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VwGH vom 12.09.2013, 2013/21/0118

VwGH vom 12.09.2013, 2013/21/0118

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Stöberl und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, im Beisein der Schriftführerin Mag. Dobner, über die Beschwerde der Landespolizeidirektion Oberösterreich gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom , Zl. VwSen-720299/14/Gf/Rt, betreffend Behebung eines Aufenthaltsverbotes gemäß § 66 Abs. 2 AVG (weitere Partei:

Bundesministerin für Inneres; mitbeteiligte Partei: A A, vertreten durch Mag. Dr. Helmut Blum, Rechtsanwalt in 4020 Linz, Mozartstraße 11), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

Der Mitbeteiligte, ein deutscher Staatsangehöriger, wurde mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichtes Wels vom wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 zweiter und dritter Fall, Abs. 4 Z 3 SMG; § 15 Abs. 1 StGB (teilweise versuchte vorschriftswidrige Ein- und Ausfuhr von Suchtgift in einem die Grenzmenge das 25-fache übersteigenden Ausmaß) als Beteiligter nach § 12 zweiter Fall StGB und des Verbrechens des Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall, Abs. 2 Z 3 SMG (vorschriftswidriges Überlassen von Suchtgift an andere in einem die Grenzmenge das 15-fache übersteigenden Ausmaß) sowie des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG (vorschriftswidriger Erwerb und Besitz von Suchtgift ausschließlich zum persönlichen Gebrauch) zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 2 Jahren (16 Monate bedingt) verurteilt.

Im Hinblick darauf erließ die Bundespolizeidirektion Linz (BPD) mit Bescheid vom gegen den Mitbeteiligten gemäß § 86 Abs. 1 des Fremdenpolizeigesetzes 2005 (FPG) ein mit zehn Jahren befristetes Aufenthaltsverbot.

Der dagegen erhobenen Berufung hat der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (UVS) mit Bescheid vom stattgegeben und das erstinstanzliche Aufenthaltsverbot aufgehoben.

Diesen Bescheid hob der Verwaltungsgerichtshof infolge einer Amtsbeschwerde mit Erkenntnis vom , Zl. 2011/21/0152, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf.

In der Begründung wurde unter Bezugnahme auf näher dargestellte Judikatur ausgeführt, dass der Bescheid der BPD zwar auch längere allgemeine Ausführungen zu den vom Suchtgifthandel ausgehenden Gefahren, und zwar generell für die "Volksgesundheit" und im Besonderen für Jugendliche, sowie zum deshalb dringend gebotenen "rigorosen Vorgehen" gegen Suchtgiftdelikte enthalte. Diese Überlegungen seien aber insoweit nicht unzulässig gewesen, als die BPD damit offenbar auch das grundsätzlich besonders große öffentliche Interesse an der Verhinderung von Suchtgiftdelikten näher begründen wollte. Die BPD habe sich - entgegen der Meinung des UVS - aber nicht nur darauf beschränkt, sondern sie habe erkennbar auch eine Beziehung zum (teilweise durch Verweisung) näher festgestellten, dem strafgerichtlichen Urteil zugrunde liegenden persönlichen Verhalten des Mitbeteiligten hergestellt und es ihrer Prognosebeurteilung zugrunde gelegt. Dabei habe sie - der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes folgend - auch davon ausgehen dürfen, dass bei Suchtgiftdelikten (der vorliegenden Art) erfahrungsgemäß eine hohe Wiederholungsgefahr gegeben ist.

