VwGH vom 03.09.2020, Ra 2020/22/0123
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl und Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision der Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel gegen das Erkenntnis des Landesverwaltungsgerichts Tirol vom , 1. LVwG-2019/17/1669-4 und 2. LVwG-2020/17/0508-2, betreffend Aufenthaltstitel (mitbeteiligte Parteien: 1. C A und 2. M A, beide vertreten durch Mag. Laszlo Szabo, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Claudiaplatz 2), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Ein Kostenersatz findet nicht statt.
Begründung
1Die Erstmitbeteiligte ist die Mutter der Zweitmitbeteiligten; beide sind Staatsangehörige von Ghana. Am stellte die Erstmitbeteiligte für sich und ihre Tochter bei der Botschaft in Abuja jeweils einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels als Familienangehörige gemäß § 47 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG). Zusammenführender ist der Ehemann der Erstmitbeteiligten, ein österreichischer Staatsbürger.
2Mit Bescheid vom wies die Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel (Behörde) die Anträge wegen des Vorliegens einer Aufenthaltsehe gemäß § 30 NAG ab.
3Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Landesverwaltungsgericht Tirol (LVwG) der Beschwerde der Mitbeteiligten Folge, erteilte ihnen jeweils den beantragten Aufenthaltstitel „für die Dauer von 12 Monaten beginnend mit “ und erklärte eine ordentliche Revision für nicht zulässig.
Dies begründete das LVwG - soweit für das gegenständliche Verfahren relevant - damit, dass die Staatsanwaltschaft Innsbruck die Behörde von der Einstellung des bei ihr anhängig gewesenen Verfahrens gemäß § 117 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz (FPG) informiert habe, weil der Tatbestand des Eingehens einer Aufenthaltsehe nicht erfüllt sei. Eine solche Einstellung entfalte eine Sperrwirkung im Sinn des Prinzips „ne bis in idem“ gemäß Art. 4 Z 1 des siebenten Zusatzprotokolls zur EMRK; eine neue oder weitere Verfolgung derselben Beschuldigten wegen derselben Tat sei - abgesehen von hier nicht relevanten Ausnahmen - nicht mehr zulässig (Hinweis auf ). Der Verwaltungsgerichtshof [eine konkrete Entscheidung wurde dazu nicht zitiert] habe dazu ausgeführt, Entscheidungen seien als endgültig anzusehen, wenn sie rechtskräftig seien, also kein ordentliches Rechtsmittel mehr zulässig sei. Im vorliegenden Fall liege aufgrund der Einstellung des entsprechenden Verfahrens durch die Staatsanwaltschaft Bindungswirkung vor, sodass die Behörde das Vorliegen einer Aufenthaltsehe nicht als Begründung für die Abweisung der Anträge der Mitbeteiligten hätte heranziehen dürfen.
4Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsrevision mit dem Antrag, das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
5Die Mitbeteiligten beantragten in ihrer Revisionsbeantwortung die Zurück- bzw. Abweisung der Revision.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
6In der Zulässigkeitsbegründung rügt die Revision ein Abweichen des angefochtenen Erkenntnisses von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hinsichtlich der vom LVwG angenommenen Bindungswirkung der Einstellung des Strafverfahrens durch die Staatsanwaltschaft; darüber hinaus weiche das LVwG hinsichtlich der festgelegten Gültigkeitsdauer abweichend vom Zustellungsdatum des angefochtenen Erkenntnisses von der hg. Rechtsprechung ab.
7Die Revision ist bereits aufgrund der mit der vom LVwG angenommenen Bindungswirkung gegebenen Abweichung von der hg. Rechtsprechung zulässig und auch begründet.
8§§ 30 und 47 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 24/2020, lauten (auszugsweise):
„Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft und Aufenthaltsadoption
§ 30. (1) Ehegatten oder eingetragene Partner, die ein gemeinsames Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK nicht führen, dürfen sich für die Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nicht auf die Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen.
(2) An Kindes statt angenommene Fremde dürfen sich bei der Erteilung und Beibehaltung von Aufenthaltstiteln nur dann auf diese Adoption berufen, wenn die Erlangung und Beibehaltung des Aufenthaltstitels nicht der ausschließliche oder vorwiegende Grund für die Annahme an Kindes statt war.
(3) Die Abs. 1 und 2 gelten auch für den Erwerb und die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts.
Aufenthaltstitel ‚Familienangehöriger‘ und ‚Niederlassungsbewilligung - Angehöriger‘
§ 47. (1) Zusammenführende im Sinne der Abs. 2 bis 4 sind Österreicher oder EWR-Bürger oder Schweizer Bürger, die in Österreich dauernd wohnhaft sind und nicht ihr unionsrechtliches oder das ihnen auf Grund des Freizügigkeitsabkommens EG-Schweiz zukommende Aufenthaltsrecht von mehr als drei Monaten in Anspruch genommen haben.
