VwGH vom 16.07.2020, Ra 2020/21/0146

VwGH vom 16.07.2020, Ra 2020/21/0146

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pelant, die Hofräte Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel, die Hofrätin Dr. Julcher und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revisionen des B O, zuletzt in V, vertreten durch Edward W. Daigneault, Rechtsanwalt in 1160 Wien, Lerchenfelder Gürtel 45/11, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichtes vom , G307 2229880-1/3E, und vom , G307 2229880-1/7Z, (Ra 2020/21/0146, 0147) sowie gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , G304 2229880-2/4E, (Ra 2020/21/0167), jeweils betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Erkenntnisse werden im bekämpften Umfang (das Erkenntnis vom somit nur hinsichtlich der Spruchpunkte A.I. bis A.III., die anderen Erkenntnisse zur Gänze) wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von insgesamt € 4.039,20 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1Der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, überquerte als Passagier in einem Reisebus von Italien kommend in den frühen Morgenstunden des die österreichische Grenze. Die Insassen dieses Busses wurden am Busbahnhof in Klagenfurt einer fremdenpolizeilichen Kontrolle unterzogen. Der Revisionswerber war der Aktenlage zufolge im Besitz eines gültigen nigerianischen Reisepasses und eines italienischen Aufenthaltstitels („permesso di soggiorno motivi umanitari“) mit Gültigkeit bis . Anschließend wurde der Revisionswerber - nach dem Inhalt des dazu verfassten polizeilichen Berichts - gemäß § 39 Abs. 1 Z 1 FPG iVm § 120 FPG wegen unrechtmäßiger Einreise ohne die hierfür erforderlichen Dokumente, nach Feststellung eines „Eurodac-Treffers“ für Italien sodann gemäß § 40 BFA-VG zum Zweck der Vorführung vor das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) festgenommen. Der Revisionswerber wurde durch die einschreitenden Polizeiorgane auf Englisch einer kurzen Befragung „für das BFA“ unterzogen. Er gab dabei an, 15 € in bar bei sich zu haben und nach Wien zu seinem Cousin „Andrew“, dessen Nachname und Geburtsdatum ihm nicht bekannt seien, fahren zu wollen. Danach wurde der Revisionswerber auf Anweisung des BFA in das Polizeianhaltezentrum Villach überstellt.

2Nach der in der Folge vom BFA eingeholten Auskunft des Polizeikooperationszentrums (PKZ) Thörl-Maglern war für den Revisionswerber der genannte italienische Aufenthaltstitel zuletzt mit Gültigkeit bis ausgestellt worden. Ein Verlängerungsantrag sei gestellt, das Verfahren jedoch - aus nicht bekanntem Grund - eingestellt worden.

3Hierauf ordnete das BFA mit Mandatsbescheid vom gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG gegen den Revisionswerber die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und der Sicherung der Abschiebung an. Das BFA legte dieser Entscheidung im Wesentlichen die eingangs wiedergegebenen Umstände zugrunde und folgerte daraus, dass der Revisionswerber über kein Aufenthaltsrecht in Italien verfüge, illegal nach Österreich eingereist sei, sich hier unrechtmäßig aufhalte und keine ausreichenden Barmittel für seinen Unterhalt besitze. Daher sei ein Verfahren zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung (in Verbindung mit einem Einreiseverbot) eingeleitet worden, wozu dem Revisionswerber eine Äußerungsfrist von zehn Tagen offen stehe. Das BFA ging des Weiteren davon aus, es bestehe „höchste Fluchtgefahr“, weil der Revisionswerber keinen ordentlichen Wohnsitz in Österreich habe und sich hier bislang unangemeldet unter Verletzung des Meldegesetzes aufgehalten habe. Er gehe keiner legalen Beschäftigung nach, habe keinerlei private und familiäre Anknüpfungspunkte in Österreich und sei zuletzt in Italien aufhältig gewesen. Der Revisionswerber sei beginnend ab 2015 bereits mehrfach ohne gültigen Reisepass nach Österreich gereist, wobei er nach Aufforderung durch das BFA entsprechend der nach § 52 Abs. 6 FPG (aufgrund der damals gültigen italienischen Aufenthaltstitel) bestehenden Verpflichtung wieder freiwillig nach Italien zurückgereist sei. Es sei ihm allerdings angekündigt worden, bei einer neuerlichen unrechtmäßigen Wiedereinreise die Erlassung einer Rückkehrentscheidung zu prüfen. Aufgrund des bisherigen Verhaltens erweise sich der Revisionswerber somit als nicht vertrauenswürdig. Es sei davon auszugehen, dass er auch hinkünftig nicht gewillt sei, die österreichischen Rechtsvorschriften einzuhalten.

