in Grenzbereichen zutreffen, jedoch nicht im Beschwerdefall.

Weiters stelle diese Abflussuntersuchung eine Bestandaufnahme im Sinne des § 18 ROG dar und es sei eine Gemeinde ab Kenntnis verpflichtet, sowohl auf der Ebene der örtlichen Raumplanung als auch "als Baubehörde" bei möglichen Gefährdungen auf diese Bestandaufnahme entsprechend zu reagieren. Wenn dies nicht der Fall sei, habe die Aufsichtsbehörde in Wahrnehmung ihres Aufgabenbereiches, hier im Beschwerdefall, hierauf mit einer Nichtigerklärung zu reagieren. So habe die belangte Behörde als Aufsichtsbehörde im Jahr 2008 aus Anlass zahlreicher bekannt gegebener Abflussuntersuchungen den Gemeinden schriftlich u. a. auch mitgeteilt, dass diese Untersuchungen geänderte Planungsgrundlagen darstellten und daher eine Änderung sämtlicher örtlicher Planungsinstrumente erforderlich sei. Bis dahin, so sei mitgeteilt worden, hätten die Baubehörden die Kenntnis der Untersuchungsergebnisse in anhängigen Bauverfahren zu berücksichtigen. Auch die Gemeinde V. habe diese Mitteilung der Aufsichtsbehörde erhalten. Ähnlich verhalte es sich bei Gefahrenzonenplänen der Wildbach- und Lawinenverbauungen. Auch diese seien keine Verordnungen, sondern lediglich Gutachten.

Eine Bausperre gemäß § 13a ROG zu verhängen, wie die Beschwerdeführer meinten, würde hier ins Leere gehen, weil eine solche darauf abziele, die Zielsetzungen der Entwicklungsplanung im Falle von Freilandrückführungen auf Grund der Abflussuntersuchungen zu sichern. Eine derartige Vorgangsweise könne sich allenfalls im Zusammenhang mit einem Planungsverfahren und einer wesentlichen Neuordnung eines Gemeindegebietes ergeben, nicht aber im Fall einer bloßen Baubewilligung für ein Vorhaben im Freiland, welches vom Abflussbereich des HQ 100 betroffen sei.

Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit der belangten Behörde und inhaltlicher Rechtswidrigkeit.

Die belangte Behörde hat die Akten des Verwaltungsverfahrens vorgelegt und in einer Gegenschrift die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Auch die mitbeteiligten Parteien haben in sechs inhaltsgleichen Gegenschriften durch die gleichen Vertreter die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Im Beschwerdefall war das Steiermärkische Raumordnungsgesetz 1974, LGBl. Nr. 127 (ROG) maßgeblich, und zwar in der Fassung LGBl. Nr. 89/2008, soweit es allerdings um die Auslegung der Widmung "Freiland" ging, in der Fassung zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Flächenwidmungsplan (wobei sich diesbezüglich durch die nachfolgenden Novellen keine Änderungen ergaben).

Die im Beschwerdefall insbesondere relevanten Bestimmungen

lauten (auszugsweise):

"§ 3

Raumordnungsgrundsätze

(1) Raumordnungsgrundsätze:

1. Die Qualität der natürlichen Lebensgrundlagen ist durch sparsame und sorgsame Verwendung der natürlichen Ressourcen wie Boden, Wasser und Luft zu erhalten und soweit erforderlich nachhaltig zu verbessern.

2. Die Nutzung von Grundflächen hat unter Beachtung eines sparsamen Flächenverbrauches, einer wirtschaftlichen Aufschließung sowie weit gehender Vermeidung gegenseitiger nachteiliger Beeinträchtigungen zu erfolgen. Die Zersiedelung der Landschaft ist zu vermeiden.

3. Die Ordnung benachbarter Räume sowie raumbedeutsame Planungen und Maßnahmen aller Gebietskörperschaften sind aufeinander abzustimmen.

(2) Hiebei sind folgende Ziele abzuwägen:

1. Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialstruktur der Regionen des Landes unter Bedachtnahme auf die jeweiligen räumlichen und strukturellen Gegebenheiten.

2. Entwicklung der Siedlungsstruktur

...

- unter Vermeidung von Gefährdung durch Naturgewalten und Umweltschäden durch entsprechende Standortauswahl.

