VwGH vom 18.03.2022, Ra 2021/01/0308

VwGH vom 18.03.2022, Ra 2021/01/0308

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Kienesberger, über die Revision des H M, in S, vertreten durch Dr. Gerhard Mory, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Wolf-Dietrich-Straße 19/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W129 2217504-1/14E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit damit die Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV., V. und VI. des bekämpften Bescheides als unbegründet abgewiesen wurde, sohin soweit eine Rückkehrentscheidung erlassen, die Zulässigkeit der Abschiebung festgestellt und eine Frist für die freiwillige Ausreise festgelegt wurde, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation, stellte am einen Antrag auf internationalen Schutz. Er ist verheiratet und hat mit seiner Ehegattin einen in Österreich geborenen Sohn.

2Mit Bescheid vom wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers auf internationalen Schutz zur Gänze ab (I. und II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (III.), erließ eine Rückkehrentscheidung gegen ihn (IV.), stellte die Zulässigkeit der Abschiebung in die Russische Föderation fest (V.) und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest (VI.).

3Die von ihm dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab und sprach aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4Begründend führte das BVwG zur (für die im Revisionsverfahren ausschließlich relevante) Rückkehrentscheidung aus, dass der Revisionswerber ein schützenswertes Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK führe. Er sei verheiratet und lebe mit seiner Ehegattin sowie dem gemeinsamen Sohn in einem Haushalt. Seinem „erheblichen“ Interesse am Verbleib in Österreich stehe aber das „große öffentliche Interesse“ an seiner Aufenthaltsbeendigung gegenüber. Das Gewicht seines Familienlebens sei durch das Bewusstsein über seinen unsicheren Aufenthalt entscheidend gemindert, zumal er über „keine über das Aufenthaltsrecht nach § 13 Abs. 1 AsylG hinausgehende Aufenthaltsgenehmigung“ verfüge. Das Familienleben sei sogar vor Antragstellung entstanden. Der Revisionswerber könne sich nach Rückkehr in seinen Herkunftsstaat um einen legalen Aufenthalt im Bundesgebiet bemühen. Die „mit der Aufenthaltsbeendigung verbundene Trennung“ des Revisionswerbers von seiner Familie stelle einen erheblichen Eingriff in seine Rechte dar, allerdings wögen die öffentlichen Interessen fallbezogen schwerer; dies insbesondere wegen seines „mehrere Monate andauernden illegalen Aufenthalt[s]“ im Bundesgebiet.

5Gegen dieses Erkenntnis erhob der Revisionswerber zunächst Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof (VfGH), der mit Beschluss vom , E 3124/2021-5, deren Behandlung ablehnte und sie dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abtrat. Begründend führte der VfGH - soweit hier relevant - aus:

„Das Bundesverwaltungsgericht hat sich mit der Frage der Gefährdung der beschwerdeführenden Partei in ihren Rechten auseinandergesetzt. Ihm kann unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten nicht entgegengetreten werden, wenn es auf Grund der Umstände des vorliegenden Falles davon ausgeht, dass das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts von Fremden ohne Aufenthaltstitel das Interesse am Verbleib im Bundesgebiet aus Gründen des Art. 8 EMRK überwiegt (vgl. VfSlg. 19.086/2010).

Die im Übrigen gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall nur die Folge einer - allenfalls grob - unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Bundesverwaltungsgericht hinreichende Ermittlungen im Hinblick auf das Familienleben des Beschwerdeführers im Bundesgebiet angestrengt hat, nicht anzustellen.“

6Die vorliegende außerordentliche Revision wendet sich gegen die Rückkehrentscheidung. Das BFA erstattete keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7Der Revisionswerber bringt zusammengefasst (u.a.) vor, er habe mit Schriftsatz vom ein ausführliches Vorbringen zu seinem Familienleben erstattet und die Einvernahme seiner Ehegattin als Zeugin beantragt. Das BVwG habe sich nicht mit dem Vorbringen auseinandergesetzt, begründungslos dem Beweisantrag nicht entsprochen und unzureichende Feststellungen zum Familienleben getroffen. Das angefochtene Erkenntnis weiche damit von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, nach der es notwendig sei, ausreichende Feststellungen zum Familienleben, etwa zur Dauer, Art und Intensität, zu treffen.

8Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

9Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist Beweisanträgen grundsätzlich zu entsprechen, wenn die Aufnahme des darin begehrten Beweises im Interesse der Wahrheitsfindung notwendig erscheint. Dementsprechend dürfen Beweisanträge nur dann abgelehnt werden, wenn die Beweistatsachen als wahr unterstellt werden, es auf sie nicht ankommt oder das Beweismittel an sich ungeeignet ist, über den Gegenstand der Beweisaufnahme einen Beweis zu liefern und damit zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts beizutragen. Ob eine Beweisaufnahme in diesem Sinn notwendig ist, unterliegt der einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichts. Eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG läge nur dann vor, wenn diese Beurteilung grob fehlerhaft erfolgt wäre und zu einem die Rechtssicherheit beeinträchtigenden unvertretbaren Ergebnis geführt hätte (vgl. etwa , mwN).

10Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist eine unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht revisibel im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG (vgl. etwa , mwN).

11Die Beurteilung, ob die Erlassung einer Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die nach Art. 8 EMRK geschützten Rechte eines Fremden darstellt, hat nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles stattzufinden. Dabei muss eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommen werden (vgl. etwa bis 0152, mwN).

12Im vorliegenden Fall erstattete der Revisionswerber in seinem Schriftsatz vom ein umfangreiches Vorbringen zu seinem Privat- und Familienleben in Österreich. Zugleich beantragte er zum Beweis für die Richtigkeit des darin enthaltenen Vorbringens die Einvernahme seiner Ehegattin als Zeugin. Das BVwG setzte sich im angefochtenen Erkenntnis weder ausreichend mit diesem Vorbringen auseinander, noch begründete es, warum es dem darin enthaltenen Beweisantrag nicht nachkam. Wenngleich die Notwendigkeit einer Beweisaufnahme nach der dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes der einzelfallbezogenen Beurteilung des Verwaltungsgerichtes unterliegt (vgl. etwa bis 0371, mwN), führt die Revision zu Recht ins Treffen, dass zur Durchführung der Interessenabwägung unter anderem aktuelle und konkrete Feststellungen zu Umfang und Intensität des Familienlebens und den Folgen einer allfälligen Trennung erforderlich sind (vgl. ). Die Aussage der Ehegattin des Revisionswerbers zu diesen Beweisthemen könnte daher unter diesem Aspekt für den Ausgang des Verfahrens möglicherweise relevant sein.

13Das BVwG hat die nach Art. 8 EMRK durchzuführende Interessenabwägung somit nicht auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage vorgenommen.

14Da die Rückkehrentscheidung und die Feststellung der Unzulässigkeit der Abschiebung nach § 52 Abs. 9 erster Satz FPG eine untrennbare Einheit bilden, war ungeachtet der in der Revision erhobenen, anderslautenden Anfechtungserklärung auch dieser vom BVwG getroffene Ausspruch ebenso wie der weitere auf der Rückkehrentscheidung aufbauende Spruchpunkt über die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben (vgl. dazu , mwN).

15Die Kostenentscheidung gründet auf §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2021010308.L00

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