VwGH vom 20.02.2014, 2013/21/0217
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin MMag. Wagner, über die Beschwerde der X W in W, vertreten durch Dr. Julia Ecker, Mag. Wilfried Embacher und Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwälte in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom , Zl. UVS-02/32/4011/2013-24, wegen Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Beschwerdeführerin, eine chinesische Staatsangehörige, reiste im Februar 2005 nach Österreich ein und stellte hier einen Asylantrag. Das Bundesasylamt wies diesen Antrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 ab, erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Volksrepublik China gemäß § 8 Abs. 1 Asylgesetz 1997 für zulässig und wies die Beschwerdeführerin gemäß § 8 Abs. 2 Asylgesetz 1997 in die Volksrepublik China aus. Einer dagegen erhobenen Berufung gab der unabhängige Bundesasylsenat mit am in Rechtskraft erwachsenem Bescheid keine Folge.
Am erging gegen die - im Bundesgebiet verbliebene - Beschwerdeführerin, neben einem Durchsuchungsauftrag nach § 75 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG ein auf § 74 Abs. 2 Z. 1 und 2 FPG gestützter Festnahmeauftrag. Dieser wurde am gegenüber der - vor den einschreitenden Sicherheitswachebeamten flüchtenden - Beschwerdeführerin vollzogen. Während der darauf folgenden Anhaltung wurden bei der Beschwerdeführerin Rippenbrüche festgestellt, sie wurde deshalb wegen Haftunfähigkeit enthaftet.
Gegen die - nach ihren Behauptungen - unverhältnismäßige Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt bei der Festnahme erhob die Beschwerdeführerin am Administrativbeschwerde. Sie machte (zusammengefasst) geltend, die am durch drei Sicherheitsorgane vorgenommene Amtshandlung habe in einem minutenlangen gewaltsamen Anhalten und Fixieren am Boden (gewaltsames Zubodendrücken des Kopfes und des Körpers der Beschwerdeführerin) unter Zufügung schwerer Verletzungen bei gleichzeitigem herabwürdigendem Auslachen, obwohl sie vor Schmerz geschrieen habe, und dem Anlegen von Handschellen bestanden. Die Art der Durchführung der Festnahme erweise sich als unverhältnismäßig und daher rechtswidrig. Sie beantragte die Einholung des Gutachtens eines medizinischen Sachverständigen aus dem Bereich der Orthopädie sowie der Lungenheilkunde zum Nachweis der Schwere ihrer Verletzungen sowie dafür, dass ihre Verletzungen durch das - im Einzelnen näher beschriebene - Einschreiten der Sicherheitsorgane verursacht worden seien.
Die belangte Behörde führte am eine mündliche Verhandlung durch. Sie wies den genannten Beweisantrag ab, weil "der Gutachter selbst nicht beim Vorfall anwesend war und daher in seinem Gutachten mehrere Erklärungen für die beiden gebrochenen Rippen anführen müsste. Dies umso mehr, als sich die Angaben der Beschwerdeführerin mit jenen der beiden Zeugen (der einschreitenden Sicherheitswachebeamten) in mehreren, für das Gutachten wesentlichen Punkten widersprechen."
Mit dem angefochtenen Bescheid vom wies die belangte Behörde die genannte Administrativbeschwerde "gemäß § 67a Abs. 1 Z 2 und § 67c Abs. 3 AVG" als unbegründet ab.