4Mit Bescheid vom erließ das BFA - verbunden mit dem amtswegig vorgenommenen Ausspruch, dass ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt werde - gegen den Revisionswerber wegen seines unrechtmäßigen Aufenthalts in Österreich gemäß § 10 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG und wegen Mittellosigkeit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 2 Z 6 FPG ein mit zwei Jahren befristetes Einreiseverbot. Unter einem stellte das BFA fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Nigeria zulässig sei. Einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung wurde die aufschiebende Wirkung aberkannt und demzufolge auch keine Frist für die freiwillige Ausreise gewährt.

5Gegen den Schubhaftbescheid und gegen die darauf gegründete Anhaltung erhob der Revisionswerber mit Schreiben vom eine Beschwerde (einlangend beim BVwG am ), in der er geltend machte, er habe in Italien ein Aufenthaltsrecht „nach dortigem Asylgesetz“. Er werde in Schubhaft zur Sicherung seiner Abschiebung nach Italien angehalten, könne aber dorthin wegen des - aufgrund des „COVID-19 Ausbruchs“ - bestehenden Ausnahmezustands nicht abgeschoben werden. Im Falle einer Enthaftung könne er bei einem näher genannten Freund an einer bestimmten Adresse in Wien wohnen, bis die Maßnahmen „bzgl. COVID-19“ beendet seien; danach werde er selbständig nach Italien fahren.

6Mit dem erstangefochtenen Erkenntnis vom wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) diese Beschwerde als unbegründet ab (Spruchpunkt A.I.). Demzufolge verpflichtete es den Revisionswerber zum Aufwandersatz an den Bund (Spruchpunkt A.II.) und wies das Kostenersatzbegehren des Revisionswerbers ab (Spruchpunkt A.III.). Schließlich wies das BVwG den Antrag des Revisionswerbers auf Befreiung von der Entrichtung der Eingabengebühr ab (Spruchpunkt A.IV.). Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es noch aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei (Spruchpunkt B.). In der Begründung schloss sich das BVwG im Wesentlichen den Überlegungen des BFA an und es ging ebenfalls im Hinblick auf die Auskunft des PKZ Thörl-Maglern davon aus, dass der Revisionswerber über kein Aufenthaltsrecht in Italien verfüge; eine freiwillige Rückkehr dorthin sei daher nicht möglich.

7Mit Schriftsatz vom brachte der Revisionswerber in Bezug auf den vom BVwG gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG vorzunehmenden Ausspruch betreffend die Fortsetzung der Schubhaft einen Fristsetzungsantrag ein. Darin verwies der Revisionswerber neuerlich auf den in der Beschwerde näher genannten Freund, bei dem er wohnen könne. Außerdem könne er mangels nationaler und internationaler Reisemöglichkeiten „ohnehin nirgends untertauchen“. Überdies habe das BVwG bisher seine Angaben zum „Asylschutz in Italien“ ignoriert. Ihm seien „im Zusammenhang mit der Zuerkennung von subsidiärem Schutz“ Aufenthaltsbewilligungen aus humanitären Gründen erteilt worden. Das BVwG verhalte sich „grob rechtswidrig“, wenn es zum aufenthaltsrechtlichen Status des Revisionswerbers Erhebungen unterlasse. Es erscheine jedenfalls lebensfremd und die diesbezügliche Auskunft des PKZ Thörl-Maglern unrichtig, dass die italienischen Behörden ein Verlängerungsverfahren ohne Erlassung einer bekämpfbaren Entscheidung „einfach so“ einstellen könnten. Die Angaben des Revisionswerbers, er sei in Italien aufenthaltsberechtigt, „dürften daher zutreffen“.

