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VwGH vom 29.05.2013, 2013/22/0078

VwGH vom 29.05.2013, 2013/22/0078

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

2013/22/0079

2013/22/0081

2013/22/0080

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Bernegger, die Hofräte Dr. Robl und Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Dr. Maurer-Kober und den Hofrat Dr. Mayr als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Perauer, über die Beschwerde 1. des R, 2. der L, 3. des V und 4. der A, alle in M und vertreten durch Dr. Günther Viehböck, Rechtsanwalt in 2340 Mödling, Bahnhofsplatz 1a/Stg. I/Top 5, gegen die Bescheide der Sicherheitsdirektion für das Bundesland Niederösterreich vom , alle Zl. E1/10592/2007, betreffend Ausweisung, zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von insgesamt EUR 1.327,68 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die beschwerdeführenden Parteien sind armenische Staatsangehörige. Der Drittbeschwerdeführer und die Viertbeschwerdeführerin sind Lebensgefährten und die Eltern der weiteren beschwerdeführenden Parteien. Der Drittbeschwerdeführer reiste im Oktober 2001 illegal in das Bundesgebiet ein, die Viertbeschwerdeführerin im Oktober 2003. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin wurden 2004 bzw. 2005 im Bundesgebiet geboren. Die beschwerdeführenden Parteien stellten Asylanträge, die mit Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom September 2007 jeweils rechtskräftig abgewiesen wurden. Die Behandlung der dagegen erhobenen Beschwerden wurde vom Verwaltungsgerichtshof im März 2009 abgelehnt.

Mit den angefochtenen, im Instanzenzug ergangenen - und im Wesentlichen inhaltsgleichen - Bescheiden wies die belangte Behörde die beschwerdeführenden Parteien gemäß § 53 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) aus dem Bundesgebiet aus. In ihrer Begründung führte sie aus, dass die beschwerdeführenden Parteien "jedenfalls seit April 2009 unrechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig" seien (die belangte Behörde legte somit einen unrechtmäßigen Aufenthalt der beschwerdeführenden Parteien ab der Ablehnung der Behandlung der Beschwerden im Asylverfahren durch den Verwaltungsgerichtshof zugrunde). Auch die jeweils eingebrachten Anträge nach § 44 Abs. 3 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetzes 2005 würden kein Aufenthalts- oder Bleiberecht nach dem FPG begründen. Somit sei eine Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 FPG zulässig.

Im Hinblick auf die Interessenabwägung nach § 66 FPG führte die belangte Behörde aus, dass die Ausweisung angesichts des mehrjährigen Inlandsaufenthaltes der beschwerdeführenden Parteien in ihr "Privatleben" eingreife. Dem Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien und den vorgelegten (Unterstützungs )Schreiben sei zu entnehmen, dass sie über einen österreichischen Freundeskreis verfügten, die deutsche Sprache gut beherrschten und sich in die "Ortsgemeinschaft vorbildlich integriert" hätten. Diese Umstände seien zwar positiv zu berücksichtigen, allerdings seien sie weitgehend in einer Zeit entstanden, in der sich der Drittbeschwerdeführer und die Viertbeschwerdeführerin ihres unsicheren Aufenthaltsstatus in Österreich hätten bewusst sein müssen. Demgegenüber komme den die Einreise und den Aufenthalt von Fremden regelnden Normen aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art. 8 Abs. 2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu. Der Umstand, dass die beschwerdeführenden Parteien nach dem Ende ihrer Asylverfahren das Bundesgebiet nicht freiwillig verlassen hätten, stelle eine wesentliche Beeinträchtigung eines geordneten Fremdenwesens dar. Zudem werde dadurch das ihrer Integration beizumessende Gewicht wesentlich verringert. Es sei auch nicht festgestellt worden, dass der Drittbeschwerdeführer und die Viertbeschwerdeführerin nachhaltig im Bundesgebiet integriert wären. Sie seien während ihres Aufenthaltes in Österreich keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen, seien nicht selbsterhaltungsfähig und verfügten über keine Krankenversicherung.

Hinsichtlich der beiden Kinder hielt die belangte Behörde fest, diese seien in Österreich geboren und würden nunmehr den Kindergarten besuchen. Weiters ging sie davon aus, dass die Kinder zweisprachig aufwachsen würden und ihnen eine Rückkehr in den Herkunftsstaat gemeinsam mit ihren Eltern zumutbar sei. Zudem seien die Kinder noch in einem anpassungsfähigen Alter und hätten in Österreich noch nicht die Schule besucht. Diese Umstände seien bei der Interessenabwägung nachteilig zu gewichten.