Dazu stellte sie - soweit im vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung - fest, die Beschwerdeführerin sei, nachdem ihr Reisepass in einem Koffer aufgefunden worden war, vor den drei einschreitenden Sicherheitswachebeamten aus ihrer Wohnung geflohen. Inspektor N. und Inspektor S. seien ihr nachgelaufen, haben sie aber weder im Stiegenhaus noch im Innenhof wahrnehmen können. Inspektor N. habe im Hof, als die Tür zu einer weiteren Stiege (zur Straße) zufiel, gesehen, dass sie diese Treppe hinunter gelaufen sei. Er sei ihr gefolgt, habe sie auf der Straße eingeholt und sie am linken Arm festgehalten. Die Beschwerdeführerin habe sich losreißen wollen, weshalb Inspektor N. den Armstreckhebel angewendet und sie damit aus dem Gleichgewicht und zu Boden gebracht habe. Auf dem Bauch liegend habe die Beschwerdeführerin versucht, sich mit der rechten freien Hand aus dem Griff zu winden. Inspektor S. habe dann ihren rechten Arm auf den Boden gedrückt. Sie habe jedoch weiter versucht, sich mit dem Körper herauszuwinden, indem sie den Oberkörper hin und her drehte, sodass der Anschein entstanden sei, sie werde erneut zu flüchten versuchen. Deshalb seien ihr Handfesseln angelegt worden. Danach sei sie aus der Bauchlage in eine sitzende Position gebracht und - im Zuge einer rund halbstündigen Fahrt - in das polizeiliche Anhaltezentrum überstellt worden. Dort habe sie über Schmerzen in der linken Brusthälfte und im Bereich des Oberarmes geklagt, worauf sie ins Wilhelminenspital überstellt und dort der Bruch von zwei Rippen festgestellt worden sei. Die Beschwerdeführerin sei "in häusliche Pflege entlassen" worden. Nach Rücküberstellung in das polizeiliche Anhaltezentrum sei sie auf Grund der Rippenbrüche für haftunfähig erklärt und aus der Haft entlassen worden.
In ihrer Beweiswürdigung führte die belangte Behörde näher aus, sie habe den von ihr einvernommenen Polizeibeamten mehr Glauben geschenkt als den Ausführungen der Beschwerdeführerin. Dadurch sei sie zum Ergebnis gelangt, dass keiner der beiden Polizisten die Beschwerdeführerin mit einem Knie oder mit einem Ellenbogen zu Boden gedrückt habe. Die Rippenbrüche könnten "nach den Erfahrungen des täglichen Lebens" ebenso durch einen heftigen Anstoß an der Brust (z.B. beim Laufen gegen das Stiegengeländer) oder auch einen Sturz (etwa auf den Stufen) herbeigeführt worden sein, wenn die einvernommenen Polizeibeamten auch Derartiges selbst nicht wahrgenommen hätten und die Beschwerdeführerin bestritten habe, bei ihrer Flucht irgendwo angestoßen oder gestürzt zu sein. Es wäre auch möglich, dass die Rippenbrüche bei der Anwendung des Armstreckhebels und des Zubodenbringens der Beschwerdeführerin entstanden seien, wofür sich jedoch kein Anhaltspunkt finde. Inspektor N. habe ausgesagt, dass er sich dies nicht vorstellen könne. Auch die Beschwerdeführerin habe erklärt, nicht zu glauben, dass der Rippenbruch (bereits) beim Zubodenbringen passiert sei. Auf Grund der nicht miteinander in Einklang zu bringenden Versionen der Beschwerdeführerin einerseits (wonach ihre Verletzungen durch das gewaltsame Zubodendrücken mit dem Knie eines Polizisten entstanden seien, was nicht geglaubt werde) und jener der Polizeibeamten andererseits (die Beschwerdeführerin müsste sich ihre Verletzungen bei der Flucht zugezogen haben, wofür es jedoch keinen Nachweis gebe), auf Grund des Umstandes, dass weder die Polizeibeamten noch die Beschwerdeführerin ihr Zubodenbringen mittels Armstreckhebel als Ursache für die gebrochenen Rippen ansehen, und dass es auch wenig wahrscheinlich sei, dass die Rippen beim Nachhintenbiegen des linken Armes und Schließen der Armfesseln gebrochen wurden, sehe sich die belangte Behörde außerstande, dem Beschwerdevorbringen zu folgen und den Nachweis, dass das Vorgehen der einschreitenden Sicherheitswachebeamten unverhältnismäßig gewesen sei und deshalb zum Bruch von Rippen bei der Beschwerdeführerin geführt habe, als erwiesen anzusehen. Insgesamt fehle es "an der hinreichenden Klärung des maßgeblichen Beschwerdevorbringens", die Amtshandlung wäre im Hinblick auf die erlittenen Rippenbrüche iSd Art. 3 EMRK nicht notwendig und unverhältnismäßig gewesen, sodass die Administrativbeschwerde als unbegründet abzuweisen sei.