8Hierauf erließ das BVwG ohne weitere Ermittlungen das zweitangefochtene Erkenntnis vom , mit dem gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG „iVm § 76 Abs. 6 FPG“ festgestellt wurde, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung vorlägen. Dabei verwies das BVwG in Bezug auf die Feststellungen und die Beweiswürdigung nur auf das Erkenntnis vom , ohne sich mit dem Vorbringen im Fristsetzungsantrag zu einem Aufenthaltsrecht in Italien näher auseinander zu setzen. In der rechtlichen Beurteilung wurden im Wesentlichen nur die Ausführungen im Erkenntnis vom wortgleich wiederholt. Auch im zweitangefochtenen Erkenntnis sprach das BVwG gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

9Gegen das Erkenntnis vom , der Sache nach aber nur gegen die Spruchpunkte A.I. bis A.III., und gegen das Erkenntnis vom richtet sich die am beim BVwG eingebrachte - zu Ra 2020/21/0146 und Ra 2020/21/0147 protokollierte - (außerordentliche) Revision.

10An diesem Tag brachte der Revisionswerber beim BVwG auch eine „Beschwerde gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG (‚Schubhaftbeschwerde‘)“ mit dem Antrag ein, das BVwG möge die Haft im Zeitraum vom bis „als rechtswidrig feststellen“ und aussprechen, dass zum Zeitpunkt seiner Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Dazu brachte der Revisionswerber vor, das BVwG hätte im Hinblick auf die am bei ihm eingelangte Beschwerde (siehe Rn. 5) binnen einer Woche, somit bis , über die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft entscheiden müssen. Diese Entscheidung sei aber erst (über Fristsetzungsantrag des Revisionswerbers) mit Erkenntnis des BVwG vom , dem Rechtsvertreter mit Wirksamkeit vom zugestellt, vorgenommen worden. Erst damit sei ein neuer Schubhafttitel „geschaffen“ worden, während der durch das BFA „geschaffene“ Schubhafttitel (gemeint: der Schubhaftbescheid vom ) am „geendet“ habe. Schon deshalb sei die Rechtswidrigkeit der Schubhaft im geltend gemachten Zeitraum festzustellen. Die Anhaltung des Revisionswerbers in diesem Zeitraum vom bis und deren weitere Fortsetzung seien aber auch deshalb rechtswidrig, weil dem Revisionswerber in Italien subsidiärer Schutz zuerkannt worden sei. Deshalb leide die mit Bescheid des BFA vom erlassene Rückkehrentscheidung an „eklatanten Rechtswidrigkeiten“, insbesondere weil der Revisionswerber nicht nach Nigeria abgeschoben werden dürfe, solange ihm in Italien subsidiärer Schutz zukomme. Neben weiteren Ausführungen zur Unzulässigkeit einer Abschiebung nach Nigeria wiederholte der Revisionswerber dann noch sein Vorbringen in der Beschwerde vom und im Fristsetzungsantrag vom zur Wohnmöglichkeit bei einem Freund in Wien und zur (wegen der bestehenden Reisebeschränkungen) geringen Gefahr eines „Untertauchens“. Im Übrigen brachte der Revisionswerber noch vor, er sei aufgrund des Verlängerungsantrages bezüglich seines Aufenthaltstitels davon ausgegangen, in Italien weiterhin aufenthaltsberechtigt zu sein; für die letzte Einreise am sei ihm daher „keine vorsätzliche Verfehlung“ vorzuwerfen.

