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VwGH vom 15.09.2020, Ra 2020/22/0173

VwGH vom 15.09.2020, Ra 2020/22/0173

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der Y Y, vertreten durch Dr. Peter Sellemond, Dr. Walter Platzgummer und Mag. Robert Sellemond, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Speckbacherstraße 25, gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , LVwG-2020/30/0664-2, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bezirkshauptmannschaft Innsbruck), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Die Revisionswerberin, eine äthiopische Staatsangehörige, verfügt seit 2017 über Aufenthaltstitel als Studentin. Nach Absolvierung der Deutschprüfung wurde sie mit zum ordentlichen Studium zugelassen.

Sie stellte fristgerecht einen Verlängerungsantrag, wies jedoch als Studienerfolg für das relevante Studienjahr 2018/2019 ( - ) nur einen Studienerfolg im Ausmaß von 5 ECTS-Punkten nach. Am - und somit einen Tag nach Ablauf des relevanten Studienjahres - legte sie eine weitere Prüfung im Ausmaß von insgesamt 10 ECTS-Punkten positiv ab.

2Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Landesverwaltungsgericht Tirol (LVwG) die Beschwerde der Revisionswerberin gegen den abweisenden Bescheid der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck (Behörde) als unbegründet ab und erklärte eine ordentliche Revision für nicht zulässig.

Begründend führte das LVwG - soweit für das gegenständliche Verfahren relevant - aus, das Studienjahr sei in § 52 Abs. 1 Universitätsgesetz (UG) mit 1.10. bis 30.9. des Folgejahres festgelegt. In dem dem Verlängerungsantrag vorangegangenen Studienjahr 2018/2019 habe die Revisionswerberin keinen ausreichenden Studienerfolg im Ausmaß von 16 ECTS-Punkten nachgewiesen; die im laufenden Studienjahr abgelegten Prüfungen seien dafür nicht zu berücksichtigen. Dass die Revisionswerberin erst am ihr Studium „aufnahm“, stelle keinen Grund im Sinn des § 64 Abs. 2 letzter Satz Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) dar, der der Einflusssphäre des Drittstaatsangehörigen entzogen, unabwendbar oder unvorhersehbar sei. Die versäumte Studienzeit habe weniger als 1/6 des Studienjahres betragen und es sei nicht ausreichend dargelegt worden, warum kein ausreichender Studienerfolg habe erzielt werden können. Fehle eine besondere Erteilungsvoraussetzung wie vorliegend der Nachweis eines ausreichenden Studienerfolges stehe dem LVwG kein Ermessen zu, dennoch einen Aufenthaltstitel zu erteilen (Hinweis auf ).

3Gegen dieses Erkenntnis wendet sich die Revisionswerberin.

4Die Behörde verwies auf die Ausführungen in ihrem Bescheid und dem angefochtenen Erkenntnis.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

5In der Zulässigkeitsbegründung wird unter anderem vorgebracht, das LVwG habe ohne Begründung von der beantragten Beschwerdeverhandlung abgesehen, und sei dadurch von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.

6Die Revision ist angesichts dieses Vorbringens zulässig und auch begründet.

7§ 64 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 56/2018, lautet auszugsweise:

Studenten

§ 64. (1) Drittstaatsangehörigen ist eine Aufenthaltsbewilligung als Student auszustellen, wenn sie 1. ...

(2) Dient der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen der Durchführung eines ordentlichen oder außerordentlichen Studiums, ist die Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung für diesen Zweck nur zulässig, wenn dieser nach den maßgeblichen studienrechtlichen Vorschriften einen Studienerfolgsnachweis der Universität, Fachhochschule, akkreditierten Privatuniversität oder Pädagogischen Hochschule erbringt und in den Fällen des Abs. 1 Z 4 darüber hinaus spätestens innerhalb von zwei Jahren die Zulassung zu einem Studium gemäß Abs. 1 Z 2 nachweist. Dient der Aufenthalt des Drittstaatsangehörigen der Durchführung einer gesetzlich verpflichtenden fachlichen Ausbildung gemäß Abs. 1 Z 7, ist die Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung zu diesem Zweck nur zulässig, wenn der Drittstaatsangehörige einen angemessenen Ausbildungsfortschritt nach Maßgabe der der jeweiligen Ausbildung zugrundeliegenden gesetzlichen Vorschriften erbringt. Liegen Gründe vor, die der Einflusssphäre des Drittstaatsangehörigen entzogen, unabwendbar oder unvorhersehbar sind, kann trotz Fehlens des Studienerfolges oder Ausbildungsfortschrittes eine Aufenthaltsbewilligung verlängert werden.

