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VwGH vom 10.03.2021, Ra 2020/22/0256

VwGH vom 10.03.2021, Ra 2020/22/0256

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.aMerl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Z P, vertreten durch Dr. Karl Muzik, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Graf Starhemberg-Gasse 39/17, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , VGW-151/083/7488/2020-1, betreffend Ausstellung einer Aufenthaltskarte (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, beantragte am beim Landeshauptmann von Wien (Behörde) die Ausstellung einer Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Dabei berief er sich auf die Ehe mit einer rumänischen Staatsangehörigen, die ihr Recht auf Freizügigkeit in Anspruch genommen habe.

2Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Verwaltungsgericht Wien (VwG) die Beschwerde gegen den abweisenden Bescheid der Behörde vom als unbegründet ab und erklärte eine ordentliche Revision als unzulässig.

Den kurzen Angaben über den Antrag des Revisionswerbers folgt eine wörtliche Wiedergabe des Beschwerdeschriftsatzes; anschließend stellte das VwG als Sachverhalt Folgendes fest:

„1.Der Beschwerdeführer ist ein am geborener serbischer Staatsangehöriger.

2.Der Beschwerdeführer ist seit mit der rumänischen Staatsbürgerin V[...] B[...] (geboren am ) verheiratet.

3.In Österreich lebt die Ehegattin des Beschwerdeführers seit nicht. Sie verfügt über keine Anmeldebescheinigung, keinen Wohnsitz in Österreich und über keine Versicherungszeiten. Ihr Reisepass oder eine Anmeldebescheinigung wurden ebenfalls nicht vorgelegt.“

In der Beweiswürdigung führte das VwG aus, der Verfahrensgang und die Feststellungen seien aus der Aktenlage unzweifelhaft feststellbar und nicht weiter strittig; der Revisionswerber gebe selbst an, dass sich seine Ehegattin in Rumänien aufhalte, laut ZMR-Auszug bestehe für seine Ehegattin keine aufrechte Wohnsitzmeldung in Wien, eine Anmeldebescheinigung sei im gesamten Verfahren nicht vorgelegt worden.

Nach Aufzählung der anzuwendenden Rechtsvorschriften folgt als rechtliche Beurteilung, das Aufenthaltsrecht eines Drittstaatsangehörigen eines EWR-Bürgers setze voraus, dass der zusammenführende Unionsbürger auch tatsächlich in Österreich aufhältig sei. Im vorliegenden Verfahren gebe der Revisionswerber selbst an, dass sich seine (zusammenführende) Ehegattin in Rumänien aufhalte. Dass diese Angaben zuträfen, ergebe sich auch aus dem ZMR-Auszug (kein aufrechter Wohnsitz in Österreich) und der Tatsache, dass keine Anmeldebescheinigung vorliege. Das Argument in der Beschwerde, die Ehegattin des Revisionswerbers sei mit diesem im Jahr 2017 nach Österreich gekommen, ändere nichts an der Tatsache, dass sie sich aktuell nicht in Österreich aufhalte und somit kein Freizügigkeitssachverhalt vorliege. Eine Wohnsitznahme im Jahr 2017 für einen Monat in Wien perpetuiere kein unionsrechtlich ableitbares Aufenthaltsrecht für den Revisionswerber. Die in der Beschwerde beantragte Einvernahme eines Zeugen für die Wohnsitznahme für einen Monat im Jahr 2017 sei mangels Wesentlichkeit für die Entscheidung abzulehnen.

Die Durchführung einer Verhandlung habe unterbleiben können, weil der Sachverhalt nach der Aktenlage unstrittig sei.

3Der Verwaltungsgerichtshof hat - nach Durchführung des Vorverfahrens - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

4Die Revision ist im Hinblick auf das Vorbringen in der Zulässigkeitsbegründung betreffend die Frage der Kontinuität des Aufenthaltes der Zusammenführenden angesichts ihrer schweren bösartigen Erkrankung bei willentlicher Aufrechterhaltung des gemeinsamen ehelichen Wohnsitzes in Österreich zulässig.

5§§ 51 und 54 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2020, lauten auszugsweise:

Unionsrechtliches Aufenthaltsrecht von EWR-Bürgern für mehr

als drei Monate

§ 51. (1) Auf Grund der Freizügigkeitsrichtlinie sind EWR-Bürger zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt, wenn sie

1.in Österreich Arbeitnehmer oder Selbständige sind;

2.für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen, so dass sie während ihres Aufenthalts weder Sozialhilfeleistungen noch die Ausgleichszulage in Anspruch nehmen müssen, oder

3.als Hauptzweck ihres Aufenthalts eine Ausbildung einschließlich einer Berufsausbildung bei einer öffentlichen Schule oder einer rechtlich anerkannten Privatschule oder Bildungseinrichtung absolvieren und die Voraussetzungen der Z 2 erfüllen.

(2) ...

Aufenthaltskarten für Angehörige eines EWR-Bürgers

§ 54. (1) Drittstaatsangehörige, die Angehörige von unionsrechtlich aufenthaltsberechtigten EWR-Bürgern (§ 51) sind und die in § 52 Abs. 1 Z 1 bis 3 genannten Voraussetzungen erfüllen, sind zum Aufenthalt für mehr als drei Monate berechtigt. Ihnen ist auf Antrag eine Aufenthaltskarte für die Dauer von fünf Jahren oder für die geplante kürzere Aufenthaltsdauer auszustellen. Dieser Antrag ist innerhalb von vier Monaten ab Einreise zu stellen. § 1 Abs. 2 Z 1 gilt nicht.