Zum Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien betreffend den Gesundheitszustand des Erstbeschwerdeführers hielt die belangte Behörde Folgendes fest: Hinsichtlich der Verbrennungsverletzungen (aus den Jahren 2006 bzw. 2007) sei dem vorgelegten Schreiben des AKH Wien zu entnehmen, dass die Behandlung ohne Komplikationen verlaufen sei. Gleiches gelte für die Behandlung wegen obstruktiver Bronchitis Anfang des Jahres 2007. Betreffend eine aktuelle psychiatrische Behandlung des Erstbeschwerdeführers seien - so die belangte Behörde - "keine ärztlichen Atteste vorgelegt" worden. Überdies würde aus dem Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien nicht folgen, dass eine Behandlung im Ausland erheblich erschwert oder unmöglich wäre.

Schließlich ging die belangte Behörde noch auf die Bindung der beschwerdeführenden Parteien zu der in Österreich aufhältigen (und hier subsidiär schutzberechtigten) Mutter des Drittbeschwerdeführers (Lena A.) ein, die mit den beschwerdeführenden Parteien im gemeinsamen Haushalt lebe. Den zum Gesundheitszustand von Lena A. vorgelegten Unterlagen lasse sich entnehmen, dass diese zum Zeitpunkt ihrer Entlassung aus dem Spital (im September 2009) keiner Unterstützung durch professionelle Pflege bedurft habe. Eine Betreuung durch die beschwerdeführenden Parteien sei nach Auffassung der belangten Behörde nicht zwingend notwendig, zumal auch die (über eine vorläufige asylrechtliche Aufenthaltsberechtigung verfügende) Schwester des Drittbeschwerdeführers in der gleichen Gemeinde aufhältig sei und ihre Mutter betreuen könne.

Die belangte Behörde vertrat die Auffassung, dass die Ausweisung hinsichtlich der beschwerdeführenden Parteien nicht in ihr Familienleben eingreife, weil alle Mitglieder der Kernfamilie ausgewiesen würden. Im Ergebnis erachtete sie die Ausweisung als zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten. Es seien auch keine Umstände ersichtlich, die für eine Ermessensübung zu Gunsten der beschwerdeführenden Parteien sprechen würden.

Gegen diese Bescheide richtet sich die gegenständliche Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten und Erstattung einer Gegenschrift durch die belangte Behörde erwogen hat:

Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung zu überprüfen hat. Wird daher im Folgenden auf Bestimmungen des FPG Bezug genommen, so handelt es sich dabei - im Hinblick auf die Zustellung der angefochtenen Bescheide am - um die Fassung BGBl. I Nr. 135/2009.

Gemäß § 53 Abs. 1 FPG können Fremde mit Bescheid ausgewiesen werden, wenn sie sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. In der Beschwerde wird ausdrücklich zugestanden, dass die Asylverfahren der beschwerdeführenden Parteien rechtskräftig negativ abgeschlossen wurden. Weder nach der Aktenlage noch nach dem Beschwerdevorbringen bestehen Anhaltspunkte dafür, dass eine der Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet gemäß § 31 Abs. 1 FPG bei den beschwerdeführenden Parteien vorliege. Die behördliche Annahme, der Tatbestand des § 53 Abs. 1 FPG sei erfüllt, trifft somit zu.

Wird durch eine Ausweisung in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG nur dann zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist. Bei dieser Beurteilung ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 66 Abs. 2 FPG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 66 Abs. 3 FPG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen. Bei einer Entscheidung über eine Ausweisung ist der Behörde Ermessen eingeräumt (siehe etwa das hg. Erkenntnis vom , Zlen. 2010/21/0404, 0405).

Unter dem Aspekt des § 66 FPG verweist die Beschwerde darauf, dass sich der Drittbeschwerdeführer bzw. die Viertbeschwerdeführerin bereits seit neun bzw. sieben Jahren in Österreich aufhalten. Die beiden Kinder seien in Österreich geboren. Die beschwerdeführenden Parteien seien in Österreich sehr gut integriert, hätten unter Mithilfe von Freunden und Bekannten eine Wohnung gemietet und würden sehr gut Deutsch sprechen. Der Erstbeschwerdeführer und die Zweitbeschwerdeführerin würden in den Kindergarten gehen, der Drittbeschwerdeführer habe eine fixe Arbeitsplatzzusage.

Diesem Vorbringen ist zwar zunächst entgegenzuhalten, dass die belangte Behörde sowohl den langjährigen Inlandsaufenthalt der beschwerdeführenden Parteien als auch deren Deutschkenntnisse sowie die erfolgte (und durch Unterstützungsschreiben belegte) soziale Integration entsprechend berücksichtigt hat. Hinsichtlich der familiären Bindungen hat die belangte Behörde zwar zutreffend darauf hingewiesen, dass sämtliche Mitglieder der Kernfamilie gemeinsam ausgewiesen werden, sie hat aber nicht erkennen lassen, inwieweit sie die familiäre Bindung zu der im gemeinsamen Haushalt lebenden Mutter des Drittbeschwerdeführers (die laut Beschwerdevorbringen von den beschwerdeführenden Parteien betreut wird) bei ihrer Interessenabwägung berücksichtigt hat. Der belangten Behörde ist auch nicht beizupflichten, wenn sie im Zusammenhang mit dem anpassungsfähigen Alter der beiden minderjährigen Kinder und dem noch nicht vorliegenden Schulbesuch von "nachteilig zu gewichtenden Umständen" spricht.