11Hierauf erging das drittangefochtene Erkenntnis des BVwG vom , mit dem (nur) gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 2 FPG „iVm § 76 Abs. 6 FPG“ festgestellt wurde, dass die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen zum Zeitpunkt der Entscheidung vorlägen. In der Begründung übernahm das BVwG wörtlich die Feststellungen aus dem Erkenntnis vom und führte dazu beweiswürdigend nur aus, die Feststellungen ergäben sich „aus dem glaubhaften und schlüssigen durch die belangte Behörde vorgelegten Verwaltungsakt“. Die rechtliche Beurteilung entspricht - abgesehen vom Weglassen eines Absatzes - wortgleich jener im Erkenntnis vom . Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

12Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die am beim BVwG eingebrachte - zu Ra 2020/21/0167 protokollierte - (außerordentliche) Revision.

13Die wegen ihres persönlichen und sachlichen Zusammenhangs zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Revisionen erweisen sich entgegen den gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Aussprüchen des BVwG als zulässig und auch als berechtigt.

14Dazu hat der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Akten und Durchführung von Vorverfahren - Revisionsbeantwortungen wurden jeweils nicht erstattet - erwogen:

15Gemäß dem im vorliegenden Fall als Rechtsgrundlage herangezogenen § 76 Abs. 2 Z 2 FPG darf Schubhaft angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme nach dem 8. Hauptstück des FPG (u.a. einer Rückkehrentscheidung) oder der Abschiebung notwendig ist, sofern jeweils Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist. Gemäß § 76 Abs. 5 FPG gilt die zur Sicherung des Verfahrens angeordnete Schubhaft ab dem Zeitpunkt, in dem eine aufenthaltsbeendende Maßnahme durchsetzbar wird, und wenn die Überwachung der Ausreise des Fremden notwendig erscheint, als zur Sicherung der Abschiebung verhängt.

16Das BFA ging bei Erlassung des Schubhaftbescheides am davon aus, der Revisionswerber sei mangels der erforderlichen Dokumente unrechtmäßig in Österreich eingereist und halte sich hier unrechtmäßig auf. Das trifft vor dem Hintergrund der Bestimmungen des § 31 Abs. 1 Z 3 FPG iVm Art. 21 Abs. 1 Schengener Durchführungsübereinkommen und Art. 6 Abs. 1 lit. b Schengener Grenzkodex im Ergebnis zu. Diese Bestimmungen verlangen im fallbezogenen Zusammenhang für die rechtmäßige Einreise und den rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich, dass der Fremde entweder über einen gültigen Aufenthaltstitel eines Vertragsstaates (vgl. § 2 Abs. 4 Z 7 FPG) verfügt oder dass er im Besitz eines gültigen Visums ist. Beides traf unbestritten nicht zu. Demzufolge ging das BFA erkennbar davon aus, dass gegen den Revisionswerber - wie dann auch mit Bescheid vom vorgenommen - wegen seines unrechtmäßigen Aufenthalts in Österreich eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 Z 1 FPG, die ihn gemäß § 52 Abs. 8 FPG in erster Linie zur Ausreise in den Herkunftsstaat Nigeria verpflichtet, zu erlassen sein werde. Zur Sicherung dieses Verfahrens und zur Sicherung der Abschiebung des Revisionswerbers nach Nigeria wurde die gegenständliche Schubhaft angeordnet.

