VwGH vom 22.10.2021, Ra 2021/14/0029
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, die Hofrätin Mag. Rossmeisel und den Hofrat Dr. Himberger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Gnilsen, über die Revision des A B, vertreten durch Mag. Dr. Anton Karner, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Steyrergasse 103/2, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , W184 1420605-3/5E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005).
2Mit Bescheid vom wies das Bundesasylamt den Antrag hinsichtlich des Begehrens auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten ab und erkannte dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu. Unter einem wurde dem Revisionswerber eine befristete - und mehrfach, zuletzt bis verlängerte - Aufenthaltsberechtigung erteilt.
3Mit Bescheid vom erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten wieder ab, entzog ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung und erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Weiters erließ die Behörde eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Afghanistan zulässig sei und legte für die freiwillige Ausreise eine Frist von zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
4Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung und ausdrücklich gestützt u.a. auf § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
5Begründend stellte das BVwG fest, aus welchen Gründen dem Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde. So sei damals erwogen worden, dass Rückkehrer aufgrund der schwierigen Allgemeinsituation in Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten könnten, wenn ihnen ein soziales oder familiäres Netzwerk fehle. Dem Revisionswerber drohe (nunmehr) im Herkunftsstaat keine reale Gefahr einer unmenschlichen Behandlung. Ihm stehe eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative in den verhältnismäßig sicheren Provinzen Afghanistans zur Verfügung. Die berufliche und soziale Integration des Revisionswerbers in die österreichische Gesellschaft sei in Relation zum bereits neunjährigen Aufenthalt nicht weit fortgeschritten. Er habe einen Polytechnischen Lehrgang und einen Sprachkurs Niveau A2 besucht, die Integrationsprüfung aber noch nicht abgelegt. Insgesamt sei er über einen Zeitraum von drei Jahren beschäftigt gewesen und habe in den übrigen Zeiten Arbeitslosengeld bezogen. Er sei unbescholten.
6Die Beweiswürdigung erschöpft sich darin, dass sich der wesentliche Sachverhalt aus dem Verwaltungsakt und dem Verwaltungsgerichtsakt ergebe.
7In rechtlicher Hinsicht erwog das BVwG zur Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten - nach Wiedergabe des Gesetzeswortlautes, von Judikatur und des Inhaltes von Richtlinien der EASO und des UNHCR -, dass in den Städten Herat und Mazar-e Sharif das Niveau an willkürlicher Gewalt so gering sei, dass für Zivilisten nicht die Gefahr der Betroffenheit von erheblichen Eingriffen in die psychische oder physische Unversehrtheit bestehe. Diese Städte seien sicher und legal zu erreichen, die Versorgung der Bevölkerung sei zumindest grundlegend gesichert. Der Revisionswerber sei arbeitsfähig und mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertraut. Als Angehöriger der Volksgruppe der Hazara finde er sich in Herat gut zurecht. Es sei ihm möglich, sich eine Existenz aufzubauen und eine Unterkunft zu finden. Schließlich führte das BVwG im Hinblick auf die Rückkehrentscheidung eine Interessenabwägung nach § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) durch, und kam dabei zum Ergebnis, dass die für die aufenthaltsbeendende Maßnahme sprechenden öffentlichen Interessen schwerer wögen als die persönlichen Interessen des Revisionswerbers: Er habe den Großteil seines Lebens in Afghanistan verbracht und sei erst vor rund neun Jahren in das Bundesgebiet eingereist. Es habe zu keinem Zeitpunkt ein unbefristeter Aufenthaltstitel bestanden. Schließlich bezog das BVG noch seine Feststellungen zur Integration des Revisionswerbers in die Abwägung mit ein.
8Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit unter anderem vorbringt, es liege eine Abweichung von gefestigter Rechtsprechung vor: So wäre die Integration des Revisionswerbers, der das zehnte Jahr im Bundesgebiet sei, durch eine mündliche Verhandlung zu prüfen gewesen.
9Nach Vorlage der Revision samt den Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof wurde keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat - erwogen:
10Die Revision ist aus dem oben angeführten Grund zulässig und im Ergebnis auch begründet.