(3) ...“

§ 8 der Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz-Durchführungsverordnung (NAG-DV), BGBl. II Nr. 451/2005 idF BGBl. II Nr. 229/2018, lautet auszugsweise:

Weitere Urkunden und Nachweise für Aufenthaltsbewilligungen

§ 8. Zusätzlich zu den in § 7 genannten Urkunden und Nachweisen sind dem Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung folgende weitere Urkunden und Nachweise anzuschließen: ...

8.für eine Aufenthaltsbewilligung ‚Student‘: ...

b)im Fall eines Verlängerungsantrages ein schriftlicher Nachweis der Universität, der Fachhochschule, der akkreditierten Privatuniversität oder der öffentlichen oder privaten Pädagogischen Hochschule über den Studienerfolg im vorangegangenen Studienjahr, insbesondere ein Studienerfolgsnachweis gemäß § 74 Abs. 6 des Universitätsgesetzes 2002 (UG), BGBl. I Nr. 120 idF BGBl. I Nr. 56/2018 sowie ein aktuelles Studienblatt und eine Studienbestätigung gemäß § 62 Abs. 4 UG; im Fall des § 64 Abs. 1 Z 4 NAG zusätzlich ein Nachweis über die Zulassung zu einem Studium gemäß § 64 Abs. 1 Z 2 NAG innerhalb von zwei Jahren; ...“

§ 52 Abs. 1 Universitätsgesetz (UG), BGBl. I Nr. 120/2002 idF BGBl. I Nr. 52/2018, lautet:

Einteilung des Studienjahres

§ 52. (1) Das Studienjahr beginnt am 1. Oktober und endet am 30. September des Folgejahres. Es besteht aus dem Wintersemester und dem Sommersemester, jeweils einschließlich der lehrveranstaltungsfreien Zeit. Der Senat hat nähere Bestimmungen über Beginn und Ende der Semester und der lehrveranstaltungsfreien Zeit zu erlassen.

(2) ...“

§ 24 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG lautet:

Verhandlung

§ 24 (1) Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen.

(2) Die Verhandlung kann entfallen, wenn 1. der das vorangegangene Verwaltungsverfahren einleitende Antrag der Partei oder die Beschwerde zurückzuweisen ist oder bereits auf Grund der Aktenlage feststeht, dass der mit Beschwerde angefochtene Bescheid aufzuheben, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt oder die angefochtene Weisung für rechtswidrig zu erklären ist oder 2. die Säumnisbeschwerde zurückzuweisen oder abzuweisen ist; 3. ...

(3) Der Beschwerdeführer hat die Durchführung einer Verhandlung in der Beschwerde oder im Vorlageantrag zu beantragen. Den sonstigen Parteien ist Gelegenheit zu geben, binnen angemessener, zwei Wochen nicht übersteigender Frist einen Antrag auf Durchführung einer Verhandlung zu stellen. Ein Antrag auf Durchführung einer Verhandlung kann nur mit Zustimmung der anderen Parteien zurückgezogen werden.

(4) Soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nicht anderes bestimmt ist, kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union entgegenstehen.

(5) Das Verwaltungsgericht kann von der Durchführung (Fortsetzung) einer Verhandlung absehen, wenn die Parteien ausdrücklich darauf verzichten. Ein solcher Verzicht kann bis zum Beginn der (fortgesetzten) Verhandlung erklärt werden.“

Art. 21 der Richtlinie (EU) 2016/801 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zu Forschungs- oder Studienzwecken, zur Absolvierung eines Praktikums, zur Teilnahme an einem Freiwilligendienst, Schüleraustauschprogrammen oder Bildungsvorhaben und zur Ausübung einer Au-pair-Tätigkeit lautet auszugsweise:

Artikel 21

Gründe für die Entziehung oder Nichtverlängerung von Aufenthaltstiteln

(1) Die Mitgliedstaaten entziehen einen Aufenthaltstitel oder verweigern gegebenenfalls eine Verlängerung, wenn ...