Über die dagegen erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage seitens der belangten Behörde erwogen:
Vorauszuschicken ist, dass gemäß dem letzten Satz des § 79 Abs. 11 VwGG idF BGBl. I Nr. 122/2013 in den mit Ablauf des beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdesachen - soweit (wie für den vorliegenden "Altfall") durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz (VwGbk-ÜG), BGBl. I Nr. 33/2013, nicht anderes bestimmt ist - die bis zum Ablauf des geltenden Bestimmungen des VwGG weiter anzuwenden sind.
Aus § 13 Abs. 4 FPG ergibt sich, dass die Anwendung von Körperkraft im Rahmen exekutiver Zwangsbefugnisse denselben grundsätzlichen Einschränkungen wie der im Waffengebrauchsgesetz geregelte Waffengebrauch unterliegt. Sie muss demnach entsprechend der Judikatur der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts für ihre Rechtmäßigkeit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip entsprechen und darf nur dann Platz greifen, wenn sie notwendig ist, um Menschen angriffs-, widerstands- oder fluchtunfähig zu machen und maßhaltend vor sich geht. Es darf jeweils nur das gelindeste Mittel, das zum Erfolg (hier zur Ermöglichung der Festnahme unter Bedachtnahme auf die Eigensicherung der einschreitenden Beamten) führt, angewendet werden; dies gilt auch für das Anlegen von Handfesseln (vgl. zum Ganzen etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 99/01/0013, und vom , Zl. 2008/09/0075, jeweils mwN).
In diesem Zusammenhang hat die belangte Behörde - nach der (in unzulässiger vorgreifender Beweiswürdigung erfolgten) Abweisung des oben wiedergegebenen, ausdrücklich zum Nachweis der kausalen Verursachung der Verletzungen durch die Anwendung von Körperkraft der einschreitenden Sicherheitswachebeamten gestellten Antrages auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens - im Ergebnis ausgeführt, sie könne die Ursache für die unbestrittenen Verletzungen der Beschwerdeführerin (Rippenbrüche), die zumindest in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit einem festgestelltermaßen massiven Polizeieinsatz standen, nicht feststellen. Die dabei von ihr angestellten Überlegungen zu möglichen kausalen Ereignissen ohne Zutun der einschreitenden Polizisten (etwa über ein Weiterlaufen der Beschwerdeführerin trotz eines - ohne Beweisgrundlage unterstellten - Sturzes oder anderer Vorgänge, durch die es zum Bruch mehrerer Rippen gekommen wäre) sind allerdings rein spekulativ und haben - selbst auf Basis der Aussagen der einschreitenden Sicherheitswachebeamten - keine Grundlage. Es ist also nicht ernstlich ersichtlich, was außer dem unmittelbaren Handeln der Beamten die Verletzungsfolgen nach sich gezogen hätte (vgl. zu ähnlichen Konstellationen etwa das Urteil des EGMR vom , 42/1994/489/571, Ribitsch gegen Österreich (ÖJZ 1996/5), das darauf Bezug nehmende Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , B 1341/97 = VfSlg. 15372, sowie das hg. Erkenntnis vom , Zl. 99/01/0013).
Nach dem Gesagten ist der bekämpfte Bescheid mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet. Er war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.
Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der (auf "Altfälle" gemäß § 3 Z 1 VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013 idF BGBl. II Nr. 8/2014, weiter anzuwendenden) VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.
Wien, am