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VwGH vom 13.09.2021, Ra 2021/01/0090

VwGH vom 13.09.2021, Ra 2021/01/0090

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Enzenhofer sowie die Hofräte Dr. Kleiser, Dr. Fasching, Mag. Brandl und Dr. Terlitza als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom , Zl. W124 2225931-1/4E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: A A vertreten durch Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1Mit Bescheid vom erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Eltern (und damit auch der gesetzlichen Vertreterin des Mitbeteiligten im vorliegenden Verfahren), beide Staatsangehörige von Afghanistan, den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu.

2Am stellte die Mutter des bereits in Österreich geborenen Mitbeteiligten, ebenso ein Staatsangehöriger von Afghanistan, für diesen als gesetzliche Vertreterin gemäß § 34 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) einen Antrag auf „Gewährung desselben Schutzes“ wie in ihrem Fall. Im für den Antrag verwendeten Formular wurde angeführt, dass sie für den Mitbeteiligten keine eigenen Fluchtgründe vorzubringen habe.

3Mit Bescheid des BFA vom wurde - ohne niederschriftliche Einvernahme - der Antrag des Mitbeteiligten auf internationalen Schutz in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen (I.), ihm gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (II.) sowie eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 erteilt (III.).

4Begründend führte das BFA zur Abweisung des Antrages in Bezug auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (I.) aus, der Mitbeteiligte habe keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht und dem Fluchtvorbringen seiner Eltern sei bereits in dem sie betreffenden Bescheid die Glaubwürdigkeit versagt worden.

5Mit Beschwerde vom wendete sich der Mitbeteiligte durch seine gesetzliche Vertretung gegen Spruchpunkt I. des Bescheides und führte - soweit hier relevant - aus, das BFA sei seiner amtswegigen Ermittlungspflicht nicht nachgekommen und habe das Recht auf Parteiengehör verletzt, weil es keinen der gesetzlichen Vertreter des Mitbeteiligten einvernommen habe. Weiter wurde in der Beschwerde (erstmals) ein Fluchtvorbringen betreffend den Mitbeteiligten erstattet.

6Mit dem angefochtenen Beschluss behob das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den angefochtenen Bescheid in seinem Spruchpunkt I. gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG und verwies die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das BFA zurück (A.). Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig (B.).

7In seiner Begründung verwies das BVwG darauf, dass jeder Antrag eines Familienangehörigen gesondert zu prüfen sowie primär auf die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gerichtet sei. Daraus ergebe sich, dass das Vorliegen eigener Fluchtgründe für jeden Antragsteller separat zu ermitteln sei. Erst wenn solche Gründe nicht hervorkommen würden, sei derselbe Schutz zu gewähren, der bereits einem anderen Familienangehörigen gewährt worden sei. Daher wäre das BFA dazu verpflichtet gewesen, - unter Mitwirkung der Eltern des Mitbeteiligten und Wahrung des Parteiengehörs - amtswegig zu ermitteln, ob hinsichtlich des Mitbeteiligten eigene Fluchtgründe vorliegen würden. Im fortgesetzten Verfahren müsse das BFA daher die Eltern des Mitbeteiligten einvernehmen und das in der Beschwerde dargelegte Fluchtvorbringen berücksichtigen.

8Gegen diesen Beschluss richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Der Mitbeteiligte erstattete nach Einleitung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der außerordentlichen Amtsrevision beantragte.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

