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VwGH vom 22.04.2021, Ra 2020/22/0226

VwGH vom 22.04.2021, Ra 2020/22/0226

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger sowie die Hofrätin MMag. Ginthör als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Landeshauptmannes von Wien (als belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht) gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , Zl. VGW-151/084/7540/2020-1, betreffend Wiederaufnahme eines Verfahrens bezüglich Dokumentation eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts (mitbeteiligte Partei: V P, vertreten durch die Lansky, Ganzger & Partner Rechtsanwälte GmbH in 1010 Wien, Biberstraße 5), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1. Dem Mitbeteiligten, einem serbischen Staatsangehörigen, wurde auf Grund seines am unter Berufung auf seinen Stiefvater, einen ungarischen Staatsangehörigen, gestellten Antrags vom Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) eine Aufenthaltskarte gemäß § 54 Abs. 1 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) ausgestellt.

2. Mit Bescheid vom nahm die belangte Behörde dieses rechtskräftig abgeschlossene Verfahren gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 in Verbindung mit Abs. 3 und 4 AVG wieder auf und wies den Antrag des Mitbeteiligten auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte mangels Anwendbarkeit der Bestimmungen über das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht ab.

3. Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom gab das Verwaltungsgericht Wien der dagegen erhobenen Beschwerde des Mitbeteiligten statt und hob den bekämpften Bescheid der belangten Behörde ersatzlos auf. Die ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG wurde für unzulässig erklärt.

Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung zugrunde, die belangte Behörde habe das rechtskräftig abgeschlossene Verfahren auf Grund des Antrags vom , „abgeschlossen ebenfalls am durch Aushändigung der beantragten Aufenthaltskarte“, wiederaufgenommen, weil es sich bei der Ehe zwischen der Mutter des Mitbeteiligten und seinem Stiefvater, von dem der Mitbeteiligte sein Aufenthaltsrecht abgeleitet habe, um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe.

Gemäß § 69 Abs. 3 AVG - so das Verwaltungsgericht in seiner rechtlichen Beurteilung - könne auch eine amtswegige Wiederaufnahme nach Ablauf von drei Jahren nach Erlassung des Bescheides nur mehr aus den Gründen des § 69 Abs. 1 Z 1 AVG (etwa infolge Erschleichen) stattfinden. Die belangte Behörde habe selbst festgestellt, dass sich der Mitbeteiligte sein Aufenthaltsrecht nicht wider besseres Wissen erschlichen habe, und sie habe die Wiederaufnahme ausdrücklich auf § 69 Abs. 1 Z 2 AVG (Hervorkommen neuer Tatsachen oder Beweismittel) gestützt. Das wiederaufgenommene Verfahren sei am durch Ausstellung der Aufenthaltskarte abgeschlossen und der nunmehr angefochtene Bescheid vom dem Mitbeteiligten am zugestellt worden. Da die in § 69 Abs. 3 AVG vorgesehene Frist von drei Jahren bereits abgelaufen gewesen sei, sei eine amtswegige Wiederaufnahme gemäß § 69 Abs. 1 Z 2 AVG nicht mehr zulässig und der angefochtene Bescheid schon aus diesem Grund ersatzlos aufzuheben.

Des Weiteren verwies das Verwaltungsgericht auf das hg. Erkenntnis vom , 2011/18/0039. Darin habe der Verwaltungsgerichtshof festgehalten, dass dem (dortigen) Beschwerdeführer hinsichtlich der von seinem Vater eingegangenen Aufenthaltsehe kein Fehlverhalten vorgeworfen werden könne und der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers nicht wegen dieser Aufenthaltsehe die öffentliche Ordnung im Sinn des § 11 Abs. 4 Z 1 NAG gefährde. Gegenständlich habe die belangte Behörde selbst festgehalten, dass sich der Mitbeteiligte sein Aufenthaltsrecht nicht erschlichen habe. Ein Entzug der Aufenthaltskarte stünde daher auch in Widerspruch zu dieser Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.

4. Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision der belangten Behörde.

Der Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der er die Zurückweisung, in eventu die Abweisung der Revision begehrt.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

5. Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit zum einen vor, das Verwaltungsgericht sei mit seiner Begründung im Zusammenhang mit § 69 Abs. 3 AVG von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, der zufolge die rechtliche Wirkung erst durch die (vorliegend am vorgenommene) Ausfolgung der Karte eingetreten sei. Zum anderen lasse sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichtes aus dem ins Treffen geführten hg. Erkenntnis 2011/18/0039 nichts ableiten, weil es im vorliegenden Fall nicht um die Gefährdung der öffentlichen Ordnung gehe, sondern darum, ob im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG neue Tatsachen oder Beweise hervorgekommen seien.

Die Revision erweist sich im Hinblick darauf als zulässig und auch berechtigt.

