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VwGH vom 20.01.2011, 2007/01/0805

VwGH vom 20.01.2011, 2007/01/0805

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Vizepräsident Dr. Thienel und die Hofräte Dr. Blaschek, Dr. Kleiser, Dr. Hofbauer und Dr. Fasching als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Jäger, über die Beschwerde der Z H (geboren 1977) in S, vertreten durch Rechtsanwaltsgemeinschaft Mory Schellhorn OEG in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom , Zl. 310.272-1/6E-XV/54/07, betreffend §§ 7, 8 Abs. 1 und 3 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesminister für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird im Umfang seiner Anfechtung, das ist hinsichtlich seines Spruchpunktes I. (Abweisung der Berufung gemäß § 7 AsylG), wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Beschwerdeführerin, eine äthiopische Staatsangehörige, stellte am einen Asylantrag.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom diesen Antrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Äthiopien gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig und wies die Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 2 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Äthiopien aus.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde eine dagegen erhobene Berufung gemäß § 7 AsylG ab (I.), erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Äthiopien gemäß § 8 Abs. 1 AsylG in Verbindung mit § 50 Fremdenpolizeigesetz für nicht zulässig (II.) und erteilte der Beschwerdeführerin gemäß §§ 8 Abs. 3 in Verbindung mit 15 Abs. 2 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung (III.).

In der Begründung stellte die belangte Behörde den im Einzelnen dargestellten Verlauf des erstinstanzlichen Verfahrens fest bzw. legte diesen als Sachverhalt der Entscheidung zu Grunde.

Zur "Lage in Äthiopien" traf die belangte Behörde keine eigenen Feststellungen, sondern sie verwies "zur aktuellen Situation in Äthiopien" auf den erstinstanzlichen Bescheid.

In rechtlicher Hinsicht komme die belangte Behörde nach Durchführung der mündlichen Berufungsverhandlung "sowie unter Würdigung der Ergebnisse des erstinstanzlichen Verfahrens" zu dem Ergebnis, dass dem Vorbringen der Beschwerdeführerin "keine Asylrelevanz zukommt".

Beweiswürdigend führte die belangte Behörde danach im Wesentlichen aus, die Änderung der Fluchtgründe bei der (eineinhalb Jahre später durchgeführten) zweiten erstinstanzlichen Einvernahme habe ihre Ursache darin gehabt, dass die Beschwerdeführerin "ihrem Asylbegehren größeres Gewicht verschaffen wollte". Die belangte Behörde könne nicht nachvollziehen, warum die Beschwerdeführerin zwischen den beiden erstinstanzlichen Einvernahmen nicht mitgewirkt und bereits früher von sich aus "ihre ursprünglichen Angaben richtig gestellt und hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes nicht zu einem früheren Zeitpunkt entsprechende Atteste vorgelegt hat". Die behaupteten Folgen der - fast zwölf Jahre zurückliegenden - Aufklärungstätigkeit der Beschwerdeführerin gegen bestimmte Beschneidungspraktiken hätten für sie "ein einschneidendes Ereignis dargestellt".

Die belangte Behörde stützte sich danach auf folgende beweiswürdigende Überlegungen:

"Selbst wenn man aber der Berufungswerberin zugute halten wollte, dass sie aufgrund des Zeitablaufs oder des Umstands, dass sie sich in einer Art 'Schockzustand' befunden haben will, sich nicht mehr an die damaligen Ereignisse erinnern kann, so ist es für die Beweiswürdigung ein bedeutsamer Unterschied, ob jemand angibt, er könne sich - eben auf Grund Zeitablaufs oder Schocks - nicht mehr an gewisse Elemente erinnern oder aber - wie es im Fall der Berufungswerberin war - zu ein und demselben Sachverhalt zu verschiedenen Zeitpunkten zwei völlig verschiedene Versionen schildert und zudem über Vorhalt der Divergenzen keine Erklärung abzugeben vermag, sondern lapidar - und zudem völlig aktenwidrig - angibt, es habe mit dem Dolmetsch Probleme gegeben bzw. nicht ausreichende Gelegenheit zur Äußerung bestanden. Dies gilt umso mehr, als die erste Sachverhaltsdarstellung schlüssig und nachvollziehbar ist und die zweite, eineinhalb Jahre später erfolgten Angaben widersprüchlich und vage sind.