3. ..."

"§ 8

Entwicklungsprogramme

(1) Die Landesregierung hat in Durchführung der Aufgaben der überörtlichen Raumordnung (§ 6) durch Verordnung Entwicklungsprogramme zu erstellen bzw. fortzuführen.

(2) Entwicklungsprogramme bestehen aus dem Wortlaut und den allenfalls erforderlichen planlichen Darstellungen.

(3) Zur Begründung eines Entwicklungsprogramms ist ein Erläuterungsbericht zu erstellen, der sich auch auf den allenfalls erforderlichen Differenzplan zu beziehen hat.

(4) Entwicklungsprogramme können erstellt werden für:


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1.
das gesamte Landesgebiet als Landesentwicklungsprogramm;
2.
Sachbereiche als Sachprogramme;
3.
Teile des Landesgebietes als regionale und bei Bedarf als teilregionale Entwicklungsprogramme, die einen oder mehrere Sachbereiche umfassen.

(5) Grundlagen eines Entwicklungsprogramms sind:


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1.
eine Bestandsaufnahme;
2.
eine Stärken- /Schwächendarstellung;
3.
die Darlegung der Entwicklungsmöglichkeiten.

(6) Bei der Erstellung der Entwicklungsprogramme sind rechtswirksame Planungen des Bundes zu berücksichtigen. Auf sonstige Planungen des Bundes sowie auf Planungen der benachbarten Länder, der Gemeinden, sonstiger Körperschaften öffentlichen Rechtes sowie anderer Planungsträger und der Unternehmungen von besonderer Bedeutung ist tunlichst Bedacht zu nehmen. Insbesondere sind die strategischen Lärmkarten und die Aktionspläne, die auf Grund von Vorschriften betreffend Umgebungslärm erlassen wurden, zu berücksichtigen.

(7) Rechtswirksame Planungen des Bundes sind in den Entwicklungsprogrammen ersichtlich zu machen.

(8) Die Landesregierung hat für den Sachbereich Umgebungslärm ein Entwicklungsprogramm aufzustellen. ...

(9) In einem Entwicklungsprogramm zum Sachbereich Luft können

... ."

"§ 13

Wirkung

(1) Verordnungen und Bescheide auf Grund von Landesgesetzen dürfen nur im Einklang mit den Entwicklungsprogrammen erlassen werden.

(2) Entgegen der Vorschrift des Abs. 1 erlassene Bescheide sind innerhalb von drei Jahren nach Eintreten der Rechtskraft mit Nichtigkeit bedroht (§ 68 Abs. 4 lit. d AVG 1950).

(3)..."

"§ 25

Freiland

(1) Alle nicht als Bauland oder Verkehrsflächen festgelegten Grundflächen gehören zum Freiland.

(2) Im Freiland können Flächen als Sondernutzung festgelegt werden, soweit nicht eine Ersichtlichmachung auf Grund der überörtlichen Raumordnung (§ 6) zu erfolgen hat. Als Sondernutzungen gelten insbesondere: ...

(3) Im Freiland dürfen

1. nur Neu und Zubauten errichtet werden,


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a)
die für eine bestimmungsgemäße Nutzung gemäß Abs. 2 Z. 1 oder
b)
für einen land- und forstwirtschaftlichen Betrieb erforderlich sind oder
c) wenn ein Auffüllungsgebiet festgelegt ist;
2. ...

(4) ..."

Die (gemäß ihrer Präambel auf Grund des § 8 ROG erlassene) Verordnung der Steiermärkischen Landesregierung vom über ein Programm zur hochwassersicheren Entwicklung der Siedlungsräume, LGBl. Nr. 117/2005, lautet (zum Teil auszugsweise):

"§ 1

Allgemeines

(1) Ziel dieses Entwicklungsprogramms ist die Minimierung des Risikos bei Hochwasserereignissen bzw. Ereignissen in Wildbach und Lawineneinzugsgebieten durch Raumordnungsmaßnahmen.

(2) Das Entwicklungsprogramm besteht aus dem Wortlaut und den planlichen Darstellungen (Anlage). Die Anlage wird durch Auflage zur allgemeinen Einsichtnahme kundgemacht. Einsicht kann während der Amtsstunden genommen werden: (...)

