VwGH vom 31.03.2021, Ra 2020/22/0030

VwGH vom 31.03.2021, Ra 2020/22/0030

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Köhler, Hofrätin Mag.a Merl sowie die Hofräte Dr. Mayr, Dr. Schwarz und Mag. Berger als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Thaler, über die Revision des Z S, vertreten durch Mag. Hubert Wagner, Rechtsanwalt in 1130 Wien, Wattmanngasse 8/6, gegen das Erkenntnis des Verwaltungsgerichts Wien vom , Zl. VGW-151/091/5218/2019-15, betreffend Aufenthaltstitel (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Landeshauptmann von Wien), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, stellte am einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels „Familienangehöriger“ gemäß § 47 Abs. 2 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG).

2Der Landeshauptmann von Wien (belangte Behörde) wies diesen Antrag mit Bescheid vom ua. deshalb ab, weil der Aufenthalt des Revisionswerbers zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft führen könnte und der Aufenthalt des Revisionswerbers die erlaubte sichtvermerksfreie Dauer überschritten habe.

3Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom wies das Verwaltungsgericht Wien die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit einer näher genannten Maßgabe als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof nach Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.

Das Verwaltungsgericht stellte - soweit für die vorliegende Revisionssache relevant - fest, der Revisionswerber habe sich zu näher dargestellten Zeiten (zuletzt von bis und anschließend von bis zum Zeitpunkt der Entscheidung) im Bundesgebiet aufgehalten. Er sei mit der zusammenführenden österreichischen Staatsbürgerin JS verheiratet und habe mit dieser einen gemeinsamen - im Dezember 2017 geborenen - Sohn. Die Zusammenführende beziehe Mindestsicherung sowie Kinderbetreuungsgeld und Kinderabsetzbetrag in jeweils näher bezifferter Höhe. Die Kinderbetreuung erfolge überwiegend durch die Zusammenführende und auch eine alleinige Betreuung durch sie wäre möglich. Zwischen dem Kind und seiner Mutter bestehe eine „starke Mutter-Kind-Bindung“.

Der Revisionswerber besitze ein Sprachdiplom auf dem Niveau A1, eine Verständigung ohne Beiziehung eines Dolmetschers sei aber nicht möglich. Der Revisionswerber habe verschiedene arbeitsrechtliche Vorverträge vorgelegt; allerdings - so das Verwaltungsgericht - bestehe keine Aussicht auf eine konkrete Erwerbstätigkeit. In den diesbezüglichen beweiswürdigenden Erwägungen verwies das Verwaltungsgericht zum einen auf näher dargestellte Unstimmigkeiten in den Aussagen des Revisionswerbers sowie den Vorverträgen selbst, die keine übereinstimmenden Willenserklärungen erkennen ließen. Zum anderen ging das Verwaltungsgericht davon aus, dass der Revisionswerber infolge seiner physischen Konstitution eine Vollzeitbeschäftigung in der in Aussicht genommenen, mit erhöhten physischen Belastungen verbundenen Branche nicht aufrechterhalten könne.

In seiner rechtlichen Beurteilung führte das Verwaltungsgericht aus, das Erteilungshindernis des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG liege vor, weil der Revisionswerber die innerhalb von 180 Tagen geltende 90-tägige sichtvermerksfreie Zeit überschritten habe. Außerdem könnte der Aufenthalt des Revisionswerbers zu einer finanziellen Belastung einer Gebietskörperschaft im Sinn des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG führen, weil der erforderliche Richtsatz nicht erreicht werde.

Im Rahmen der Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK hielt das Verwaltungsgericht fest, der Revisionswerber habe durch seine Hochzeit mit einer österreichischen Staatsbürgerin im Jahr 2015 und die Geburt seines Sohnes im Jahr 2017 familiäre Anknüpfungspunkte im Bundesgebiet. Diesen Umständen sei zwar „umfassende Bedeutung“ beizumessen; dem sei aber entgegenzuhalten, dass das Familienleben zu einem Zeitpunkt begründet worden sei, in dem sich der Revisionswerber seines unsicheren Aufenthaltes bewusst gewesen sei. Zudem habe der Revisionswerber trotz seines überwiegenden Inlandsaufenthaltes seit 2015 keine besonderen integrationsbegründenden Schritte gesetzt. Die Familie des Revisionswerbers lebe überwiegend in Serbien. Im Ergebnis sei daher von einem Überwiegen der öffentlichen Interessen an der Nichterteilung des beantragten Aufenthaltstitels gegenüber den gegenbeteiligten Interessen des Revisionswerbers auszugehen.