17Allerdings normiert § 52 Abs. 6 FPG, dass sich ein nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältiger Drittstaatsangehöriger, der im Besitz eines Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaates ist, unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben habe. Nur dann, wenn er seiner Ausreiseverpflichtung nicht nachkommt oder wenn seine sofortige Ausreise aus dem Bundesgebiet aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit erforderlich ist, wäre eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 FPG zu erlassen. Das BFA ging im Schubhaftbescheid nicht vom Vorliegen der letztgenannten Voraussetzung aus und es forderte den Revisionswerber vor der Schubhaftverhängung auch nicht auf, sich unverzüglich nach Italien zu begeben. Vielmehr unterstellte es offenbar, dass die genannte Bestimmung im vorliegenden Fall von vornherein nicht anzuwenden sei, weil die Befristung des dem Revisionswerber erteilten italienischen Aufenthaltstitels abgelaufen und das Verfahren über einen Antrag auf Verlängerung nach Auskunft der italienischen Polizeibehörde eingestellt worden sei. Die Richtigkeit dieser Auskunft musste vom BFA bei Anordnung der Schubhaft mittels Mandatsbescheides auf Basis der damals gegebenen Aktenlage nicht bezweifelt und deshalb zu diesem Zeitpunkt die Anwendbarkeit des § 52 Abs. 6 FPG nicht in Betracht gezogen werden.

18Das gilt jedoch nicht für das BVwG in Bezug auf die mit dem zweitangefochtenen Erkenntnis vom getroffene Feststellung über die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft. Vielmehr hätte es im Hinblick auf das Vorbringen des Revisionswerbers in der Beschwerde vom zu einem Aufenthaltsrecht „nach dortigem Asylgesetz“ und dem näheren Vorbringen im Fristsetzungsantrag vom zum „Asylschutz in Italien“ und vor allem zur seiner Ansicht nach tatsächlich nicht erfolgten Einstellung des Verfahrens über seinen Antrag auf Verlängerung des erst kürzlich abgelaufenen humanitären Aufenthaltstitels ergänzender Ermittlungen des BVwG zum aktuellen aufenthaltsrechtlichen Status des Revisionswerbers in Italien bedurft, zumal sich das BFA damit auch im Bescheid vom (s. Rn. 4) nicht näher befasst hatte. Diesbezüglich hätte sich das BVwG nicht mit der schon vom datierenden kurzen Auskunft des PKZ Thörl-Maglern begnügen dürfen. Schon deshalb - siehe im Übrigen aber auch noch die Erwägungen unter Rn. 23 - leidet das zweitangefochtene Erkenntnis vom an einem wesentlichen Ermittlungs- und Begründungsmangel (vgl. zur Einreise eines Drittstaatsangehörigen aus Deutschland mit abgelaufenem deutschen Aufenthaltstitel nach Stellung eines Verlängerungsantrages auch noch , Rn. 15). Das macht die Revision zu Recht geltend. Auf die dort auch noch relevierte Frage der Verhältnismäßigkeit der Schubhaft wegen derzeit nicht möglicher Abschiebungen nach Nigeria kommt es daher nicht mehr an. Gleiches gilt für die erstmals in der Beschwerde ins Treffen geführte und somit auch nur für den Fortsetzungsausspruch unter dem Gesichtspunkt des Vorliegens einer ausreichenden Fluchtgefahr maßgebliche Frage des allfälligen Bestehens einer Wohnmöglichkeit des Revisionswerbers bei einem Freund in Wien.