Ausgehend von einer allgemein gegebenen Wiederholungsgefahr habe die BPD sodann auch fallbezogen auf das Vorliegen einer aktuellen Gefahr iSd § 86 Abs. 1 FPG geschlossen, weil der Mitbeteiligte auf näher beschriebene Weise Kokainlieferungen aus Deutschland nach Österreich organisiert und hier Suchtgifthandel betrieben habe, was geeignet sei, eine große Gefahr für das Leben und die Gesundheit von Menschen herbeizuführen, und gravierend gegen das öffentliche Interesse an der Verhinderung der Suchtgiftkriminalität verstoße. Nach den dem Strafurteil folgenden Feststellungen der BPD habe der Mitbeteiligte nämlich einen gewissen R. im April 2010 auf seine früheren Kontakte zur Suchtgiftszene in Berlin hingewiesen. Dadurch habe R. eine Chance für den Zugang zu einer neuen Suchtgiftquelle gesehen, sodass er den Mitbeteiligten mit der Besorgung hochwertigen Kokains beauftragt habe. Der Mitbeteiligte sei sodann nach Berlin gefahren, habe den Suchtgifthändler A. kontaktiert und mit ihm Kokainlieferungen vereinbart. In der Folge seien dann tatsächlich in drei Angriffen durch Kuriere "insgesamt 400 g Kokain" nach Österreich gebracht und dem Mitbeteiligten übergeben worden, wofür er pro 100 g Kokain eine Provision von 500,-- EUR erhalten habe. Weiters habe er sich damit abgefunden, durch das wiederholte Überlassen von Kokain das 15-fache der Grenzmenge dieses Suchtgifts in Verkehr gesetzt zu haben. Angesichts dessen sei der Vorwurf des UVS, die BPD habe nur auf die strafgerichtliche Verurteilung des Mitbeteiligten und auf generalpräventive Überlegungen abgestellt, nicht berechtigt, wiewohl vom Verwaltungsgerichtshof einzuräumen sei, dass die Bescheidbegründung der BPD nicht immer die gebotene Klarheit aufweise.

In den weiteren Ausführungen erörterte der Verwaltungsgerichtshof, der UVS habe eine vom Mitbeteiligten ausgehende aktuelle Gefährdung vor allem deshalb verneint, weil er aus der verhängten Freiheitsstrafe gemäß § 46 Abs. 1 StGB vorzeitig bedingt entlassen worden sei. Dieser Auffassung wurde die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entgegengehalten, wonach die Beurteilung der Gefährdung von den Fremdenbehörden eigenständig aus dem Blickwinkel des Fremdenrechtes und unabhängig von den gerichtlichen Erwägungen zur Strafbemessung vorzunehmen sei. Somit lasse sich weder aus der vom Strafgericht ausgesprochenen (teil-)bedingten Strafnachsicht noch aus der bedingten Entlassung aus der Strafhaft für den Mitbeteiligten etwas gewinnen. Es gebe keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzugehen, zumal sich schon den Tatbeständen des § 60 Abs. 2 Z 1 FPG die gesetzgeberische Wertung entnehmen lasse, dass die bedingte Strafnachsicht einem Aufenthaltsverbot nicht entgegenstehe. Insbesondere bei gravierenderer Suchtgiftdelinquenz könne auf einen allfällig durch Haft erfolgten Gesinnungswandel erst nach einer entsprechend langen Zeit des Wohlverhaltens nach der Entlassung aus der Strafhaft geschlossen werden. Dazu komme im vorliegenden Fall noch, dass der Mitbeteiligte auch selbst Kokainkonsument sei, was die von der BPD angenommene Wiederholungsgefahr zusätzlich stützen könnte. Auch das habe der UVS außer Acht gelassen.

Soweit der UVS - so der Verwaltungsgerichtshof in diesem Erkenntnis abschließend - im Übrigen die Meinung zu vertreten scheine, Begründungsmängel im Bescheid der BPD berechtigten ihn zu dessen ersatzloser Behebung, verkenne er seine Rolle als Berufungsbehörde. Vielmehr sei er im Rahmen der Sache des Berufungsverfahrens (hier: Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen den Mitbeteiligten) gemäß § 66 Abs. 4 zweiter Satz AVG (nach Maßgabe des § 67h Abs. 1 AVG) berechtigt und verpflichtet, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Unterbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern. Dies bedeute, dass die Berufungsbehörde eine neuerliche selbstständige Prüfung des Sachverhaltes vorzunehmen habe, ohne irgendwie an die Ergebnisse des bisher durchgeführten Ermittlungsverfahrens und deren Beurteilung durch die Unterbehörde gebunden zu sein. Durch eine zulässige Berufung verlagere sich die Zuständigkeit zur Sachentscheidung in Ansehung aller hierfür maßgeblichen Vorschriften auf die Berufungsinstanz. Demzufolge hätte der UVS (unter Einbeziehung der vom Verwaltungsgerichtshof dargestellten Judikatur) eine eigene Beurteilung der Gefährdungsprognose am Maßstab des § 86 Abs. 1 FPG vorzunehmen gehabt und sich - neben dem nur eingeschränkt tragfähigen Hinweis auf die bedingte Entlassung des Mitbeteiligten aus der Strafhaft - nicht nur darauf beschränken dürfen, dass weder dem Bescheid der BPD noch dem erstbehördlichen Ermittlungsverfahren spezifische Anhaltspunkte für eine konkret-gegenwärtige Gefahr im Sinne der genannten Bestimmung zu entnehmen seien. Gleiches gelte sinngemäß für die vom UVS vermisste Gewichtung des Grades der Integration des Mitbeteiligten im Rahmen der nach § 66 FPG vorgenommenen Interessenabwägung.