Zulässigkeit

9Die Amtsrevision bringt zu ihrer Zulässigkeit vor, der Beschluss weiche von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu Zurückverweisungen gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG ab. Die von der Rechtsprechung geforderten krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken lägen nicht vor, weil keine Verpflichtung bestanden habe, die Eltern des Mitbeteiligten einzuvernehmen. Gemäß § 19 Abs. 2 AsylG 2005 könne eine Einvernahme dann unterbleiben, wenn ein Asylwerber nicht in der Lage sei, zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen. Die Gesetzesmaterialien würden klarstellen, dass der Gesetzgeber mit dieser Bestimmung vor allem schwerwiegend psychisch Kranke und Minderjährige vor Augen gehabt habe. Wäre man der Ansicht, dass in diesen Fällen die gesetzlichen Vertreter jedenfalls einzuvernehmen seien, so wäre der Bestimmung der Anwendungsbereich entzogen. Für die Frage nach einer verpflichtenden Einvernahme der Eltern des Mitbeteiligten sei sodann auch § 18 Abs. 1 AsylG 2005 maßgeblich. Nach der dazu ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sei nicht jeglicher denkmögliche Sachverhalt zu ermitteln. Im gegenständlichen Fall habe der Mitbeteiligte - vertreten durch seine Eltern - explizit keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht, weshalb der Antrag nur so gedeutet werden könne, dass er keine Verfolgung befürchte.

10Selbst wenn man bejahen würde, dass das BFA zu weiteren Ermittlungen verpflichtet gewesen wäre, sei dieser Verfahrensmangel nicht wesentlich und habe die Beschwerde mit ihrem unsubstantiierten Vorbringen weder aufgezeigt, welcher Sachverhalt festzustellen gewesen wäre, noch, dass krasse bzw. besonders gravierende Ermittlungslücken vorliegen würden. Abgesehen davon hätte das BVwG die für notwendig erachteten Ermittlungsschritte selbst durchführen müssen, weil es zur Entscheidung in der Sache verpflichtet sei.

11Die Revision ist zulässig. Sie ist auch begründet.

Zu § 19 Abs. 2 AsylG 2005

12§ 19 des Bundesgesetzes über die Gewährung von Asyl (Asylgesetz 2005 - AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100 idF BGBl. I Nr. 24/2016, lautet auszugsweise:

Befragungen und Einvernahmen

§ 19. (1) ...

(2) Ein Asylwerber ist vom Bundesamt, soweit er nicht auf Grund von in seiner Person gelegenen Umständen nicht in der Lage ist, durch Aussagen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen, zumindest einmal im Zulassungsverfahren und - soweit nicht bereits im Zulassungsverfahren über den Antrag entschieden wird - zumindest einmal nach Zulassung des Verfahrens einzuvernehmen. Eine Einvernahme kann unterbleiben, wenn dem Asylwerber, ein faktischer Abschiebeschutz nicht zukommt (§ 12a Abs. 1 oder 3). Weiters kann eine Einvernahme im Zulassungsverfahren unterbleiben, wenn das Verfahren zugelassen wird. § 24 Abs. 3 bleibt unberührt.

...“

13Vorliegend ist die Bedeutung der Wortfolge „soweit er nicht auf Grund von in seiner Person gelegenen Umständen nicht in der Lage ist, durch Aussagen zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes beizutragen“ strittig. Das BFA ist der Auffassung, dass diese Wortfolge dahin auszulegen sei, dass im Falle minderjähriger, gesetzlich vertretener Asylwerber keine Verpflichtung bestehe, jedenfalls deren gesetzliche Vertretung einzuvernehmen. Das BVwG geht davon aus, dass eine derartige Verpflichtung auch in diesem Fall besteht.

14In den Erläuterungen zur Stammfassung des § 19 AsylG 2005, in der sich bereits diese Wortfolge findet (ErläutRV 952 BlgNR 22. GP 44) wird dazu wie folgt ausgeführt:

„Abs. 2 entspricht größtenteils geltender Rechtslage. Jeder Asylwerber soll nicht nur unverzüglich (§ 51 AVG) einvernommen, sondern nach Möglichkeit von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter persönlich angehört werden. Die abweichende Formulierung soll dem Gedanken der Unmittelbarkeit näher kommen ohne zu verkennen, dass die Entscheidungen der ersten Instanz dem Behördenleiter (§ 58) zuzurechnen sind. Eine Einvernahme im Zulassungsverfahren kann nur unterbleiben, wenn schon vor dieser feststeht, dass das Verfahren zugelassen wird - im inhaltlichen Verfahren in der Außenstelle ist jedenfalls eine Befragung vorzunehmen. Dieses Grundprinzip der Anhörung im Verfahren wird nur durch den abschließend normierten Sonderfall des § 24 Abs. 3 durchbrochen.