19Die Ausführungen in der vorstehenden Rn. 18 gelten sinngemäß auch für das drittangefochtene Erkenntnis vom , in dem auf das Vorbringen in der zugrundeliegenden Beschwerde vom mit keinem Wort eingegangen wurde. Es wurde vom BVwG aber auch nicht über den primären Antrag, die Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft im Zeitraum vom bis für rechtswidrig zu erklären, abgesprochen, obwohl betreffend diesen Zeitraum bisher noch keine Überprüfung stattgefunden hatte und die Beschwerde daher grundsätzlich zulässig war (siehe unter Bezugnahme auf , das Erkenntnis , Rn. 11 und 12, wonach nur dann von entschiedener Sache ausgegangen werden kann, wenn sich die spätere Beschwerde auf einen Zeitraum bezieht, über den bereits durch ein Erkenntnis des BVwG abgesprochen wurde). Mit dieser Entscheidung wurde das BVwG somit seiner Aufgabe, die Beschwerde unter Auseinandersetzung mit der dort vorgetragenen Begründung zur Gänze zu erledigen, überhaupt nicht gerecht, indem es - sogar unter Übernahme der im Erkenntnis vom offenbar irrtümlich und fallbezogen nicht passenden Zitierung des § 76 Abs. 6 FPG im Spruch - sein Erkenntnis unter ungeprüfter Verwendung von Begründungsteilen aus Vorerkenntnissen, in denen im Wesentlichen wiederum nur der Argumentation des BFA im Schubhaftbescheid vom gefolgt wurde, erstellte, ohne auf die weitere zeitliche Entwicklung und das mittlerweile erstattete Vorbringen des Revisionswerbers auch nur ansatzweise einzugehen. Dass in diesem Erkenntnis jede fallbezogene Auseinandersetzung fehlt, zeigt sich evident auch darin, dass in der Beweiswürdigung - trotz des gegenteiligen Vorbringens des Revisionswerbers im bisherigen Verfahren und in der Beschwerde vom zum Vorliegen eines Aufenthaltsrechts in Italien, zur Unzulässigkeit bzw. Unverhältnismäßigkeit der durch die gegenständliche Schubhaft gesicherten Abschiebung nach Nigeria und zum Fehlen einer Fluchtgefahr - bloß auf den „glaubhaften und schlüssigen“ Verwaltungsakt verwiesen wurde. In diesem Sinn werden in der Revision vom zu den soeben angesprochenen Fragen im Ergebnis zutreffend Ermittlungs- und Begründungsmängel geltend gemacht.

