VwGH vom 26.06.2013, 2013/22/0112
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde des M, vertreten durch Dr. Werner Zach, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Spiegelgasse 19, gegen den Bescheid der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Wien vom , Zl. SD 2174/05, betreffend Erlassung eines befristeten Aufenthaltsverbotes, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.326,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger von Bangladesch, gelangte am illegal nach Österreich und stellte am selben Tag einen Asylantrag. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom in erster Instanz abgewiesen. Der Bescheid erwuchs mit Zurückziehung der dagegen erhobenen Berufung im März 2005 in Rechtskraft. Zuvor hatte der Beschwerdeführer am die österreichische Staatsbürgerin Verena K. geheiratet und - gestützt auf diese Ehe - wiederholt eine Niederlassungsbewilligung "begünstigter Drittsta. - Ö, § 49 Abs. 1 FrG", zuletzt mit einer Gültigkeit bis zum , erhalten.
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom , rechtskräftig seit , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der versuchten absichtlichen schweren Körperverletzung nach §§ 15, 87 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt, wobei ein Teil von 12 Monaten bedingt nachgesehen wurde. Dem Urteil lag zugrunde, dass der Beschwerdeführer am versucht hatte, einem Dritten eine schwere Körperverletzung absichtlich zuzufügen, indem er ihm mit einem Messer in den Hals gestochen hatte, wodurch dieser eine Stichwunde am Hals erlitten hatte.
Im Hinblick auf diese Verurteilung erließ die Bundespolizeidirektion Wien mit Bescheid vom gemäß den §§ 49 Abs. 1 und 48 Abs. 1 des Fremdengesetzes 1997 ein unbefristetes Aufenthaltsverbot.
Mit dem angefochtenen Bescheid vom gab die belangte Behörde der dagegen erhobenen Berufung keine Folge und bestätigte den erstinstanzlichen Bescheid mit der Maßgabe, dass das Aufenthaltsverbot gemäß § 87 iVm § 86 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) für eine Dauer von zehn Jahren erlassen werde.
Begründend führte die belangte Behörde zunächst aus, dass der Beschwerdeführer mit einer österreichischen Staatsbürgerin verheiratet sei, weshalb auf ihn gemäß § 87 FPG die Bestimmungen des § 86 Abs. 1 FPG anzuwenden seien. Der Beschwerdeführer habe nach dem angeführten gerichtlichen Urteil einem Dritten eine Stichwunde zugefügt, die - auf Grund der (im Halsbereich) knapp unter der Haut liegenden großen Blutgefäße - auch bei nur geringer Verletzungstiefe zu schweren bis lebensgefährlichen Verletzungen führen könne. Ein Stich in die Halsregion sei daher als besonders brutal und verwerflich zu werten. Ausgehend davon sei die Voraussetzung des § 86 Abs. 1 FPG, nämlich dass das Verhalten des Beschwerdeführers eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre, als erfüllt anzusehen. Eine Verhaltensprognose könne nicht zu seinen Gunsten gestellt werden.
Im Hinblick auf den Inlandsaufenthalt des Beschwerdeführers seit Dezember 2000 und die familiäre Bindung zu seiner Ehefrau sei mit dem Aufenthaltsverbot ein relevanter Eingriff in sein Privat- und Familienleben verbunden. Die Erlassung des Aufenthaltsverbotes sei aber zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele - hier zur Verhinderung weiterer strafbarer Handlungen - dringend geboten. Die soziale Komponente der Integration des Beschwerdeführers sei durch sein strafbares Verhalten erheblich gemindert. Von einer beruflichen Integration könne nicht ausgegangen werden, weil der Beschwerdeführer in den letzten drei Jahren (teilweise nur geringfügig beschäftigt) bei zwölf verschiedenen Arbeitgebern angestellt gewesen sei und er zwischendurch Arbeitslosengeld bezogen habe. Die Auswirkungen des Aufenthaltsverbotes auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers (und seiner Ehefrau) würden im Ergebnis nicht schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von dieser Maßnahme. Im Hinblick auf die Art und Schwere der dem Beschwerdeführer zur Last liegenden Tat könne sein weiterer Aufenthalt auch nicht im Rahmen des Ermessens in Kauf genommen werden. Abschließend begründete die belangte Behörde noch die Gültigkeitsdauer des Aufenthaltsverbotes näher.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:
Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich - im Hinblick auf die Zustellung des angefochtenen Bescheides am - um die Fassung BGBl. I Nr. 135/2009.
