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VwGH vom 14.07.2021, Ra 2021/14/0066

VwGH vom 14.07.2021, Ra 2021/14/0066

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das am mündlich verkündete und mit schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts, I407 2155961-1/20E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Partei: X Y in Z), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgehoben.

Begründung

1Der Mitbeteiligte, ein staatenloser Palästinenser, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den er zusammengefasst damit begründete, dass er als ein im Irak geborener Palästinenser dort misshandelt worden sei.

2Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl diesen Antrag vollinhaltlich ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte die Behörde mit vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.

3Der dagegen erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit dem am mündlich verkündeten und am schriftlich ausgefertigten Erkenntnis nach Durchführung einer Verhandlung statt, erkannte dem Mitbeteiligten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 den Status des Asylberechtigten zu, stellte gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 fest, dass ihm kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukomme und behob die übrigen Spruchpunkte des Bescheides ersatzlos. Unter einem wurde ausgesprochen, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4Das Bundesverwaltungsgericht ging bei seiner Begründung der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten im angefochtenen Erkenntnis davon aus, dass der Mitbeteiligte wegen seiner palästinensischen Abstammung in seinem Herkunftsstaat wiederholt Schikanen und körperlichen Verletzungen durch den IS und dem irakischen Militär oder Milizen angehörenden Personen ausgesetzt gewesen sei. Bei diesen willkürlichen körperlichen Übergriffen handle es sich um Verfolgungshandlungen. Den Länderfeststellungen folgend würden diese Übergriffe dadurch begünstigt, dass der Zugang zu fairen Gerichtsverfahren und staatlichem Schutz eine Herausforderung darstelle. Der Mitbeteiligte könne mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit daher keinen staatlichen Schutz erwarten. Bei Bekanntwerden seines langzeitigen Aufenthalts im Ausland wäre der Mitbeteiligte mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit besonders gefährdet, erneut körperlichen Übergriffen durch das Militär ausgesetzt zu werden. Da ihm kein staatlicher Schutz zukomme und keine innerstaatliche Fluchtalternative möglich sei, liege eine asylrechtlich relevante Verfolgung aufgrund eines GFK-Grundes vor.

5Dem Mitbeteiligten stehe keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung, da aufgrund der zahlreichen Checkpoints die Gefahr drohe, als Palästinenser aufzufallen und erneut verfolgt zu werden. Er habe aufgrund der starken Vernetzung der Milizen mit dem gesamten irakischen staatlichen Behördenapparat keine Möglichkeit zu einer innerstaatlichen Fluchtalternative. Vor seiner Ausreise habe er nach erlittenen Schikanen und körperlichen Übergriffen vergeblich versucht, bei seiner Schwester in Erbil unterzukommen und sich ein Leben in Sicherheit aufzubauen.

6Dagegen richtet sich die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten das Vorverfahren eingeleitet hat. Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er beantragte, die Revision als unzulässig zurückzuweisen oder hilfsweise zu verwerfen.

7Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision erwogen:

8Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl bringt zur Zulässigkeit seiner Amtsrevision vor, die Begründung des angefochtenen Erkenntnisses entspräche nicht dem in der Rechtsprechung aufgestellten Erfordernis, weil das Bundesverwaltungsgericht seinem Erkenntnis keine Länderberichte zugrunde gelegt habe, welche die Annahme einer Verfolgung aufgrund eines langjährigen Aufenthaltes im Ausland stützen würden. Zudem habe sich das Bundesverwaltungsgericht nicht mit der „EASO Country Guidance: Iraq vom Juni 2019“ auseinandergesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht weiche hinsichtlich der angenommenen Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative mehrfach von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Begründungspflicht ab.

9Die Amtsrevision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.

10Der Verwaltungsgerichtshof hat zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt ausgesprochen, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den § 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. , mwN).

11Der festgestellte Sachverhalt ist für die Beurteilung der Frage, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 vorliegen, jedoch in mehrfacher Hinsicht unvollständig.

12Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ist, dass dem Asylwerber im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung, droht.

13Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (vgl. ; , Ra 2019/01/0472, jeweils mwN).

14Nicht jede diskriminierende Maßnahme gegen eine Person ist als „Verfolgung“ iSd Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anzusehen, sondern nur solche, die in ihrer Gesamtheit zu einer schwerwiegenden Verletzung grundlegender Menschenrechte der Betroffenen führen (vgl. etwa , Rn. 27, unter Bezugnahme auf Art. 9 Abs. 1 der Statusrichtlinie 2011/95/EU).

15Fehlt ein kausaler Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen, kommt die Asylgewährung nicht in Betracht (vgl. , Rn. 17, mwN).

16Das Bundesverwaltungsgericht hat festgestellt, dass der Mitbeteiligte in seinem Herkunftsstaat aufgrund seiner Mitgliedschaft zur Gruppe der Palästinenser irakischer Herkunft geschlagen und anschließend verhaftet worden sei.