20In dieser Revision wird auf die Alternativbegründung in der Beschwerde vom , die Schubhaft sei im Zeitraum bis schon deshalb rechtswidrig gewesen, weil der (nach § 22a Abs. 3 iVm Abs. 2 BFA-VG) binnen einer Woche nach Vorlage der ersten Beschwerde (s. Rn. 5) vom BVwG vorzunehmende Abspruch betreffend die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft verspätet, nämlich mit dem erst am erlassenen Erkenntnis vom , ergangen sei, nicht mehr zurückgekommen. Zur Vermeidung von Missverständnissen ist aber klarzustellen, dass die dieser Ansicht zugrunde liegende Prämisse, der Schubhaftbescheid vom habe für diesen Zeitraum seine Wirksamkeit verloren, nicht zutrifft (vgl. im Zusammenhang mit der Nichteinhaltung der Fristen nach § 22a Abs. 4 BFA-VG der Sache nach schon , Rn. 11). Er bildete vielmehr weiterhin den maßgeblichen Schubhafttitel. Die Rechtmäßigkeit der Anhaltung des Revisionswerbers in diesem Zeitraum hängt demnach davon ab, ob der Schubhaftbescheid hierfür eine taugliche Grundlage darstellte. Die verspätete Entscheidung betreffend den Fortsetzungsausspruch kann somit auch nicht mit (gesonderter) Schubhaftbeschwerde an das BVwG erfolgreich geltend gemacht werden, sondern nur mit Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof, der gegebenenfalls eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit feststellt (vgl. etwa , Punkt III.1. der Entscheidungsgründe). Nur der Fortsetzungsausspruch ist wegen seiner verspäteten Erlassung insoweit rechtswidrig, was aber nicht zu seiner Aufhebung durch den Verwaltungsgerichtshof führt, weil der Revisionswerber in Ansehung des Rechts auf fristgerechte Entscheidung durch eine Aufhebung nicht besser gestellt wäre (vgl. unter Bezugnahme auf , in diesem Sinn schon das Erkenntnis ). Deshalb beschränkt sich auch der Verfassungsgerichtshof - worauf der Verwaltungsgerichtshof in den genannten Erkenntnissen auch Bezug nahm - in diesen Fällen auf die Feststellung der Rechtsverletzung und hebt den verspätet ergangenen Fortsetzungsausspruchs nicht auf, weil - so der Verfassungsgerichtshof - durch eine solche Aufhebung die Rechtsverletzung nicht beseitigt, sondern insoweit sogar verschärft werden könnte, als die im fortgesetzten Verfahren vor dem BVwG ergehende Entscheidung nur noch später ergehen könnte (vgl. nochmals , aaO.). Vor allem käme die Aufhebung eines Fortsetzungsausspruchs durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts aber nur dann in Betracht, wenn diese Entscheidung außer wegen ihrer nicht fristgerechten Erlassung mit einer sonstigen Rechtswidrigkeit belastet ist (vgl. zu einer solchen Konstellation , insbesondere Punkt II.1.6 bis II.1.8. der Entscheidungsgründe, wo zwar eine Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf persönliche Freiheit festgestellt wurde, weil der Ausspruch über die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft nicht binnen einer Woche ergangen war, jedoch vom Verfassungsgerichtshof weiters ausgesprochen wurde, der Beschwerdeführer sei im Übrigen durch diesen Ausspruch weder in einem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht noch wegen Anwendung einer rechtswidrigen generellen Norm in seinen Rechten verletzt worden, weshalb die Beschwerde insoweit abgewiesen und dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten werde, und dieser somit im Rechtsbestand verbliebene Ausspruch dann infolge einer Revision mit dem Erkenntnis , aus einem anderen Grund wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben wurde; siehe auch dazu nochmals , Punkt III.1. und III.2. der Entscheidungsgründe). Auch ein verspätet erlassener Fortsetzungsausspruch stellt daher - soweit er nicht an einem weiteren Mangel leidet - einen tauglichen Schubhafttitel dar. Keinesfalls hat aber die wegen der nicht fristgerechten Erlassung bestehende Rechtswidrigkeit des Fortsetzungsausspruchs zur Folge, dass die Anhaltung in Schubhaft in jenem Zeitraum, in dem die Fristüberschreitung vorlag, per se rechtswidrig war. Das hängt - wie erwähnt - von der Rechtmäßigkeit des Schubhaftbescheides bzw. eines anderen davor ergangenen Schubhafttitels ab (vgl. zum Ganzen auch noch Kopetzki in Korinek/Holoubek, Bundesverfassungsrecht, Rz. 48 zu Art. 6 PersFrG, sowie , Rn. 18, betreffend einen verspäteten Fortsetzungsausspruch nach § 22a Abs. 4 BFA-VG).

21Im vorliegenden Fall erweist sich - ungeachtet der Ausführungen unter Rn. 17 am Ende - aber auch der vom BFA erlassene Schubhaftbescheid vom letztlich als mangelhaft begründet und es sind damit auch die Abweisung der Beschwerde vom mit Spruchpunkt A.I. und die diesbezüglichen Kostenentscheidungen in den Spruchpunkten A.II. und A.III. des erstangefochtenen Erkenntnisses des BVwG vom rechtswidrig. Das BFA hätte nämlich die Bestimmung des § 52 Abs. 7 FPG, mit dem Art. 6 Abs. 3 der RückführungsRL (Richtlinie 2008/115/EG) umgesetzt wurde, in seine Überlegungen einbeziehen müssen. Danach ist von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 1 FPG abzusehen, wenn ein Fall des § 45 Abs. 1 FPG vorliegt und ein Rückübernahmeabkommen mit jenem Mitgliedstaat besteht, in den der Drittstaatsangehörige zurückgeschoben werden soll. Fallbezogen lag die in § 45 Abs. 1 Z 1 FPG geregelte Konstellation vor, wonach Fremde von den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Auftrag der Landespolizeidirektion zur Rückkehr in einen Mitgliedstaat verhalten werden können (Zurückschiebung), wenn sie nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist sind und binnen vierzehn Tagen betreten werden. Demzufolge wäre das Abkommen zwischen der Bundesregierung der Republik Österreich und der Regierung der Italienischen Republik über die Übernahme von Personen an der Grenze, BGBl. III Nr. 160/1998, in den Blick zu nehmen gewesen. Nach dessen Art. 2 Abs. 1 übernimmt nämlich jede Vertragspartei auf Ersuchen der anderen Vertragspartei auf ihr Gebiet Drittstaatsangehörige, welche nicht oder nicht mehr die auf dem Gebiet der ersuchenden Vertragspartei (hier: Österreich) gültigen Bedingungen zur Einreise oder zum Aufenthalt erfüllen, sofern nachgewiesen wird, dass diese Staatsangehörigen in das Gebiet dieser Vertragspartei eingereist sind, nachdem sie sich auf dem Gebiet der ersuchten Vertragspartei (hier: Italien) aufgehalten haben. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen war im gegenständlichen Fall unstrittig gegeben.