Vor allem aber ist der belangten Behörde anzulasten, dass sie sich mit dem Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien zum Gesundheitszustand des - zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Bescheides knapp sechs Jahre alten - Erstbeschwerdeführers nicht ausreichend befasst hat. Die Beschwerde führt dazu insbesondere die seit dem Jahr 2006 erfolgende psychiatrische Behandlung des Erstbeschwerdeführers ins Treffen, die in Armenien nicht zur Verfügung stünde. Die Beschwerde verweist dazu auf mehrere vorgelegte ärztliche Bestätigungen, u.a. eine fachärztliche Stellungnahme vom und eine fachärztliche Bestätigung vom . Weiters rügt die Beschwerde die unzureichende Sachverhaltsermittlung durch die belangte Behörde hinsichtlich der Gewährleistung der medizinischen Versorgung des Erstbeschwerdeführers in Armenien.

Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde im Ergebnis eine Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide auf.

Der Verwaltungsgerichtshof hat schon wiederholt ausgesprochen, dass bei der Abwägung der persönlichen Interessen eines Fremden an einem Verbleib im Bundesgebiet mit dem öffentlichen Interesse an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auch dem Umstand Bedeutung zukommt, dass eine medizinische Behandlung in Österreich vorgenommen wird. Wenn für einen Fremden keine Aussicht besteht, sich in seinem Heimatstaat oder in einem anderen Land - sollte ein solches als Zielort überhaupt in Betracht kommen - außerhalb Österreichs der für ihn notwendigen Behandlung unterziehen zu können, so kann das - abhängig von den dann zu erwartenden Folgen - eine maßgebliche Verstärkung des persönlichen Interesses an einem Verbleib in Österreich darstellen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/21/0366, mwN).

Die belangte Behörde befasste sich zwar mit den aus den Jahren 2006 bzw. 2007 stammenden Verbrennungsverletzungen sowie mit der Anfang des Jahres 2007 erfolgten Behandlung wegen obstruktiver Bronchitis. Hinsichtlich einer aktuellen psychiatrischen Behandlung des Erstbeschwerdeführers hielt sie aber lediglich fest, dass diesbezüglich "keine ärztlichen Atteste vorgelegt" worden seien. Darüber hinaus folge aus dem Vorbringen der beschwerdeführenden Parteien betreffend den aktuellen Gesundheitszustand des Erstbeschwerdeführers nicht, dass die Behandlung im Ausland erheblich erschwert oder unmöglich wäre.

Der Feststellung der belangten Behörde zur fehlenden Vorlage ärztlicher Atteste ist entgegenzuhalten, dass sich in den vorgelegten (den Erstbeschwerdeführer betreffenden) Verwaltungsakten die in der Beschwerde angesprochenen fachärztlichen Schreiben vom April 2009 finden. Ausführungen dahingehend, dass diese Bestätigungen von der belangten Behörde als nicht hinreichend aktuell angesehen wurden, lassen sich dem angefochtenen Bescheid (der auch auf die früheren Atteste aus den Jahren 2006 und 2007 eingeht) nicht entnehmen. Inhaltlich wird in diesen Schreiben die Auffassung vertreten, dass eine Fortführung der bereits etablierten Betreuung dringend notwendig sei bzw. dass derartige (wie beim Erstbeschwerdeführer auftretende) Verhaltensstörungen therapeutisch in (u.a.) Armenien in keiner Weise behandelbar seien. Auch in der Stellungnahme der beschwerdeführenden Parteien vom November 2009 wird (unter Bezugnahme auf diese ärztlichen Schreiben) vorgebracht, dass die notwendige medizinische Behandlung des Erstbeschwerdeführers in Armenien nicht durchgeführt werden könnte.

Vor diesem Hintergrund hätte sich die belangte Behörde näher mit dem Vorliegen der geltend gemachten psychischen Beeinträchtigung des Erstbeschwerdeführers und ihrer konkreten Behandelbarkeit im Zielstaat befassen müssen (vgl. etwa auch das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/21/0260). Die Auseinandersetzung der belangten Behörde mit den ärztlichen Attesten hinsichtlich der aus den Jahren 2006 und 2007 stammenden Bronchitis bzw. Verbrennungen ist diesbezüglich nicht als hinreichend anzusehen.

Da nicht ausgeschlossen ist, dass die belangte Behörde bei einer mängelfreien Befassung mit den dargelegten Umständen zu einer anderen Entscheidung - und zwar hinsichtlich aller beschwerdeführenden Parteien - hätte gelangen können, waren die angefochtenen Bescheide gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz stützt sich - im Rahmen des gestellten Begehrens - auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am

Fundstelle(n):
DAAAE-88321