2....“

§ 24 und § 29 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr. 33/2013 idF BGBl. I Nr. 138/2017, lauten:

Verhandlung

§ 24. (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

(2) Die Verhandlung kann entfallen, wenn

1.der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben oder die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt für rechtswidrig zu erklären ist oder

2.die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist;

3.wenn die Rechtssache durch einen Rechtspfleger erledigt wird.

(3) Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.

(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.

(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.

Verkündung und Ausfertigung der Erkenntnisse

§ 29. (1) Die Erkenntnisse sind im Namen der Republik zu verkünden und auszufertigen. Sie sind zu begründen.

(2) ...“

6Der Verwaltungsgerichtshof sprach zur Begründungspflicht der Erkenntnisse der Verwaltungsgerichte gemäß § 29 VwGVG bereits wiederholt aus, dass die Begründung jenen Anforderungen zu entsprechen hat, die in seiner Rechtsprechung zu den § 58 und 60 AVG entwickelt wurden. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhaltes, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Fall des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides führten. Diesen Erfordernissen werden die Verwaltungsgerichte dann gerecht, wenn sich die ihre Entscheidungen tragenden Überlegungen zum maßgeblichen Sachverhalt, zur Beweiswürdigung sowie zur rechtlichen Beurteilung aus den verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen selbst ergeben (vgl. , Rn. 16, mwN).

7Diesen Anforderungen entspricht das angefochtene Erkenntnis nicht. Der Revisionswerber brachte in der Beschwerde vor, seine Ehefrau sei nach der gemeinsamen Wohnsitznahme in Wien im Jahr 2017 schwer erkrankt (Brustkrebs) und habe sich „in die ständige spitalsärztliche Behandlung“ zu ihren Vertrauensärzten in Rumänien begeben, wo sie sich seither ununterbrochen in ärztlicher Behandlung befinde. Das VwG traf dazu keine Feststellungen und setzte sich darüber hinaus auch in der rechtlichen Beurteilung nicht mit der Frage auseinander, wie ein krankheitsbedingter Auslandsaufenthalt der Zusammenführenden in Hinblick auf die Ausstellung einer Aufenthaltskarte für deren Angehörige zu beurteilen wäre. Eintragungen im Zentralen Melderegister kommt nach ständiger hg. Rechtsprechung nur Indizwirkung zu (vgl. etwa , mwN). Auch eine Anmeldebescheinigung hätte nur deklarativen Charakter. Die der angefochtenen Entscheidung zugrunde gelegten Argumente, dass sich die Ehefrau „aktuell“ in Rumänien aufhalte, im Zentralen Melderegister für sie keine aufrechte Wohnsitzmeldung vorliege und keine Anmeldebescheinigung vorgelegt worden sei, sind nicht tragfähig für die Versagung einer Aufenthaltskarte.

Das VwG traf auch keine ausreichenden Feststellungen zu § 51 Abs. 1 NAG betreffend die Voraussetzungen für das Vorliegen eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts der Ehefrau des Revisionswerbers. Dass die Zusammenführende über keine Versicherungszeiten in Österreich verfüge, greift zu kurz (vgl. dazu etwa ; , 2010/22/0104, mwN). Das VwG hätte - etwa im Rahmen einer Verhandlung oder durch Befragung der Ehefrau im Weg der Amtshilfe - den Sachverhalt betreffend die mögliche Inanspruchnahme der Freizügigkeit durch die Ehefrau des Revisionswerbers vollständig ermitteln müssen.

Dem VwG ist auch nicht zuzustimmen, dass „der Sachverhalt nach der Aktenlage unstrittig war“, es setzte sich mit dem Vorbringen des Revisionswerbers betreffend das Vorliegen der Voraussetzungen gemäß § 51 Abs. 1 Z 1 bis 3 NAG jedoch nicht ausreichend auseinander. Auch wenn nicht ausdrücklich die Durchführung einer Verhandlung beantragt wurde, ist nicht zu erkennen, dass im gegenständlichen Fall eine Verhandlung gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG nicht erforderlich gewesen wäre.

Trifft es nämlich zu, dass - wie der Revisionswerber vorbringt - seine Ehefrau zwischen den spitalsärztlichen Behandlungen wiederholt bei ihm in Wien aufhältig war und weiterhin den gemeinsamen ehelichen Wohnsitz in Wien aufrechterhalten möchte, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht verfügt.

8Mangels Ermittlungen und Feststellungen zu entscheidungsrelevanten Umständen (insbesondere, ob die Ehefrau des Revisionswerbers im vorliegenden Fall ihr unionsrechtliches Aufenthaltsrecht in Anspruch nahm) ist es dem Verwaltungsgerichtshof nicht möglich, die angefochtene Entscheidung in der vom Gesetz geforderten Weise einer nachprüfenden Kontrolle zu unterziehen (vgl. u.a. , Rn. 21; , Ra 2017/18/0278, Rn. 10, 11).

9Angesichts des mangelhaft festgestellten Sachverhaltes war der in der Revision gestellten Anregung, dem EuGH näher bezeichnete Fragen zur Vereinbarkeit der vom VwG im vorliegenden Fall getroffenen Beurteilung mit Art. 24 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG zur Vorabentscheidung vorzulegen, nicht näher zu treten.

10Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

11Ausgehend davon erübrigt sich eine Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes über den Antrag, der Revision aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

12Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die § 47ff. VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220256.L00

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Fundstelle(n):
JAAAE-88089