In der mündlichen Berufungsverhandlung wiederholte die Berufungswerberin ihre bei der zweiten Einvernahme gemachten Angaben über ihre Aufklärungsarbeit."

Nach Darlegung von Erwägungen betreffend die Unglaubwürdigkeit der "Aufklärungsarbeit" der Beschwerdeführerin stützte die belangte Behörde sich auf folgende beweiswürdigende Überlegungen:

"Selbst wenn man einmal mehr berücksichtigt, dass die geschilderten Ereignisse sehr lange Zeit zurück liegen, so muss dennoch davon ausgegangen werden, dass jemand, der aus sozialer Überzeugung agiert, auch viele Jahre später in der Lage sein müsste, über seine Zielsetzungen und Grundsätze im Detail zu sprechen. Dies war bei der Berufungswerberin nicht ansatzweise der Fall.

Selbst bei Berücksichtigung der ärztlich attestierten Traumatisierung kann jedoch nicht der Schluss gezogen werden, dass die mangelnden Angaben der Berufungswerberin nur aufgrund dieses Krankheitsbildes erfolgten. In einem solchen Fall wäre wohl davon auszugehen, dass die Berufungswerberin über Erinnerungslücken verfügte und nicht versuchte, den an sie gerichteten Fragen mit vagen und widersprüchlichen Angaben zu begegnen."

Der Beschwerdeführerin sei es nicht gelungen, glaubhaft zu machen, dass sie sich in ihrer Heimat mit knapp 17 Jahren aktiv gegen die Beschneidung von Mädchen eingesetzt hätte und sich "für sie deshalb asylrelevante Probleme ergeben haben".

Im Fall der Beschwerdeführerin könne kein konkreter Anhaltspunkt dafür gefunden werden, dass sie nach bereits erfolgter Beschneidung im Kleinkindalter einer weiteren Beschneidungspraxis unterzogen werden sollte. Die Voraussetzungen für eine Asylgewährung seien nicht verwirklicht.

Im Rahmen der Refoulement-Entscheidung ging die belangte Behörde davon aus, auf Grund der ausgedehnten Beschneidungssituation bei der Beschwerdeführerin sei ein "komplizierter interdisziplinärer Eingriff zwischen Gynäkologen, plastischem Chirurgen und Urologen erforderlich, der … mit Sicherheit nur in einem Land der ersten Welt durchführbar sei". Die Beschwerdeführerin könne in ihrer Heimat eine Behandlung ihrer drohenden Nierenschädigung und beeinträchtigten Harnröhre nicht erhalten. Im Falle ihrer Rückkehr nach Äthiopien laufe sie Gefahr, infolge "fehlender medizinischer Versorgung im Zusammenhang mit den aufgezeigten gesundheitlichen Beeinträchtigungen gemäß Art. 3 EMRK einer unmenschlichen Behandlung ausgesetzt zu sein".

Zu der ins Treffen geführten Traumatisierung der Beschwerdeführerin führte die belangte Behörde Folgendes aus:

"Wenn nun ungeachtet dessen seitens einer Fachärztin ein posttraumatisches Belastungssyndrom festgestellt wird und von einer Psychotherapeutin ein Therapieplatz 'nach Abklärung der äußeren Bedingungen' zunächst zugesichert und in weiterer Folge eine Behandlung von einem positiven Asylbescheid (wegen der damit verbundenen Kostenübernahme durch die Salzburger Gebietskrankenkassa) abhängig gemacht wird (vgl. Schreiben von Dr. P vom und vom ), - sohin eine Therapie nicht begonnen wurde und die Angaben der Psychotherapeutin sich ausschließlich auf die 'Auskunft' der ursprünglich konsultierten Fachärztin, nicht aber auf eigene Ergebnisse einer nicht durchgeführten Untersuchung stützen - so folgt die Berufungsbehörde in diesem Punkte den Ausführungen der belangten Behörde, denenzufolge sich aus den der Berufungswerberin auch zur Kenntnis gebrachten Länderberichten eine entsprechende Behandlungsmöglichkeit in Äthiopien ergibt und auch sämtliche gängigen antipsychotischen Medikamente zugänglich sind. An dieser Beurteilung ändert der ebenfalls in dem Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe genannte Umstand, dass der Bereich psychischer Erkrankungen weiterhin vernachlässigt werde, nichts, zumal es im Zusammenhang mit Art. 3 EMRK nicht um den Umfang vorhandener Versorgung, sondern konkret um die Frage des Zugangs zu diesem geht. Hier ist jedenfalls sichergestellt, dass durch ein psychiatrisches Spital mit 360 Betten sowie zwei Kliniken in der Hauptstadt Äthiopiens sowie eine bestimmte Anzahl ausgebildeter Fachärzte und von psychiatrisch geschultem Pflegepersonal Hilfestellung für die Berufungswerberin vorhanden ist."

Insoweit die Berufung "weitschweifige Ausführungen zur Lage allein stehender Frauen, …" enthalte, sehe die belangte Behörde keinen konkreten Bezug zur Beschwerdeführerin.

Gegen diesen Bescheid - erkennbar nach dem Beschwerdepunkt und den Beschwerdegründen jedoch nur gegen Spruchpunkt I. betreffend die Nichtzuerkennung des Asyls - richtet sich die vorliegende Beschwerde.

Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor und beantragte, die Beschwerde abzuweisen und die Kosten für den Vorlageaufwand zuzuerkennen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Die Beschwerde zeigt zutreffend einen zur Aufhebung des Spruchpunktes I. führenden Verfahrensmangel auf:

Die Beschwerdeführerin legte anlässlich ihrer erstinstanzlichen Einvernahme am eine fachärztliche Bestätigung der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Salzburg vom vor. Dieser Bestätigung, die eine fachärztliche Stellungnahme enthält, ist zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin dringend eine psychotherapeutische und psychiatrische Behandlung benötigt, zu beachten sei - wie in dieser Bestätigung betont wurde -, dass im Rahmen einer Traumatisierung die Betroffenen durch den Akt der Einvernahme eventuell eine Retraumatisierung erleben, unter Umständen in eine Art innere Leere und Affektstarre verfallen und sich zu manchen Themen nicht äußern können.

Mit dieser Stellungnahme hat die belangte Behörde sich nicht ausreichend bzw. widersprüchlich auseinandergesetzt.

Die belangte Behörde stellte im angefochtenen Bescheid (Seite 5) diese Bestätigung fest und führte im Rahmen der Refoulement-Entscheidung unter anderem aus, eine Fachärztin habe bei der Beschwerdeführerin "ein posttraumatisches Belastungssyndrom festgestellt". Auch verwies die belangte Behörde darauf, in Äthiopien bestünden entsprechende Behandlungsmöglichkeiten" und sämtliche gängigen antipsychotischen Medikamente seien zugänglich. Die belangte Behörde scheint demnach davon auszugehen, dass bei der Beschwerdeführerin die geltend gemachte psychische Erkrankung vorliege.

In der Beweiswürdigung hingegen machte die belangte Behörde der Beschwerdeführerin zum Vorwurf, ihre ursprünglichen Angaben nicht früher richtiggestellt und hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes nicht früher mitgewirkt zu haben. Ob die belangte Behörde der Beschwerdeführerin beweiswürdigend (wenigstens) "eine Art Schockzustand" zugute hielt, ist den hypothetisch formulierten Erwägungen nicht deutlich entnehmbar. Eine Abklärung bzw. Feststellung der psychischen Erkrankung der Beschwerdeführerin unter Beiziehung eines Sachverständigen nahm die belangte Behörde jedenfalls nicht vor.