§ 2

Begriffsbestimmungen

(1) Das hundertjährliche Hochwasser (HQ 100) laut Abflussuntersuchungen der Bundeswasserbauverwaltung wird in einer unendlich lang gedachten Reihe von Beobachtungsjahren im Durchschnitt alle 100 Jahre erreicht oder überschritten.

(2) ...

§ 3

Grundsätze und Prioritäten

(1) Zur Minimierung des Risikos bei Hochwasserereignissen im Sinne der Raumordnungsgrundsätze nach § 3 Abs. 1 und der dabei zu berücksichtigenden Ziele nach § 3 Abs. 2 Z. 2 des Steiermärkischen Raumordnungsgesetzes (ROG) sind die räumlichen Vorraussetzungen für den Wasserrückhalt im Einzugsgebiet und im Abflussbereich eines Hochwassers zu erhalten und zu verbessern. Hierfür sind in den Retentions- und Abflussgebieten von Hochwässern zusammenhängende Freiräume zu erhalten, um das Gefährdungs- und Schadenspotenzial bei Hochwasserereignissen so gering wie möglich zu halten. Diese Räume erfüllen neben den Funktionen des passiven Hochwasserschutzes oft auch weitere bedeutende Freiraumfunktionen als landwirtschaftlich genutzte Flächen, für Erholungsnutzungen bzw. als für den Arten und Biotopschutz bedeutende Flächen.

(2) Die vorausschauende Freihaltung der Hochwasserretentions- und Abflussräume sowie der Gefahrenzonen der Wildbach und Lawinenverbauung hat Priorität vor der nachträglichen Sanierung.

§ 4

Maßnahmen

(1) Folgende Bereiche sind von Baugebieten gemäß § 23 Abs. 1 und 3 von solchen Sondernutzungen im Freiland gemäß § 25 Abs. 2 ROG, die das Schadenspotenzial erhöhen und Abflusshindernisse darstellen (wie z.B. Auffüllungsgebiete), sowie von Neubauten gemäß § 25 Abs. 3 Z. 1 lit. b ROG freizuhalten:


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1.
Hochwasserabflussgebiete des HQ 100,
2.
Rote Gefahrenzonen der nach den forstrechtlichen Bestimmungen erlassenen Gefahrenzonenplänen,
3. Flächen, die sich für Hochwasserschutzmaßnahmen besonders eignen, und blaue Vorbehaltsbereiche der nach den forstrechtlichen Bestimmungen erlassenen Gefahrenzonenplänen und
4. Uferstreifen entlang natürlich fließender Gewässer von mindestens 10 m, gemessen ab der Böschungsoberkante (im funktional begründeten Einzellfall auch darüber hinaus).

(2) Abweichend von Abs. 1 Z. 1 sind Zubauten gemäß § 25 Abs. 3 Z. 1 lit. b ROG sowie Ausweisungen gemäß der folgenden Tabelle im Hochwasserabflussgebiet des HQ 100 zulässig:

(Anmerkung: es folgt eine Tabelle; die dort genannten Fälle treffen im Beschwerdefall nicht zu)

(3) Abweichend von Abs. 1 Z. 4 können für Baulückenschließungen geringen Ausmaßes Ausnahmen gewährt werden. Dabei ist die ökologische Funktion des jeweiligen Uferstreifens zu berücksichtigen.

(4) Wenn für ein Gewässer das Hochwasserabflussgebiet des HQ 100 noch nicht festgelegt wurde, sind für die Ausweisung von Baugebieten gemäß § 23 und von solchen Sondernutzungen im Freiland gemäß § 25 Abs. 2 ROG, die das Schadenspotenzial erhöhen und Abflusshindernisse darstellen, auf Grund von Ereignissen festgelegte Hochwasseranschlaglinien (HA oder HW) heranzuziehen. Liegen auch solche Grundlagen nicht vor, ist eine Stellungnahme der hierfür zuständigen Dienststelle des Amtes der Landesregierung über die mögliche Lage innerhalb der Abflussgebiete eines HQ 100 zwingend erforderlich.