Aus anderen Erwägungen als jene des § 24 Abs. 3 kann nach Abs. 2 von der Einvernahme des Asylwerbers in jenen Fällen abgesehen werden, in denen durch die Einvernahme kein Beitrag zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes erwartet werden kann, etwa weil sie auf Grund einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung oder auf Grund ihres Alters dazu nicht in der Lage sind.“

15Danach kann eine Einvernahme unterbleiben, wenn durch die Einvernahme kein Beitrag zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes erwartet werden kann. Dazu führen die Erläuterungen als Beispiel an, dass die Asylwerber auf Grund ihres Alters dazu nicht in der Lage sind.

16Auf eine allenfalls durchzuführende Einvernahme der gesetzlichen Vertreter dieser Personen gehen die Erläuterungen nicht ein (vgl. zur gesetzlichen Vertretung von minderjährigen Asylwerbern umfassend -0353, mwN).

17Jedoch lassen die oben angeführten Erläuterungen erkennen, dass der Gesetzgeber bei der Einvernahme nach § 19 AsylG 2005 davon ausgegangen ist, dass die Asylwerber selbst in der Lage sind, einen Beitrag zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes zu leisten, was nicht erwartet werden kann, wenn sie auf Grund einer schwerwiegenden psychischen Erkrankung oder auf Grund ihres Alters dazu nicht in der Lage sind. Diese Auslegung ist auch vor dem Grundsatz, dass dem Vorbringen des Asylwerbers - wie auch aus § 18 Abs. 1 AsylG 2005 deutlich hervorgeht - zentrale Bedeutung zukommt (vgl. für viele etwa -0406, mwN), geboten.

18Dagegen würde eine Auslegung, wonach in jedem Fall die gesetzlichen Vertreter prozessunfähiger Asylwerber einzuvernehmen seien, der Bestimmung des § 19 Abs. 2 AsylG 2005 jeden Anwendungsbereich nehmen. Eine derartige - im Ergebnis sinnlose - Regelung erlassen zu haben, kann dem Gesetzgeber des AsylG 2005 aber nicht unterstellt werden (vgl. in diesem Zusammenhang zum WRG 1959 etwa ).

19In der vorliegenden Rechtssache ist offenkundig, dass der zum Zeitpunkt der Erlassung des Bescheides des BFA nicht einmal drei Monate alte Mitbeteiligte nicht selbst in der Lage war, durch eigene Aussagen einen Beitrag zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhaltes zu leisten. Daher war das BFA entgegen der Auffassung des BVwG auch berechtigt, gemäß § 19 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 von der Durchführung einer Einvernahme abzusehen.

Zur Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 VwGVG

20Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs kann von der Möglichkeit der Zurückverweisung nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden; eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher nur dann in Betracht, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhaltes (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterlassen hat, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (vgl. etwa , mwN).

21Im vorliegenden Fall ergeben sich keine krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken, die im Sinn der dargestellten Rechtsprechung eine Aufhebung und Zurückverweisung der Angelegenheit an das BFA zur Durchführung notwendiger Ermittlungen rechtfertigen könnten.

22So durfte das BFA vorliegend zu Recht davon ausgehen, dass der Mitbeteiligte im Verfahren vor dem BFA keine eigenen Fluchtgründe geltend gemacht hat, und ist daher nicht zu erkennen ist, dass der Bescheid an besonders krassen bzw. gravierenden Ermittlungslücken leidet (vgl. auch , wonach auch der Umstand, dass weitere Vernehmungen erforderlich sind, für sich genommen eine Aufhebung und Zurückverweisung nicht rechtfertigt).

Ergebnis

23Der angefochtene Beschluss war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2021010090.L00
Schlagworte:
Auslegung Anwendung der Auslegungsmethoden Verhältnis der wörtlichen Auslegung zur teleologischen und historischen Auslegung Bedeutung der Gesetzesmaterialien VwRallg3/2/2

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