(2) Drittstaatsangehörigen, die Familienangehörige von Zusammenführenden sind, ist ein Aufenthaltstitel ‚Familienangehöriger‘ zu erteilen, wenn sie die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen.
(3) ...“
§ 117 Abs. 1 Fremdenpolizeigesetz (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idF BGBl. I Nr. 38/2011, lautet:
„Eingehen und Vermittlung von Aufenthaltsehen und Aufenthaltspartnerschaften
§ 117. (1) Ein Österreicher oder ein zur Niederlassung im Bundesgebiet berechtigter Fremder, der eine Ehe oder eingetragene Partnerschaft mit einem Fremden eingeht, ohne ein gemeinsames Familienleben im Sinn des Art. 8 EMRK führen zu wollen und weiß oder wissen musste, dass sich der Fremde für die Erteilung oder Beibehaltung eines Aufenthaltstitels, für den Erwerb oder die Aufrechterhaltung eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechts, für den Erwerb der österreichischen Staatsbürgerschaft oder zur Hintanhaltung aufenthaltsbeendender Maßnahmen auf diese Ehe oder eingetragene Partnerschaft berufen will, ist, wenn die Tat nicht nach einer anderen Bestimmung mit strengerer Strafe bedroht ist, vom Gericht mit Geldstrafe bis zu 360 Tagessätzen zu bestrafen.
(2) ...“
Gemäß Art. 4 Z 1 des siebenten Zusatzprotokolls zur Europäischen Menschenrechtskonvention (7. ZPEMRK), BGBl. Nr. 628/1988, darf niemand wegen einer strafbaren Handlung, wegen der er bereits nach dem Gesetz und dem Strafverfahrensrecht eines Staates rechtskräftig verurteilt oder freigesprochen worden ist, in einem Strafverfahren desselben Staates erneut vor Gericht gestellt oder bestraft werden.
9In Zusammenhang mit Strafverfahren wegen des Vergehens einer Aufenthaltsehe sprach der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt aus, dass die Bindungswirkung verurteilender strafgerichtlicher Entscheidungen im Fall einer freisprechenden Entscheidung nicht zum Tragen komme; diesfalls habe die zuständige Behörde (bzw. das Verwaltungsgericht) eine eigenständige Beurteilung vorzunehmen, was ein mängelfreies Ermittlungsverfahren und eine vollständige Beweiserhebung voraussetze (vgl. etwa , Rn. 12; auf die darin ausgeführte Begründung wird gemäß § 43 Abs. 2 VwGG verwiesen).
Während der Straftatbestand des § 117 Abs. 1 FPG darauf abstellt, dass der österreichische Ehepartner „weiß oder wissen musste“, dass sich der Fremde etwa für die Erteilung eines Aufenthaltstitels auf die Ehe berufen will, kommt es für das Vorliegen einer Aufenthaltsehe gemäß § 30 NAG auf dieses Wissen oder Wissenmüssen und somit auf die Beweggründe des österreichischen Ehepartners nicht an, sondern ausschließlich auf die Absichten des Fremden. Die zu beurteilenden Sachverhaltselemente unterscheiden sich somit erheblich. Das LVwG unterließ jedoch eine eigenständige Beurteilung des Aufenthaltsehetatbestandes unter dem Blickwinkel des § 30 NAG.
Angesichts der unterschiedlichen Verfahrensgegenstände ist der Hinweis auf die Rechtskraft von Entscheidungen nicht zielführend (vgl. zur Frage, ob eine Einstellung des Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft gemäß § 190 StPO rechtskräftig werden und eine Bindungswirkung entfalten kann, , Rn. 20).
10Das vom LVwG begründend herangezogene Doppelbestrafungsverbot („ne bis in idem“) gemäß Art. 4 Z 1 7. ZPEMRK ist ebenfalls nicht relevant, weil es sich bei der Abweisung eines Antrages auf Ausstellung eines Aufenthaltstitels nicht um eine Bestrafung handelt (vgl. , Rn. 9).
11Da das LVwG - in Verkennung der Rechtslage - jegliche Auseinandersetzung mit der in der Beschwerde bestrittenen Frage des Vorliegens einer Aufenthaltsehe gemäß § 30 NAG unterließ, war das angefochtene Erkenntnis bereits aus diesem Grund wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben. Auf das weitere Revisionsvorbringen war daher nicht mehr einzugehen.
12Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 47 Abs. 3 VwGG.
Wien, am
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ECLI: | ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020220123.L00 |
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