(5) Wenn für eine Gemeinde noch kein Gefahrenzonenplan der Wildbach und Lawinenverbauung besteht, ist für die Ausweisung von Baugebieten gemäß § 23 und von solchen Sondernutzungen im Freiland gemäß § 25 Abs. 2 ROG, die das Schadenspotenzial erhöhen und Abflusshindernisse darstellen, eine Stellungnahme der zuständigen Gebietsbauleitung der Wildbach und Lawinenverbauung zwingend erforderlich.

§ 5

Übergangsbestimmungen

(1) Die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung anhängige Planungsverfahren sind nach der bisher geltenden Rechtslage zu Ende zu führen, sofern zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Verordnung der Beschluss über die Auflage gemäß § 29 Abs. 3 ROG bereits gefasst wurde.

(2) Bis zur Festlegung der Vorrangzonen für die Siedlungsentwicklung in den rechtskräftigen Regionalen Entwicklungsprogrammen bzw. in den jeweiligen Auflageentwürfen gelten die in der Anlage dieser Verordnung festgelegten Regionalen Siedlungsschwerpunkte als Vorrangzonen für die Siedlungsentwicklung.

§ 6

Inkrafttreten

Diese Verordnung tritt mit dem der Kundmachung folgenden Monatsersten, das ist der , in Kraft."

Im Beschwerdefall ist weiters die Steiermärkische Gemeindeordnung 1967 (GemO), LGBl. Nr. 115, in der Fassung LGBl. Nr. 92/2008 maßgeblich.

Die im Beschwerdefall insbesondere relevanten Bestimmungen

lauten (der genannte § 94 regelt die Vorstellung):

"§ 97

Aufsichtsbehörde

(1) Aufsichtsbehörde ist die Landesregierung. Sie kann sich zur Überprüfung der Gemeinden (§§ 87 und 98) sowie für Erhebungen und Ermittlungen der Bezirksverwaltungsbehörden bedienen.

(2) Die Aufsichtsbehörde hat unter möglichster Bedachtnahme auf die Eigenverantwortlichkeit der Gemeinde und unter möglichster Schonung erworbener Rechte Dritter vorzugehen. Stehen im Einzelfall verschiedene Aufsichtsmittel zur Verfügung, so ist das jeweils gelindeste noch zum Ziel führende Mittel anzuwenden.

(3) ..."

"§ 101

Sonstige Behebung von Bescheiden

(1) Außer im Fall des § 94 kann ein rechtskräftiger Bescheid eines Gemeindeorganes von der Aufsichtsbehörde nur aus den Gründen des § 68 Abs. 3 und 4 des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes AVG behoben werden.

(2) Nach Ablauf von 3 Jahren nach Erlassung eines Bescheides ist dessen Behebung aus den Gründen des § 68 Abs. 4 lit. a des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensgesetzes AVG nicht mehr zulässig."

Gemäß § 105 Abs. 1 GemO kam im zu Grunde liegenden aufsichtsbehördlichen Verfahren nebst der Gemeinde auch jenen Personen Parteistellung zu, die als Parteien an dem von der Gemeinde durchgeführten Verwaltungsverfahren beteiligt waren.

Im zu Grunde liegenden Bauverfahren war das Steiermärkische Baugesetz 1995, LGBl. Nr. 59 (Stmk. BauG), soweit hier erheblich, in der Fassung der Novelle LGBl. Nr. 73/2001 anzuwenden.

§ 5 Abs. 1 BauG lautet auszugsweise:

"§ 5

Bauplatzeignung

(1) Eine Grundstücksfläche ist als Bauplatz für die vorgesehene Bebauung geeignet, wenn


Tabelle in neuem Fenster öffnen
1.
...
5.
Gefährdungen durch Lawinen, Hochwasser, Grundwasser, Vermurungen, Steinschlag, Rutschungen u.dgl. nicht zu erwarten sind und
6. ...

(2) ..."

Was die geltend gemachte Unzuständigkeit der belangten Behörde anlangt, ist wohl richtig, dass sie im Verhältnis zu den Gemeindeorganen nicht "Oberbehörde" ist, ihre Zuständigkeit zur Nichtigerklärung von gemeindebehördlichen Bescheiden ergibt sich aber, worauf im angefochtenen Bescheid verwiesen wurde, aus § 101 Abs. 1 GemO; § 68 AVG fand nur hinsichtlich der Gründe der Aufhebung Anwendung.