Hierauf erließ der UVS den nunmehr angefochtenen, auf § 66 Abs. 2 AVG gestützten Ersatzbescheid vom , mit dem der Berufung insoweit stattgegeben wurde, als der erstinstanzliche Aufenthaltsverbotsbescheid vom aufgehoben und die Rechtssache an die Landespolizeidirektion Oberösterreich zur Erlassung eines neuen Bescheides zurückverwiesen wurde.

Die Vorgangsweise nach § 66 Abs. 2 AVG begründete der UVS einerseits damit, dass seit Erlassung des erstinstanzlichen Bescheides ein Zeitraum von nahezu zwei Jahre vergangen sei, in dem sich in Bezug auf die zu erstellende Gefährdungsprognose maßgebliche Änderungen im Tatsächlichen hätten ergeben können. Andererseits seien die seither vorgenommenen Novellierungen des FPG, insbesondere durch das FrÄG 2011, zu berücksichtigen.

Im Übrigen könne sich der UVS der im Vorerkenntnis - den verfassungsrechtlichen Hintergrund völlig außer Betracht lassend - vertretenen Meinung des Verwaltungsgerichtshofes, dem UVS komme die Funktion einer Berufungsbehörde zu, die eine eigenständige Beurteilung der Gefährdungsprognose vorzunehmen habe, "nur eingeschränkt" anschließen. Die unabhängigen Verwaltungssenate seien nämlich ausschließlich aus dem Grund eingerichtet worden, um den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK Rechnung zu tragen. Demzufolge komme den unabhängigen Verwaltungssenaten nach Art. 129 B-VG vorrangig nicht eine behördliche, sondern eine judizielle Funktion zu. Sie hätten daher nicht die Verwaltung zu "führen", sondern vielmehr die Rechtmäßigkeit des Handelns der Verwaltung zu "kontrollieren". Im Ergebnis bedeute dies, dass der Kern der inhaltlichen Rechtsgestaltung - und zwar insbesondere dort, wo der Gesetzgeber eine Ermessens-, Prognose- oder Verhältnismäßigkeitsentscheidung vorsehe - bei der Behörde verbleiben müsse. Vor diesem "verfassungsrechtssystematischen Hintergrund" sowie deshalb, weil im gegenständlichen Fall zwischenzeitlich jedenfalls entsprechende Änderungen der Rechtslage eingetreten seien und zudem nicht ausgeschlossen werden könne, dass sich auch maßgebliche Änderungen der Sachlage in Bezug auf die (u.a. auch im Wege einer persönlichen Anhörung des Mitbeteiligten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu treffende) Gefährdungsprognose mit Auswirkungen auf die Dauer des Aufenthaltsverbotes ergeben hätten, deren "lückenlose" Feststellung dem UVS schon mangels entsprechender Ermittlungsorgane und -einrichtungen nicht möglich wäre, sei der Berufung zunächst bloß insoweit stattzugeben gewesen, als mit einer Bescheidbehebung und einer Zurückverweisung gemäß § 66 Abs. 2 FPG vorzugehen gewesen sei; dies auch deshalb, um der Fremdenpolizeibehörde zu ermöglichen, einen Widerspruch gemäß § 67h AVG zu erheben und sich so den zuvor angesprochenen Kern der rechtspolitischen Gestaltungsbefugnis vorzubehalten.

Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Amtsbeschwerde der Landespolizeidirektion Oberösterreich, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung von Gegenschriften seitens des UVS und des Mitbeteiligten erwogen hat:

Vorweg ist dem UVS, soweit er sich der im Vorerekenntnis vom vom Verwaltungsgerichtshof geäußerten Rechtsmeinung "nur eingeschränkt" anschließen könne, zu erwidern, dass er sich damit in Widerspruch zu § 63 Abs. 1 VwGG setzt. Nach dieser Bestimmung sind die Verwaltungsbehörden, denen in diesem Zusammenhang auch die unabhängigen Verwaltungssenate zuzuzählen sind, wenn der Verwaltungsgerichtshof einer Beschwerde gemäß Art. 131 B-VG stattgegeben hat, in dem betreffenden Fall mit den ihnen zu Gebote stehenden rechtlichen Mitteln verpflichtet, unverzüglich den der Rechtsanschauung des Verwaltungsgerichtshofes entsprechenden Rechtszustand herzustellen. Bei der Erlassung des Ersatzbescheides besteht somit eine Bindungswirkung an die vom Verwaltungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis geäußerte Rechtsanschauung (vgl. etwa das auch den belangten UVS betreffende hg. Erkenntnis vom , Zl. 2010/21/0286, mwN). Das gilt sinngemäß auch für die Bemerkung des UVS im Rahmen der Wiedergabe der Entscheidungsgründe des Vorerkenntnisses (Seite 6 des angefochtenen Bescheides), die dort geäußerte Auffassung des Verwaltungsgerichtshofes, die Beurteilung der Gefährdung sei von den Fremdenbehörden eigenständig aus dem Blickwinkel des Fremdenrechtes und unabhängig von den gerichtlichen Erwägungen zur Strafbemessung vorzunehmen, werde nicht geteilt.

Im Übrigen nimmt die Amtsbeschwerde der Sache nach zu Recht darauf Bezug, dass die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern nach Art. 129a Abs. 1 Z 3 B-VG auch in Angelegenheiten erkennen, die ihnen durch die die einzelnen Gebiete der Verwaltung regelnden Bundes- oder Landesgesetze zugewiesen werden. In diesem Sinn hat der Gesetzgeber mit der Verfassungsbestimmung des § 9 Abs. 1 Z 1 FPG angeordnet, dass über Berufungen gegen Entscheidungen nach diesem Bundesgesetz (u.a.) im - hier vorliegenden - Fall von EWR-Bürgern die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern entscheiden. Auf derartige Fälle wird einfachgesetzlich in § 67a Z 1 AVG Bedacht genommen, der bestimmt, dass die unabhängigen Verwaltungssenate in den Ländern (u.a.) über Berufungen in Angelegenheiten, die ihnen durch die Verwaltungsvorschriften zugewiesen sind, entscheiden. Für diese Angelegenheiten normiert § 67h Abs. 1 AVG, dass § 66 AVG mit der Maßgabe gilt, dass der unabhängige Verwaltungssenat dann gemäß § 66 Abs. 4 AVG in der Sache zu entscheiden hat, wenn die belangte Behörde dem nicht bei der Vorlage der Berufung unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht.

Nach den Gesetzesmaterialien ist es Zweck dieser Regelung, der in erster Instanz entscheidenden Verwaltungsbehörde die Möglichkeit einzuräumen, durch die Erhebung eines Widerspruchs eine Sachentscheidung des unabhängigen Verwaltungssenates zu verhindern und sich damit die Ausübung eines gesetzlich vorgesehenen Ermessens selbst vorzubehalten. Die Wortfolge " gemäß § 66 Abs. 4 in der Sache zu entscheiden hat " in § 67h Abs. 1 AVG stellt auf den Regelfall der Berufungsentscheidung ab, lässt dem unabhängigen Verwaltungssenat als Berufungsbehörde aber - wenn kein Widerspruch erhoben wird - alle Entscheidungsmöglichkeiten gemäß § 66 AVG, insbesondere auch nach dessen Abs. 2, offen (vgl. dazu des Näheren das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/04/0132, mwN).

Dass diese Regelungen verfassungswidrig wären, wurde vom UVS nicht dargetan und ist auch nicht zu erkennen. Vielmehr ging der UVS im angefochtenen Bescheid auch davon aus, dass er - mangels Widerspruchs der Erstbehörde iSd § 67h Abs. 1 AVG - § 66 AVG anzuwenden habe, wenn er eine Bescheidbehebung und eine Zurückverweisung nach dem Abs. 2 dieser Bestimmung vornimmt. Die Argumentation des UVS läuft vielmehr darauf hinaus, dass die unabhängigen Verwaltungssenate eher von der Möglichkeit der Kassation nach § 66 Abs. 2 AVG Gebrauch machen dürften als andere Berufungsbehörden.