Der Beschwerdeführer ist infolge seiner aufrechten Ehe mit Verena K. Familienangehöriger (§ 2 Abs. 4 Z 12 FPG) einer Österreicherin. Für ihn gelten somit gemäß § 87 FPG die Bestimmungen für begünstigte Drittstaatsangehörige nach § 86 Abs. 1 FPG. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes ist demnach nur zulässig, wenn auf Grund des persönlichen Verhaltens des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gefährdet ist. Das persönliche Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Bei der Beurteilung, ob die Annahme iSd § 86 Abs. 1 FPG gerechtfertigt sei, dürfen Änderungen, die gegen den Fortbestand einer Gefährdungsprognose sprechen, nicht ausgeklammert werden (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2012/23/0032, mwN).
Wird durch ein Aufenthaltsverbot in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist es gemäß § 60 Abs. 6 FPG iVm § 66 Abs. 1 FPG nur zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalls eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. etwa das zitierte hg. Erkenntnis Zl. 2012/23/0032).
Der Beschwerdeführer wendet sich gegen die behördliche Annahme, dass die Voraussetzung des § 86 Abs. 1 FPG erfüllt sei. Er bringt diesbezüglich vor, dass sich die Straftat bereits am ereignet und dass es sich um eine einmalige Verfehlung gehandelt habe. Im Zusammenhang mit der Interessenabwägung nach § 66 FPG verweist er darauf, dass er ein geordnetes Familienleben führe und mit seiner Ehefrau sowie seiner im Februar 2009 geborenen Tochter, die beide österreichische Staatsbürger seien, im gemeinsamen Haushalt lebe.
Im Ergebnis kommt dem Beschwerdevorbringen aus folgenden Gründen Berechtigung zu:
Zwar hat die belangte Behörde zutreffend berücksichtigt, dass das vom Beschwerdeführer gesetzte strafbare Verhalten - nämlich das absichtliche Versetzen eines Stiches in die Halsregion - eine besondere Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Opfer zum Ausdruck bringt und grundsätzlich eine erhebliche Beeinträchtigung des großen öffentlichen Interesses an der Verhinderung von strafbaren Handlungen der vorliegenden Art darstellt. Dessen ungeachtet wäre die belangte Behörde verpflichtet gewesen, näher darzulegen, wieso sie trotz der - vom Beschwerdeführer nicht zu vertretenden - Dauer des Berufungsverfahrens von mehr als vier Jahren und trotz des Umstandes, dass das strafbare Verhalten des Beschwerdeführers zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides bereits knapp fünf Jahre zurücklag, eine nach wie vor aktuelle, vom Beschwerdeführer ausgehende Gefährdung im Sinn des erhöhten Maßstabes nach § 86 Abs. 1 FPG angenommen und die Erlassung eines auf zehn Jahre befristeten Aufenthaltsverbotes für erforderlich erachtet hat (vgl. dazu etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0416).
Vor allem aber ist der belangten Behörde anzulasten, dass sie - wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt festgehalten hat - bei einer derart langen Dauer des Berufungsverfahrens dem Beschwerdeführer Gelegenheit hätte geben müssen, für die Gefährdungsprognose und für seine persönlichen Interessen an einem Verbleib im Bundesgebiet maßgebliche Änderungen in seiner aktuellen Situation vorzutragen (vgl. dazu etwa das Erkenntnis vom , Zl. 2011/23/0356, mwN). Da die belangte Behörde, die sich - wie den vorgelegten Verwaltungsakten zu entnehmen ist - in dem über vier Jahre andauernden Berufungsverfahren mit der aktuellen Lebenssituation des Beschwerdeführers nicht näher auseinandergesetzt und den angefochtenen Bescheid ohne die nochmalige Einräumung von Parteiengehör erlassen hat, dieser Verpflichtung nicht entsprochen hat, war dem Beschwerdeführer sein in der Beschwerde erstattetes Vorbringen betreffend die familiäre Bindung zu seiner im Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides einjährigen, über die österreichische Staatsbürgerschaft verfügenden Tochter nicht verwehrt. Diesem Umstand kann eine maßgebliche Bedeutung im Rahmen der Interessenabwägung nach § 66 FPG aber nicht abgesprochen werden.
Die belangte Behörde hat den angefochtenen Bescheid daher mit einem relevanten Verfahrensmangel belastet, weshalb der Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben war.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am