Die Verordnung LGBl. Nr. 117/2005 wurde als Verordnung gemäß § 8 ROG erlassen. Ebenfalls zutreffend hat die belangte Behörde darauf verwiesen, dass sich die Verordnung nicht nur an die Planungsorgane wendet, sondern auch an die Baubehörden, weil in § 4 Abs. 1 dieser Verordnung vorgesehen ist, dass die im folgenden genannten Bereich von Neubauten gemäß § 25 Abs. 3 Z. 1 lit. b ROG freizuhalten sind (vgl. auch die korrespondierende Bestimmung des § 5 BauG, wonach eine Grundstücksfläche als Bauplatz geeignet ist, wenn Gefährdungen u.a. durch Hochwasser nicht zu erwarten sind; schon § 1 Abs. 1 der Stmk. Bauordnung 1968, LGBl. Nr. 149, bestimmte, dass Bauplätze nicht durch Hochwasser gefährdet sein durften).

Soweit die Beschwerdeführer ins Treffen führen, aus der Verordnung könne kein Hinweis gefunden werden, dass eine Bautätigkeit konkret auf den gegenständlichen Bauplatz gegen diese Verordnung verstieße, es ermangle der Verordnung an einer entsprechenden planlichen Darstellung, verkennen sie den Regelungsinhalt: Nach dem im Beschwerdefall maßgeblichen § 4 Abs. 1 Z. 1 dieser Verordnung sind Hochwasserabflussgebiete des HQ 100 u.a. von Neubauten gemäß § 25 Abs. 3 Z. 1 lit. b ROG (das trifft auch im Beschwerdefall zu) freizuhalten. Ob sich der Bauplatz in einem solchen Gebiet befindet, ist eine Sachverhaltsfrage, die im Beschwerdefall bejaht wurde. Die diesbezüglich unsubstanziierten Beschwerdeausführungen vermögen daran keine Bedenken zu erwecken (es gibt diesbezüglich im Übrigen auch Planunterlagen im Maßstab 1 : 5.000, nicht etwa bloß im Maßstab 1 : 20.000, wie man der Beschwerde entnehmen könnte). Wenn § 13 Abs. 1 und 2 ROG vorsehen, dass auch Bescheide im Einklang mit Entwicklungsprogrammen erlassen werden müssen und widrigenfalls wegen Nichtigkeit aufgehoben werden dürfen, so räumt das Gesetz insofern einem Entwicklungsprogramm unmittelbare Wirksamkeit ein.

Die Beurteilung der belangten Behörde, dass die erteilte Baubewilligung gegen § 4 Abs. 1 der Verordnung LGBl. Nr. 117/2005 verstößt, ist daher unbedenklich.

Es handelt sich bei dieser Verordnung um ein Entwicklungsprogramm im Sinne des § 8 und damit auch im Sinne des § 13 ROG, womit ein Verstoß dagegen der Nichtigkeitssanktion des § 13 Abs. 2 ROG unterfällt. Auf die Erlassung oder Nichterlassung einer Bausperre gemäß § 13a ROG kommt es dabei nicht an.

Damit waren die Voraussetzungen für eine Nichtigerklärung gegeben.

Die Nichtigerklärung des Berufungsbescheides erfolgte daher zu Recht.

Zu prüfen ist aber, ob auch die Voraussetzungen für die Nichtigerklärung des Bescheides des Bürgermeisters gegeben waren, weil § 101 Abs. 1 GemO auf die Nichtigerklärung rechtskräftiger Bescheide abstellt.

Der Verwaltungsgerichtshof teilt die Auffassung der belangten Behörde, dass bei der Ausgangslage des Beschwerdefalles auch die Nichtigerklärung der erstinstanzlichen Baubewilligung rechtens war, um die Möglichkeit einer neuerlichen Entscheidung in erster Instanz unter Berücksichtigung der Bauplatzeignung zu eröffnen.

Die Beschwerde war daher gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. II Nr. 455/2008. Die sieben Mitbeteiligten haben durch dieselben Vertreter sechs inhaltsgleiche Gegenschriften eingebracht und in jeder Gegenschrift den vollen Schriftsatzaufwand angesprochen; gemäß § 49 Abs. 6 VwGG gebührt er aber nur einmal. Das Mehrbegehren war daher abzuweisen.

Wien, am