6.1. Zu der auf § 69 Abs. 3 AVG gestützten Begründung der ersatzlosen Behebung des Bescheides durch das Verwaltungsgericht bringt der Revisionswerber vor, dass der Beginn der dort vorgesehenen dreijährigen Frist auf die Erlassung und somit die Zustellung des Bescheides abstelle. Zum Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels in Form einer Karte habe der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom , 2012/22/0206, ausgesprochen, dass die Ausfolgung (und damit die Übergabe und Entgegennahme) der Karte die Zustellung bewirke und die rechtliche Wirkung des Bescheides erst durch diesen Akt entstehe. Dieser Zeitpunkt sei auch für den Beginn der objektiven Frist des § 69 Abs. 3 AVG maßgeblich.

Im vorliegenden Fall habe die belangte Behörde dem Mitbeteiligten die Karte - wie durch die Übernahmebestätigung im Verwaltungsakt dokumentiert sei - am persönlich übergeben. Da der Wiederaufnahmebescheid dem Mitbeteiligten am zugestellt worden sei, sei die Wiederaufnahme rechtzeitig erfolgt. Das Verwaltungsgericht habe offenkundig auf den Zeitpunkt der Anforderung der Aufenthaltskarte durch die belangte Behörde am abgestellt. Die Erlassung eines Bescheides sei aber nicht mit dem Abschluss der internen Willensbildung der Behörde gleichzusetzen, weshalb die angefochtene Entscheidung von der dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweiche. Sollte das Verwaltungsgericht von einer Übernahme der Karte durch den Mitbeteiligten bereits am ausgegangen sein, stünde dies in Widerspruch mit dem Akteninhalt.

6.2. Der Mitbeteiligte verweist in seiner Revisionsbeantwortung darauf, dass ihm eine Aufenthaltskarte mit einer Gültigkeitsdauer von bis ausgehändigt worden sei. Aus dem seitens des Revisionswerbers ins Treffen geführten hg. Erkenntnis 2011/22/0206 könne für den vorliegenden Fall nichts abgeleitet werden, weil es sich nicht um ein mit Bescheid abgeschlossenes Verfahren handle und eine Wiederaufnahme nach § 69 Abs. 1 AVG somit nicht möglich sei. Diesbezüglich wird auf näher zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtes Wien verwiesen. Zudem wird dem Revisionsvorbringen entgegengehalten, dass die belangte Behörde bereits am die Aufenthaltskarte bestellt und daher mit diesem Datum im Verfahren positiv entschieden habe. Auch wenn nach den Ausführungen im zitierten hg. Erkenntnis 2011/22/0206 die Ausfolgung der Karte „in der Regel“ den Akt der Zustellung bewirke, bedeute dies nicht, dass dies in jedem Fall so sei; bei Aufenthaltstiteln, die ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht dokumentierten, sei dies nicht der Fall. Sollte es überhaupt auf die dreijährige Frist des § 69 Abs. 3 AVG ankommen, könne nur der das relevante Datum sein.

6.3. Soweit der Mitbeteiligte bereits dem Grunde nach die Unzulässigkeit einer auf § 69 Abs. 1 AVG gestützten Wiederaufnahme eines mit Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts beendeten Verfahrens ins Treffen führt, kann gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG auf die Entscheidungsgründe des hg. Erkenntnisses vom , Ro 2020/22/0010, verwiesen werden. Darin hat der Verwaltungsgerichtshof ausgesprochen, dass einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts nicht jede Bescheidwirkung abgesprochen werden kann und mangels spezieller Regelungen betreffend die Aufhebung der Rechtswirkungen diesbezüglich ein Anwendungsbereich des § 69 AVG zu bejahen ist. Der Wiederaufnahme stand daher kein grundsätzliches Hindernis entgegen.

Daher ist zu prüfen, ob zum Zeitpunkt der Erlassung des die Wiederaufnahme verfügenden Bescheides der belangten Behörde am die Dreijahresfrist des § 69 Abs. 3 AVG bereits abgelaufen war. Der Wortlaut des § 69 Abs. 3 AVG stellt für den Beginn dieser Frist auf die Erlassung des Bescheides ab, die in der Regel mit Zustellung des Bescheides erfolgt.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bewirkt im Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels als Karte die Ausfolgung (tatsächliche Übergabe und Entgegennahme) in der Regel gleichzeitig den Akt der Zustellung und es entsteht die rechtliche Wirkung des Bescheides erst durch diesen Akt (vgl. ; neuerlich 2012/22/0206; jeweils mwN). Entgegen der Ansicht des Mitbeteiligten gibt es keine Anhaltspunkte dafür, hinsichtlich der mit einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts (wie oben dargelegt) verbundenen Bescheidwirkung nicht ebenfalls an die Ausstellung der Dokumentation - im Sinn der Ausfolgung der entsprechenden Karte - anzuknüpfen. Dafür spricht auch, dass sowohl in dem (im oben zitierten Erkenntnis Ro 2020/22/0010 begründend herangezogenen) hg. Erkenntnis vom , Ro 2019/21/0004, als auch in der dort ins Treffen geführten Regelung des § 3 Abs. 5 NAG jeweils auf die Ausstellung einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts Bezug genommen wird. Ausgehend davon ist der Beginn der Dreijahresfrist des § 69 Abs. 3 AVG bei einer Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts mit der Ausfolgung bzw. Übergabe der Karte anzusetzen.

