VwGH vom 22.03.2022, Ra 2020/21/0205

VwGH vom 22.03.2022, Ra 2020/21/0205

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofräte Dr. Pfiel und Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des H K, vertreten durch Dr. Paul Delazer, Rechtsanwalt in 6020 Innsbruck, Maximilianstraße 2/1, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , L507 2146726-1/38E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der 1982 geborene Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, lebt seit Jänner 2009 im Bundesgebiet. Infolge seiner im August 2008 erfolgten Eheschließung mit einer österreichischen Staatsbürgerin erhielt er Aufenthaltstitel, zuletzt eine bis Juli 2016 gültige „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“, deren Verlängerung er rechtzeitig beantragte.

2Im Jänner 2015 hatte die Ehefrau des Revisionswerbers eine „Selbstanzeige“ wegen des Eingehens einer Aufenthaltsehe erstattet, wobei die zuständige Staatsanwaltschaft das Verfahren im März 2015 mit dem Hinweis auf die bereits eingetretene Verjährung der Tat einstellte. Eine auf Scheidung aus alleinigem Verschulden seiner Ehefrau gerichtete Klage des Revisionswerbers wies das Bezirksgericht Innsbruck mit Urteil vom ab, weil wegen des Vorliegens einer Scheinehe keine Eheverfehlung begangen worden sein könne. Die dagegen erhobene Berufung blieb erfolglos. Eine gegen die Ehefrau gerichtete Unterhaltsklage des Revisionswerbers wies das Bezirksgericht Innsbruck mit rechtskräftigem Urteil vom  mit der Begründung ab, dass die Ehe nur zum Schein für den Zweck der Ermöglichung eines Aufenthaltsrechtes in Österreich geschlossen worden und die Geltendmachung von Unterhalt bei Vorliegen einer Scheinehe rechtsmissbräuchlich sei. Schließlich wurde die Ehe mit Urteil des Bezirksgerichtes Telfs vom August 2017 rechtskräftig geschieden. Gemäß den Entscheidungsgründen habe eine Scheinehe nicht festgestellt werden können; sollte eine eheliche Lebensgemeinschaft bestanden haben, sei diese jedenfalls seit Ende 2012 aufgehoben und seit diesem Zeitpunkt tiefgreifend und unheilbar zerrüttet.

3Bereits seit dem Jahr 2013 befindet sich der Revisionswerber in einer Beziehung mit einer türkischen Staatsangehörigen, mit der er seit 2016 auch in einem gemeinsamen Haushalt lebt und die über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ verfügt. Dieser Beziehung entstammen zwei Söhne, die 2016 und 2018 in Österreich geboren wurden. Ihnen wurden bis September 2020 bzw. Dezember 2021 befristete Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot - Karte plus“ erteilt.

4Im Hinblick auf das im Urteil des Bezirksgerichtes Innsbruck vom festgestellte Vorliegen einer Aufenthaltsehe hatte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber mit Bescheid vom gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung und gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 8 FPG ein auf die Dauer von einem Jahr befristetes Einreiseverbot erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG hatte das BFA unter einem festgestellt, dass die Abschiebung des Revisionswerbers in die Türkei zulässig sei.

5Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6In seiner Begründung stellte das BVwG unter anderem fest, dass es sich bei der Ehe des Revisionswerbers um eine Aufenthaltsehe gehandelt habe. Der unbescholtene Revisionswerber spreche die deutsche Sprache auf dem Niveau B1 und sei mit krankheitsbedingten und saisonalen Unterbrechungen seit 2009 erwerbstätig. Seine Lebensgefährtin sei wegen eines Herzklappenfehlers operiert worden und verfüge über einen Behindertenpass. In der Türkei würden die Mutter, zwei Brüder und zwei Schwestern des Revisionswerbers leben.