11Von der in der Beschwerde ausdrücklich beantragten Verhandlung hätte zwar bei Vorliegen der in § 21 Abs. 7 BFA-VG umschriebenen Voraussetzungen abgesehen werden dürfen. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung kann bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen aber im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten eines Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen persönlichen Eindruck verschafft (, mwN). Es ist grundsätzlich immer auch Aufgabe des BVwG, sich vor Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme im Rahmen einer mündlichen Verhandlung selbst einen persönlichen Eindruck vom Fremden zu verschaffen, sofern nicht ausnahmsweise ein eindeutiger Fall gegeben sei. Von dieser Verpflichtung wäre das BVwG auch dann nicht entbunden, wenn das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im erstinstanzlichen Verfahren eine persönliche Einvernahme durchgeführt hätte (vgl. , mwN), wobei im vorliegenden Verfahren selbst dies unterblieben ist.
12Von einem eindeutigen Fall betreffend die Rückkehrentscheidung im Sinne der zitierten Rechtsprechung, der ausnahmsweise ein Absehen von der mündlichen Verhandlung gerechtfertigt hätte, kann angesichts der bisherigen Aufenthaltsdauer und der Unbescholtenheit des Revisionswerbers nicht ausgegangen werden (vgl. etwa ).
13Das Erkenntnis des BVwG leidet jedoch auch an einer - vorrangig aufzugreifenden - inhaltlichen Rechtswidrigkeit.
14Das BVwG hat die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten im Ergebnis allein damit begründet, dass die Voraussetzungen für die Gewährung eines solchen Status an den Revisionswerber aktuell nicht vorliegen würden. Es hat dabei keinerlei Bezug zu den Voraussetzungen für eine solche Aufhebung nach § 9 AsylG 2005 hergestellt und nicht einmal im Ansatz begründet, dass oder warum diese vorliegen würden.
15Auch § 9 Abs. 1 Z 1 erster Fall AsylG 2005 („wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht vorliegen“) ermöglicht es der Behörde nicht, ohne Bedachtnahme auf die Entscheidung über die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten stets losgelöst davon eine Neubewertung vorzunehmen, ob die Voraussetzungen für die Zuerkennung von subsidiärem Schutz vorlägen, und die Aberkennung dieses Status auszusprechen ().
16Das BVwG hat zwar Feststellungen zu den Gründen für die ursprüngliche Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit Bescheid vom getroffen. Allein darauf lässt sich jedoch auch keine Aberkennung nach § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 („wenn die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht mehr vorliegen“) stützen.
17Es wäre nämlich unzutreffend, bei der Prüfung des Wegfalls jener Umstände im Sinn des § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005, die zur Schutzgewährung geführt hatten, von einem Vergleich zwischen dem Zeitpunkt der Zuerkennung und jenem der Aberkennung auszugehen und dabei unbeachtet zu lassen, dass dem Revisionswerber mittlerweile die Verlängerung der Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 gewährt worden war. Nach dieser Gesetzesstelle kommt eine Verlängerung nämlich nur dann in Betracht, wenn die Voraussetzungen für die Gewährung von subsidiärem Schutz im Zeitpunkt der Entscheidung über den Verlängerungsantrag weiter vorliegen (vgl. , mwN).
18Zusammengefasst ist es unter Berücksichtigung der Rechtskraftwirkungen von Bescheiden nicht zulässig, die Aberkennung auszusprechen, obwohl sich der Sachverhalt seit der Zuerkennung des subsidiären Schutzes bzw. der erfolgten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 nicht geändert hat. Bei Hinzutreten von neuen Sachverhaltselementen, die für die Beurteilung nach § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 von Bedeutung sein können, hat die Behörde - oder hier das Verwaltungsgericht - eine neue Beurteilung vorzunehmen und nachvollziehbar darzulegen, warum sie davon ausgeht, dass die Voraussetzungen des zur Anwendung gebrachten Tatbestandes gemäß § 9 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 gegeben seien (vgl. , mwN).
19Indem das BVwG die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten nach § 9 Abs. 1 Z 1 zweiter Fall AsylG 2005 allein auf das (aktuelle) Nichtvorliegen der dafür erforderlichen Voraussetzungen nach § 8 Abs. 1 AsylG 2005 gestützt hat, ohne darauf abzustellen, inwieweit sich der Sachverhalt seit der letzten Verlängerung der befristeten Aufenthaltsberechtigung nach § 8 Abs. 4 AsylG 2005 geändert hat, hat es sein Erkenntnis daher mit Rechtswidrigkeit belastet.
20Sohin war das angefochtene Erkenntnis zur Gänze wegen (vorrangiger) inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
21Die Kostenentscheidung gründet sich auf die § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021140029.L01 |
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