Das Verwaltungsgericht legte seiner Entscheidung - unter Bezugnahme auf den bekämpften Bescheid der belangten Behörde vom - eine Aushändigung (somit eine Ausfolgung) der Aufenthaltskarte am zugrunde. Demgegenüber lässt sich der im Verwaltungsakt einliegenden, vom Mitbeteiligten unterfertigten „Übernahmebestätigung“ entnehmen, dass der Mitbeteiligte die Aufenthaltskarte am übernommen hat und die Karte somit an diesem Tag ausgefolgt wurde. Damit knüpft aber auch die Bescheidwirkung an dieses Datum an. Hingegen kommt es für die Frage der in § 69 Abs. 3 AVG als maßgeblich erachteten Erlassung weder auf den auf der Aufenthaltskarte ausgewiesenen Gültigkeitsbeginn noch auf das Datum der Beauftragung der Herstellung der Karte durch die belangte Behörde an.

Ausgehend davon war zum Zeitpunkt der Erlassung des die Wiederaufnahme verfügenden Bescheides vom (mit ) die dreijährige Frist des § 69 Abs. 3 AVG noch nicht abgelaufen.

7.1. Das seitens des Verwaltungsgerichtes erfolgte Heranziehen des (eine Ausweisung nach § 54 Fremdenpolizeigesetz 2005 [FPG] betreffenden) hg. Erkenntnisses 2011/18/0039 erachtet der Revisionswerber als verfehlt. Während im dort zugrunde gelegenen Fall die Frage der Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit gemäß § 11 Abs. 2 Z 1 in Verbindung mit § 11 Abs. 4 Z 1 NAG durch den (dortigen) Beschwerdeführer gegenständlich gewesen sei, habe sich der hier vorliegende Bescheid der belangten Behörde auf den Wiederaufnahmegrund des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG gestützt. Für eine derartige Wiederaufnahme komme es aber nicht auf eine Irreführungsabsicht an, sondern nur darauf, ob neue Tatsachen oder Beweise hervorgekommen seien, die im Verfahren ohne Verschulden der Behörde unbekannt geblieben seien.

7.2. Der Mitbeteiligte geht demgegenüber von einer Relevanz des vom Verwaltungsgericht herangezogenen hg. Erkenntnisses 2011/18/0039 bzw. von einer analogen Anwendbarkeit der darin getroffenen Aussagen des Verwaltungsgerichtshofes auf den vorliegenden Fall aus.

7.3. Im zitierten hg. Erkenntnis 2011/18/0039 war eine auf § 54 Abs. 1 Z 1 FPG gestützte Ausweisung zu beurteilen, die seitens der dort belangten Behörde damit begründet worden war, dass sich die dem Aufenthaltstitel des dortigen Beschwerdeführers zugrunde gelegene Ehe seines Vaters als Aufenthaltsehe herausgestellt habe und der weitere Aufenthalt des Beschwerdeführers daher eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 1 in Verbindung mit § 11 Abs. 4 Z 1 NAG darstelle. Dem hat der Verwaltungsgerichtshof entgegengehalten, dass dem Beschwerdeführer hinsichtlich der Aufenthaltsehe seines Vaters kein Fehlverhalten vorgeworfen werden könne und die Frage der Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit nicht im Wege einer „Sippenhaftung“, sondern für jede Person eigenständig zu prüfen sei.

Davon zu unterscheiden ist aber der hier vorliegende Fall, in dem es nicht um die Frage der Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit durch den Mitbeteiligten geht, sondern (nur) darum, ob neue Tatsachen oder Beweismittel im Sinn des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG hervorgekommen sind. Dem Mitbeteiligten wurde im vorliegenden Fall auch kein Fehlverhalten vorgeworfen, zumal ein solches für das Bestehen des Wiederaufnahmegrundes des § 69 Abs. 1 Z 2 AVG nicht erforderlich ist. Dass die belangte Behörde den (zum Zeitpunkt der Ausstellung der Dokumentation des unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts am noch nicht bekannten) Umstand des fehlenden Führens eines Familienlebens zwischen der Mutter des Mitbeteiligten und seinem Stiefvater (und damit des Vorliegens einer Aufenthaltsehe) als neu hervorgekommene Tatsache ansehen durfte, wird seitens des Verwaltungsgerichtes nicht explizit in Abrede gestellt und begegnet dem Grunde nach auch keinen Bedenken.

Die belangte Behörde ist mit ihrer Entscheidung somit nicht vom zitierten hg. Erkenntnis 2011/18/0039 abgewichen und die ersatzlose Behebung des angefochtenen Bescheides konnte daher nicht mit einem Verstoß gegen diese Rechtsprechung begründet werden.

8. Ausgehend davon war das angefochtene Erkenntnis aber wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220226.L00

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