Davon ausgehend ist die Beweiswürdigung im angefochtenen Bescheid mangelhaft. Die Einschätzung der belangten Behörde, die "Änderung der Fluchtgründe" bei der zweiten erstinstanzlichen Einvernahme habe ihre Ursache darin, dass die Beschwerdeführerin ihrem Asylbegehren größeres Gewicht verschaffen wollte bzw. die Beschwerdeführerin hätte sich an das einschneidende Erlebnis der Folgen ihrer Aufklärungsarbeit (bei der ersten Einvernahme) erinnern müssen, ist nicht schlüssig.

Der Verwaltungsgerichtshof hat wiederholt darauf hingewiesen, dass psychische Erkrankungen im Hinblick auf konstatierte Unstimmigkeiten im Aussageverhalten zu berücksichtigen sind (vgl. hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/01/0355, mwN). Im Hinblick auf den bescheinigten Kausalzusammenhang zwischen der Traumatisierung der Beschwerdeführerin und ihrem Aussageverhalten (sich zu manchen Themen nicht äußern zu können) hätte es einer eingehenderen, auf sachverständiger Grundlage gestützten Begründung bedurft, um aus der angenommenen "Änderung der Fluchtgründe" die Unglaubwürdigkeit der "Aufklärungstätigkeit" der Beschwerdeführerin in Äthiopien zu folgern.

Da die belangte Behörde solcherart bei ihrer Beweiswürdigung die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen nicht nachvollziehbar berücksichtigte, kann diese Beweiswürdigung schon aus diesem Grund nicht als schlüssig angesehen werden (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zlen. 2008/01/0345 bis 0347). Diese Unschlüssigkeit der Beweiswürdigung ist vorliegend auch relevant, da nach den Umständen des vorliegenden Beschwerdefalles nicht ausgeschlossen werden kann, dass die belangte Behörde bei Vermeidung dieses Verfahrensfehlers zu einem anderen Bescheid gekommen wäre.

Anzumerken ist, dass die belangte Behörde zur "Lage in Äthiopien" allein auf den erstinstanzlichen Bescheid verwies. Den derart übernommenen Länderfeststellungen sind zur geschlechtsspezifischen Verfolgung in Äthiopien, der weiblichen Genitalverstümmelung und zur Lage alleinstehender Frauen in Äthiopien jedoch keine relevanten Ausführungen entnehmbar. Inwieweit etwa die Situation von "Afarfrauen" für die Beschwerdeführerin relevant sein sollte, zumal die Beschwerdeführerin weder eine Afarfrau ist noch ihre ethnische Zugehörigkeit konkret festgestellt wurde, ist nicht nachvollziehbar. Auf die Situation von Gruppen, die "Aufklärungsarbeit gegen Beschneidungspraxis" leisten, gehen die übernommenen Länderfeststellungen nicht ausreichend ein. Die dargestellte Informationskampagne von CARE bzw. ein UNICEF-Projekt über die Betreuung ehemaliger "Beschneiderinnen" lässt keinen wesentlichen (relevanten) Bezug zum Beschwerdefall erkennen.

Um ihre die Abweisung des Asylbegehrens tragende Beweiswürdigung schlüssig zu begründen, hätte die belangte Behörde die maßgebliche Berichtslage feststellen und ausgehend von dieser im Einzelnen prüfen müssen, in welchen Punkten das Vorbringen der Beschwerdeführerin mit dieser nicht in Einklang stehe, bzw. sich mit der Tragfähigkeit von allfälligen Abweichungen für die Verneinung der Glaubwürdigkeit des Vorbringens auseinandersetzen müssen.

Der angefochtene Bescheid war daher im Umfang seiner Anfechtung, das ist hinsichtlich seines Spruchpunktes I. (Abweisung des Asylbegehrens) gemäß § 42 Abs. 2 Z. 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am

Fundstelle(n):
UAAAE-88496