Dem ist zunächst zu entgegnen, dass der Verwaltungsgerichtshof schon im Erkenntnis vom , Zl. 98/20/0175, mit dem Hinweis auf Thienel (Das Verfahren der Verwaltungssenate2, 75 f und 126 ff) im Punkt 2.1. der Entscheidungsgründe ausgeführt hat, der Spielraum für eine Anwendung des § 66 Abs. 2 AVG sei für unabhängige Verwaltungssenate - im Vergleich zu sonstigen Berufungsverfahren nach dem AVG - eher geringer und jedenfalls nicht größer (siehe darauf Bezug nehmend auch Punkt 2.3.1. der Entscheidungsgründe des hg. Erkenntnisses vom , Zl. 2002/20/0315).

Im Übrigen hat sich der Verwaltungsgerichtshof mit einer ähnlichen Argumentation des belangten UVS bereits in seinem Erkenntnis vom , Zlen. 2009/10/0200, 0207, 0208, auseinandergesetzt und ist ihr mit folgender Begründung nicht gefolgt:

"Nach dem Konzept des Gesetzgebers bei Einfügung der §§ 67a ff ins AVG sollte durch die Regelungen über die Unabhängigen Verwaltungssenate in ihrer Funktion als Berufungsbehörde der mit der Einfügung der Art. 129a und 129b ins B-VG verbundenen Absicht des Verfassungsgesetzgebers Rechnung getragen werden, Tribunale zu schaffen, die im Hinblick auf ihre umfassende Kognition mit Art. 6 EMRK im Einklang stehen. Dafür war nach der in den Materialien zum Ausdruck kommenden Ansicht des Gesetzgebers insbesondere die Zuständigkeit der Unabhängigen Verwaltungssenate zu einer selbständigen Entscheidung "sowohl hinsichtlich des Sachverhaltes als auch der Rechtsfrage" erforderlich. Für die Unabhängigen Verwaltungssenate als Berufungsbehörden sollte daher insbesondere auch § 66 Abs. 4 AVG gelten. Dies ergibt sich nunmehr ausdrücklich aus § 67h Abs. 1 AVG (vgl. zum Ganzen Hengstschläger/Leeb , Kommentar zum AVG, Rz 20 f zu § 67h mit ausführlichen Hinweisen auf die Materialien).

Von der Ermächtigung zur Aufhebung und Zurückverweisung gemäß § 66 Abs. 2 AVG darf der Unabhängige Verwaltungssenat daher - so wie andere Berufungsbehörden - nur unter der Voraussetzung Gebrauch machen, dass zur Komplettierung des mangelhaft festgestellten maßgeblichen Sachverhaltes die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint."

Der damit angesprochene Abs. 2 des § 66 AVG und dessen Abs. 3 lauten:

"(2) Ist der der Berufungsbehörde vorliegende Sachverhalt so mangelhaft, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, so kann die Berufungsbehörde den angefochtenen Bescheid beheben und die Angelegenheit zur neuerlichen Verhandlung und Erlassung eines neuen Bescheides an eine im Instanzenzug untergeordnete Behörde zurückverweisen.

(3) Die Berufungsbehörde kann jedoch die mündliche Verhandlung und unmittelbare Beweisaufnahme auch selbst durchführen, wenn hiemit eine Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist."

Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu diesen Bestimmungen darf die Berufungsbehörde eine kassatorische Entscheidung nicht bei jeder Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes, sondern nur dann treffen, wenn der ihr vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung "unvermeidlich erscheint", wobei es unerheblich ist, ob eine kontradiktorische Verhandlung oder eine Vernehmung erforderlich ist. Einem zurückverweisenden Bescheid im Sinne des § 66 Abs. 2 AVG muss demnach auch entnommen werden können, welche Mängel bei der Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes im Verfahren vor der Unterbehörde unterlaufen und im Wege der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung zu beheben sind. Ob die Rechtsmittelbehörde von der Ermächtigung zur Zurückverweisung Gebrauch macht und eine kassatorische Entscheidung trifft, oder die mündliche Verhandlung selbst durchführt und in der Sache entscheidet, liegt gemäß den Maßstäben des § 66 Abs. 2 iVm Abs. 3 AVG in ihrem Ermessen. Dabei obliegt es der Behörde, in der Begründung ihres Bescheides die für die Ermessensübung maßgebenden Umstände und Erwägungen insoweit aufzuzeigen, als dies für die Rechtsverfolgung durch die Parteien des Verwaltungsverfahrens und für die Nachprüfbarkeit des Ermessensaktes in Richtung auf seine Übereinstimmung mit dem Sinn des Gesetzes erforderlich ist (vgl. zum Ganzen etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/23/1107, mwH). Unter den genannten Ermessensgesichtspunkten könnte es - insoweit kann den Überlegungen des UVS gefolgt werden - relevant sein, dass die Einrichtung eines zweiinstanzlichen Verfahrens unterlaufen würde, wenn es wegen des Unterbleibens eines Ermittlungsverfahrens in erster Instanz zu einer Verlagerung nahezu des gesamten Verfahrens vor die Berufungsbehörde käme und die Einrichtung von zwei Entscheidungsinstanzen damit zur bloßen Formsache würde (vgl. dazu das schon erwähnte hg. Erkenntnis vom , Zl. 2002/20/0315, Punkt 4.1. der Entscheidungsgründe).

Vor diesem rechtlichen Hintergrund kritisiert die Amtsbeschwerde im Ergebnis zu Recht, dass sich dem angefochtenen Bescheid die nach der dargestellten Rechtsprechung geforderten, ein Vorgehen nach § 66 Abs. 2 AVG rechtfertigenden Begründungselemente nicht entnehmen lassen. Der UVS hat zwar eine (allfällige) Ergänzungsbedürftigkeit des Sachverhaltes in Bezug auf die für ein Aufenthaltsverbot erforderliche Gefährdungsprognose unterstellt. Dass jedoch insoweit keine wesentlichen Mängel bei der Feststellung des maßgebenden Sachverhaltes im Verfahren vor der BPD unterlaufen sind, ergibt sich schon aus den wiedergegebenen Erwägungen des Verwaltungsgerichtshofes im Vorerkenntnis vom .

In der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes wurde aber schon darauf hingewiesen, dass die Berufungsbehörde mangels Bestehens eines Neuerungsverbotes für das Berufungsverfahren von der Partei neu vorgebrachte Tatsachen und Beweise - soweit sie von Relevanz sind und den Gegenstand der Sache nicht verlassen - zu prüfen und bei ihrer Entscheidung zu berücksichtigen habe. Dass die Erstbehörde über erst in der Berufung (zulässigerweise) neu vorgebrachte Umstände Ermittlungen nicht angestellt bzw. dazu keine Feststellungen getroffen habe, bedeute demnach nicht, dass deshalb im Sinne von § 66 Abs. 2 AVG der "vorliegende Sachverhalt mangelhaft ist". Diesfalls lägen die Voraussetzungen nach der genannten Bestimmung für eine Zurückverweisung der Angelegenheit an die Erstbehörde zur neuerlichen Entscheidung somit nicht vor (siehe das Erkenntnis vom , Zl. 2007/01/0743). Das muss sinngemäß auch für neues Vorbringen, das erst im Laufe des Berufungsverfahrens vorgebracht wird, gelten. Davon abgesehen reicht die (hypothetische) Möglichkeit der Erstattung neuen Vorbringens durch den Mitbeteiligten jedenfalls nicht aus, eine Behebung des erstinstanzlichen Bescheides zu begründen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2008/19/0042).

Außerdem wendet die Amtsbeschwerde noch zu Recht ein, dass der UVS nicht dargetan habe, inwieweit die von ihm nur pauschal ins Treffen geführten Änderungen durch das FrÄG 2011 im vorliegenden Fall betreffend ein Aufenthaltsverbot gegen einen EWR-Bürger einen maßgeblichen Ermittlungsbedarf bewirkt hätten. Schließlich bildet aber auch die - von der Landespolizeidirektion Oberösterreich im vorliegenden Fall offenbar auch gar nicht gewünschte - Einräumung einer (neuerlichen) Möglichkeit zur Erhebung eines Widerspruchs gemäß § 67h Abs. 1 AVG keinen tragfähigen Grund für ein Vorgehen nach § 66 Abs. 2 AVG.

Der angefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am