17Allein mit diesen Feststellungen, wobei in der Beweiswürdigung von wiederholten Schikanen und Übergriffen - ohne diese näher auszuführen - gesprochen wird, kann eine Asylrelevanz im dargestellten Sinn nicht begründet werden. Es wurden zu den für die Asylzuerkennung herangezogenen Handlungen keine Feststellungen zu Art und Umfang der Übergriffe als auch zu den genauen Begebenheiten getroffen, die es ermöglichen würden, zu beurteilen, ob diese Gefahren jene erhebliche Intensität erreichen würden, bei der sie als Verfolgung zu qualifizieren wären. Ob dies der Fall ist, ist im Einzelfall zu prüfen und in einer die nachprüfende Kontrolle ermöglichenden Begründung darzulegen ().

18Zudem sind dem Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts entsprechende Länderfeststellungen und demzufolge eine ausreichende Begründung zu der Erwägung, dass dem Mitbeteiligten bei Bekanntwerden seines langjährigen Aufenthaltes im Ausland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit erneut körperliche Übergriffe drohen würden und er keinen staatlichen Schutz erwarten könne, nicht zu entnehmen. Sofern das Bundesverwaltungsgericht daher den langjährigen Aufenthalt im Ausland für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten herangezogen hat, ist der Revision dahingehend zuzustimmen, dass der Mitbeteiligte ein dahingehendes Fluchtvorbringen gar nicht erstattet hat.

19Kann Asylwerbern in einem Teil ihres Herkunftsstaates vom Staat oder sonstigen Akteuren, die den Herkunftsstaat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, Schutz gewährleistet werden, und kann ihnen der Aufenthalt in diesem Teil des Staatsgebietes zugemutet werden, so ist der Antrag auf internationalen Schutz nach § 11 Abs. 1 AsylG 2005 abzuweisen (innerstaatliche Fluchtalternative). Schutz ist demnach gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.

20Die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative erfordert im Hinblick auf das ihr u.a. innewohnende Zumutbarkeitskalkül insbesondere nähere Feststellungen über die zu erwartende konkrete Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit (zum Ganzen , mwN).

21Hinsichtlich der Prüfung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme handelt es sich letztlich um eine Entscheidung im Einzelfall, die auf der Grundlage ausreichender Feststellungen über die zu erwartende Lage des Asylwerbers in dem in Frage kommenden Gebiet sowie dessen sichere und legale Erreichbarkeit getroffen werden muss (, mwN).

22Das Bundesverwaltungsgericht verneinte die Möglichkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative in Erbil aufgrund der starken Vernetzung der Milizen mit dem gesamten staatlichen Behördenapparat und weil der Mitbeteiligte bereits vergeblich versucht habe, bei seiner Schwester in Erbil unterzukommen und sich ein Leben in Sicherheit aufzubauen. Es lässt jedoch unberücksichtigt, dass das Verlassen von Erbil von dem Mitbeteiligten in seiner Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl damit begründet wurde, dass die Eltern des Mitbeteiligten in ihre Heimat (Mossul) zurückkehren hätten wollen und das Leben in Erbil teuer gewesen sei. Auch fehlen entsprechende Feststellungen zur Nichterreichbarkeit von Erbil.

23Zudem zeigt die Revision zutreffend auf, dass das Bundesverwaltungsgericht die „EASO Country Guidance Iraq“ vom Juni 2019 unberücksichtigt gelassen hat, in der die Inanspruchnahme einer innerstaatliche Fluchtalternative u.a. in Erbil für alleinstehende, arbeitsfähige Männer mit entsprechendem ethnischen und religiösen Hintergrund grundsätzlich auch ohne ein sie unterstützendes Netzwerk als zumutbar erachtet werde (vgl. EASO Country Guidance: Iraq, Juni 2019, S. 138 und vom Jänner 2021, S. 175). Im fortgesetzten Verfahren wird sich das Bundesverwaltungsgericht auch damit auseinanderzusetzen haben.

24Ohne die fallbezogen noch ausstehenden Feststellungen kann auch auf die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zur Asylrelevanz der Übergriffe beim Mitbeteiligten als „Mitglied der sozialen Gruppe der Palästinenser irakischer Herkunft“ und auf die soweit mit dieser Begründung auch verneinte Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative noch nicht eingegangen werden, insbesondere weil auch zur Beurteilung des Vorliegens einer Verfolgung aus dem Konventionsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe Feststellungen zu den Merkmalen und zur abgegrenzten Identität dieser Gruppe als auch zum kausalen Zusammenhang mit der Verfolgung fehlen (vgl. erneut , Rn. 17). Auch in diesem Zusammenhang wird der „EASO Country Guidance Iraq“ (nunmehr) vom Jänner 2021 Beachtung zu schenken sein, die eine generelle Verfolgung von Palästinensern nicht darlegt (siehe Seiten 97 ff).

25Das Bundesverwaltungsgericht hat aus den aufgezeigten Gründen die Rechtslage verkannt und infolgedessen für die Entscheidung wesentliche Feststellungen nicht getroffen. Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen - vorrangig wahrzunehmende - Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufzuheben.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021140066.L00

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