Abschließend hielt das Verwaltungsgericht im Hinblick auf Art. 20 AEUV fest, dass dem vorliegenden Fall die typische Bindung zwischen Familienmitgliedern einer Kernfamilie inhärent und dem Kindeswohl ein hoher Stellenwert beizumessen sei. Ein gewisser Grad an Bindung des Sohnes zum Revisionswerber sei zwar erkennbar, allerdings habe das Verfahren eine besonders starke Mutter-Kind-Bindung ergeben und die Kinderbetreuung werde überwiegend von der Zusammenführenden - mit Unterstützung ihrer Mutter - durchgeführt. Ein Eingriff in den Kernbestand der durch den Unionsbürgerstatus verliehenen Rechte sei nicht erkennbar.

4Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision.

5Der Verwaltungsgerichtshof hat - nach Durchführung des Vorverfahrens, in dem die belangte Behörde von der Erstattung einer Revisionsbeantwortung Abstand nahm - erwogen:

6Der Revisionswerber macht zur Zulässigkeit der Revision zum einen (Verfahrens)Mängel hinsichtlich der Prüfung der Unterhaltsmittel gemäß § 11 Abs. 2 Z 4 NAG geltend und rügt zum anderen im Hinblick auf die vorgenommene Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK, dass sich das Verwaltungsgericht nicht ausreichend mit den Auswirkungen der Entscheidung auf das Familienleben mit dem gemeinsamen minderjährigen Kind bzw. mit dem Kindeswohl auseinandergesetzt habe.

7Soweit sich der Revisionswerber zunächst gegen die Beurteilung im Zusammenhang mit der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG durch das Verwaltungsgericht wendet, hängt die Revision nicht von den dazu geltend gemachten Rechtsfragen ab. Der Verwaltungsgerichtshof hat nämlich bereits wiederholt festgehalten, dass sich eine Revision als unzulässig erweist, wenn das angefochtene Erkenntnis auf einer tragfähigen Alternativbegründung beruht und im Zusammenhang damit keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG aufgezeigt wird (vgl. , Rn. 32, mwN).

Das Verwaltungsgericht ist vorliegend nicht bloß vom Fehlen der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung des § 11 Abs. 2 Z 4 NAG ausgegangen, sondern hat dem Revisionswerber auch das Erteilungshindernis des § 11 Abs. 1 Z 5 NAG vorgehalten. Hinsichtlich dieser Beurteilung legt die Revision aber keinen vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Fehler dar und ein solcher ist - ausgehend davon, dass der Revisionswerber nach den unbestritten gebliebenen Feststellungen des Verwaltungsgerichtes die sichtvermerksfreie Zeit von 90 Tagen innerhalb von 180 Tagen deutlich überschritten hat - auch nicht ersichtlich.

8Allerdings zeigt die Revision im Hinblick auf die gemäß § 11 Abs. 3 NAG gebotene Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung auf und erweist sich somit im Hinblick darauf als zulässig und auch begründet.

9Die im Rahmen der Entscheidung über einen Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalles in Form einer Gesamtbetrachtung durchgeführte Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK kann im Allgemeinen - wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde - nicht erfolgreich mit Revision im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG bekämpft werden (vgl. , Rn. 7, mwN). Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene Interessenabwägung im Sinn des Art. 8 EMRK ist vom Verwaltungsgerichtshof also nur dann aufzugreifen, wenn das Verwaltungsgericht die vom Verwaltungsgerichtshof aufgestellten Leitlinien und Grundsätze nicht beachtet und somit seinen Anwendungsspielraum überschritten oder eine krasse und unvertretbare Fehlbeurteilung des Einzelfalles vorgenommen hat (vgl. , Rn. 13, mwN).

10Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass der Bindung eines Fremden an einen österreichischen Ehepartner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zukommt. In einem solchen Fall müssen nähere Feststellungen zu den Lebensverhältnissen des Fremden und seines Ehepartners sowie zur Möglichkeit der Führung eines Familienlebens außerhalb Österreichs getroffen werden (vgl. , mwN).

11Des Weiteren hat der Verwaltungsgerichtshof wiederholt zum Ausdruck gebracht, dass auch das Kindeswohl bei einer Interessenabwägung zu berücksichtigen ist (vgl. - dort zur Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG - etwa , Rn. 13; , Ra 2019/21/0134, Rn. 21; jeweils mwN; vgl. weiters , Rn. 19 ff). Demnach war im vorliegenden Fall auf die Beziehungen des Revisionswerbers zu seinem Sohn und auch auf konkret absehbare zukünftige Entwicklungen Bedacht zu nehmen (vgl. dazu auch , Rn. 12, mwN).

12Diese Grundsätze hat das Verwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht hinreichend beachtet. Zwar hat es zunächst in Einklang mit der hg. Rechtsprechung angemerkt, dass dem Bestehen der Ehe des Revisionswerbers und der Beziehung zu seinem Sohn „umfassende Bedeutung“ beizumessen sei. Eine ausdrückliche Beurteilung der Auswirkungen der angefochtenen Entscheidung auf das Familienleben des Revisionswerbers insbesondere mit seinem Sohn bzw. auf dessen Kindeswohl ist jedoch unterblieben. Auch der - im Zuge der Prüfung nach Art. 20 AEUV erfolgte - Hinweis auf die besonders starke Mutter-Kind-Bindung entbindet nicht davon, die genannten Aspekte in die Abwägungsentscheidung miteinzubeziehen (vgl. dazu etwa , Rn. 20, mwN). Das angefochtene Erkenntnis enthält auch keine Ausführungen betreffend eine allfällige Möglichkeit der Fortsetzung des Familienlebens außerhalb Österreichs bzw. eine Zumutbarkeit der (zumindest temporären) Trennung. Im Übrigen wäre diesbezüglich auch zu berücksichtigen gewesen, dass die Aufrechterhaltung des Kontaktes mittels moderner Kommunikationsmittel mit einem - wie im gegenständlichen Fall rund zweijährigen - Kleinkind kaum möglich ist. Dem Vater eines Kindes (und umgekehrt) kommt grundsätzlich das Recht auf persönlichen Kontakt zu (vgl. , Rn. 50, mwN).

13Vielmehr führt das Verwaltungsgericht in diesem Zusammenhang lediglich das Bewusstsein des Revisionswerbers über seinen unsicheren Aufenthaltsstatus ins Treffen. Dem Gewicht der Bindungen zu einem österreichischen Staatsbürger kann aber nicht allein mit dem Vorhalt eines unsicheren Aufenthaltsstatus begegnet werden (vgl. auch ). Eine Trennung von einem österreichischen Ehepartner ist nur dann gerechtfertigt, wenn dem öffentlichen Interesse an der Vornahme der aufenthaltsbeendenden Maßnahme insgesamt ein sehr großes Gewicht beizumessen ist, wie etwa bei Straffälligkeit des Fremden oder bei einer von Anfang an beabsichtigten Umgehung der Regelungen über eine geordnete Zuwanderung und den „Familiennachzug“ (vgl. , Rn. 10 f, mwN). Fallbezogene Ausführungen zum Vorliegen derartiger Umstände finden sich im angefochtenen Erkenntnis allerdings nicht.

14Indem das Verwaltungsgericht die dargelegten Aspekte nicht ausreichend bzw. nicht in einer für den Verwaltungsgerichtshof nachvollziehbaren Weise in seine Interessenabwägung nach Art. 8 EMRK einbezogen hat, hat es seine Begründung insoweit mit einem Mangel belastet, dessen Relevanz nicht ausgeschlossen werden kann.

15Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

16Die Entscheidung über den Aufwandersatz beruht auf den § 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2021:RA2020220030.L00

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