7Rechtlich ging das BVwG davon aus, der Revisionswerber habe angesichts des nur auf einer wissentlich eingegangenen Aufenthaltsehe basierenden Aufenthaltsrechts nicht darauf vertrauen können, dass ein in diesem Zeitraum entstehendes Familienleben in Österreich fortgesetzt werden könne. Zudem sei eine Übersiedlung der Lebensgefährtin des Revisionswerbers und der in einem anpassungsfähigen Alter befindlichen Kinder in die Türkei zur Weiterführung des gemeinsamen Familienlebens zumutbar, weil insbesondere die Lebensgefährtin mehr als die Hälfte ihres Lebens in ihrer Heimat gelebt habe, dort jährlich fünfzehn bis zwanzig Tage zwecks Besuchs ihrer Eltern verbringe und auch keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen würden. Die mehr als elfjährige Aufenthaltsdauer des Revisionswerbers werde dadurch relativiert, dass der Aufenthalt auf einer Aufenthaltsehe gründe. Insgesamt überwiege das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung das Interesse des Revisionswerbers am Verbleib im Bundesgebiet. Da er sich weder in den Scheidungs- und Unterhaltsverfahren noch im gegenständlichen Verfahren „hinsichtlich seines Vergehens einsichtig“ gezeigt habe und somit nicht bereit sei, Verantwortung für das Eingehen der Aufenthaltsehe zu übernehmen, sei eine positive Gefährdungsprognose und die Abstandnahme von der Verhängung einer Rückkehrentscheidung und eines Einreiseverbotes nicht möglich.

8Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

9Die Revision erweist sich - wie die nachstehenden Ausführungen zeigen - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

10Vorweg ist allerdings dem Einwand in der Revision, im gegenständlichen Fall sei keine Aufenthaltsehe vorgelegen, zu erwidern, dass die diesbezügliche Beweiswürdigung des BVwG nicht als unschlüssig angesehen werden kann.

11Unter dem Gesichtspunkt ihrer Zulässigkeit wendet sich die Revision aber erkennbar auch gegen die vom BVwG vorgenommene Interessenabwägung. Zu Recht bekämpft sie dabei insbesondere die Annahme des BVwG, die Fortsetzung des gemeinsamen Familienlebens des Revisionswerbers mit seiner Lebensgefährtin und den beiden Kindern in der Türkei sei zumutbar.

12Bei dieser Frage hätte es nämlich einer entsprechenden Auseinandersetzung bedurft, inwieweit eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes der Lebensgefährtin des Revisionswerbers, die offenbar seit vielen Jahren im Bundesgebiet lebt nicht nur möglich, sondern auch zumutbar wäre. Da die Lebensgefährtin des Revisionswerbers über einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ verfügt, kommt ihr nach § 20 Abs. 3 NAG in Österreich ein unbefristetes Niederlassungsrecht zu. In diesem Sinne hat der Verwaltungsgerichtshof bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass (dem Zusammenleben mit) einem dauerhaft niedergelassenen (Ehe-)Partner im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK große Bedeutung zukommt. Demnach wäre eingehend zu prüfen gewesen, ob es der Lebensgefährtin des Revisionswerbers nach einem langjährigen Aufenthalt im Bundesgebiet und ebenso langer Abwesenheit vom Herkunftsstaat zumutbar ist, ihr unbefristetes Niederlassungsrecht und die damit verbundenen Ansprüche aufzugeben (vgl. des Näheren , Rn. 10 iVm Rn. 17, mwN). Im Übrigen bedeutet die Führung eines gemeinsamen Familienlebens in der Türkei eine Wohnsitzverlegung der gesamten Familie, was in der Regel einerseits mit der Aufgabe der bisherigen Wohnung und der Berufstätigkeit in Österreich sowie dem Verlust der sozialen Anknüpfungspunkte und andererseits mit der Neugründung eines Haushalts und Suche nach einer Beschäftigung in der Türkei sowie in Bezug auf das ältere Kind dem baldigen Beginn eines Schulbesuchs in einem fremden Land verbunden wäre (vgl. zu einer ähnlichen Konstellation wie hier auch , Rn. 11). Dem wurde die Begründung des BVwG nicht gerecht. Im Übrigen wäre vom BVwG noch zu berücksichtigen gewesen, dass die verpönte Schließung der mittlerweile schon seit September 2017 wieder geschiedenen Aufenthaltsehe bereits im Jahr 2008 erfolgt war und sich der Revisionswerber nunmehr in einer mittlerweile langjährigen Beziehung zu seiner in Österreich auf Dauer niedergelassenen Lebensgefährtin befindet, der zwei hier geborene gemeinsame Kinder entstammen.

13Das angefochtene Erkenntnis war daher schon deshalb in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

14Der Kostenzuspruch beruht auf den § 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2022:RA2020210205.L00

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