(2) Die Mitgliedstaaten können einen Aufenthaltstitel entziehen oder seine Verlängerung verweigern, wenn

a)...

f)bei Studenten die zeitlichen Beschränkungen des Zugangs zur Erwerbstätigkeit gemäß Artikel 24 nicht eingehalten werden oder wenn der Student keine ausreichenden Studienfortschritte nach Maßgabe des nationalen Rechts oder der nationalen Verwaltungspraxis macht.

(3) ...

(7) Unbeschadet des Absatzes 1 muss jede Entscheidung, einen Aufenthaltstitel zu entziehen oder dessen Verlängerung zu verweigern, die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigen und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.“

8Das LVwG hat gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG auf Antrag eine Verhandlung durchzuführen, welche der Erörterung der Sach- und Rechtslage sowie der Erhebung der Beweise dient. Als Ausnahme von dieser Regel kann das LVwG ungeachtet eines Antrages gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG von der Durchführung einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt. Dies ist dann der Fall, wenn von vornherein absehbar ist, dass die mündliche Erörterung nichts zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitragen kann und auch keine Rechtsfragen aufgeworfen werden, deren Erörterung in einer Verhandlung vor dem VwG erforderlich wäre.

Im Anwendungsbereich des Art. 47 GRC erübrigt sich im Fall der Unterlassung einer nach Art. 47 GRC gebotenen mündlichen Verhandlung die Darlegung der Relevanz des in der Unterlassung der Durchführung der Verhandlung gelegenen Verfahrensmangels (vgl. etwa , Rn. 11f, mwN).

9Auf den vorliegenden Sachverhalt ist die Richtlinie (EU) 2016/801 anzuwenden. Das unbegründete Unterlassen der beantragten Verhandlung vor dem LVwG stellt somit einen relevanten Verfahrensmangel dar, weshalb das angefochtene Erkenntnis schon aus diesem Grund wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

10Für das fortzusetzende Verfahren wird auf Folgendes hingewiesen: Im oben zitierten Erkenntnis Ra 2020/22/0044 wies der Verwaltungsgerichtshof mit näherer Begründung darauf hin, dass gemäß Art. 21 Abs. 7 der Richtlinie (EU) 2016/801, die bis in nationales Recht umzusetzen war, bei jeder Entscheidung über die Entziehung oder Nichtverlängerung von Aufenthaltstiteln die konkreten Umstände des Einzelfalls berücksichtigt und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt werden muss. Es ist somit im Einzelfall zu prüfen, ob es unverhältnismäßig wäre, ungeachtet der Nichterfüllung der nationalen Vorgaben - im vorliegenden Fall des Nachweises eines Studienerfolges im Ausmaß von 16 ECTS-Punkten - einen ausreichenden Studienerfolg zu verneinen (Rn. 10).

Das LVwG ging zwar zutreffend davon aus, dass die Dauer des Studienjahres gesetzlich festgelegt ist (§ 52 Abs. 1 UG) und im vorliegenden Fall somit nur Prüfungen zu berücksichtigen sind, die zwischen und abgelegt wurden. Es ist auch nicht zu erkennen, dass eine versäumte Studienzeit von etwa sechs Wochen ( bis zur Zulassung zum ordentlichen Studium mit ) für sich gesehen eine Unverhältnismäßigkeit im Sinn des Art. 21 Abs. 7 der Richtlinie (EU) 2016/801 darstellt, weil die Revisionswerberin auch vor dem Vorlesungen besuchen und sich vorbereiten konnte. Es ist hingegen nicht auszuschließen, dass die Revisionswerberin darlegen kann, dass die Verpflichtung zum Nachweis eines ausreichenden Studienerfolges im Studienjahr 2018/2019 für sie unverhältnismäßig sei.

11Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020220173.L00

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