22Demzufolge hätte vorrangig eine Zurückschiebung des Revisionswerbers anstelle der Einleitung eines Verfahrens zur Erlassung einer Rückkehrentscheidung und anstelle der Schubhaftverhängung zu dessen Sicherung in Betracht gezogen werden müssen. Dem Schubhaftbescheid kann aber nicht entnommen werden, weshalb diese Vorgangsweise - deren Zulässigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 1 FPG entgegengestanden wäre - nicht in Frage gekommen sei. Es fehlt somit eine Begründung, weshalb trotz der offenbar gegebenen Möglichkeit einer Zurückschiebung des Revisionswerbers nach Italien die verhängte Schubhaft zur Sicherung (letztlich) einer Abschiebung nach Nigeria als notwendig im Sinne des § 76 Abs. 2 Z 2 FPG angesehen wurde.

23Nun ergibt sich zwar aus dem polizeilichen Bericht über die Festnahme des Revisionswerbers, dass in Bezug auf seine Person ein „Eurodac-Treffer“ für Italien ausgewiesen sei. Deshalb sei die Festnahme in der Folge auf § 40 BFA-VG - offenbar auf den Tatbestand des Abs. 1 Z 3 dieser Bestimmung (Festnahme eines Fremden, der sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält und nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG, in dem insbesondere die Zurückschiebung geregelt ist, fällt) - mit dem Zweck der Vorführung vor das BFA gestützt worden (vgl. Rn. 1). In Anbetracht eines solchen - aus den vorgelegten Akten allerdings nicht ersichtlichen - „Eurodac-Treffers“ hätte sich dann aber die vom BFA im Schubhaftbescheid ebenfalls nicht erörterte und vom BVwG auch nicht erkannte Frage gestellt, weshalb das BFA kein Verfahren nach der Dublin III-VO in Betracht zog, zu dessen Sicherung durch Schubhaft jedoch die Voraussetzungen des Tatbestandes nach der Z 3 des § 76 Abs. 2 FPG iVm Art. 28 Dublin III-VO hätten erfüllt sein müssen.

24Bei diesem Ergebnis braucht auf die Frage des Vorliegens einer die Anhaltung des Revisionswerbers in Schubhaft rechtfertigenden Fluchtgefahr nicht weiter eingegangen werden. Es kann aber nicht unerwähnt bleiben, dass der in diesem Zusammenhang vom BFA im Schubhaftbescheid vom erhobene Vorwurf, der Revisionswerber habe sich in Österreich „bislang unangemeldet unter Verletzung des Meldegesetzes“ aufgehalten, angesichts seiner kurz nach der Einreise erfolgten Festnahme jedenfalls nicht tragfähig ist. Gleiches gilt für das Argument des BVwG in allen angefochtenen Erkenntnissen, der Revisionswerber habe dem BFA „trotz abgelaufener italienischer Aufenthaltsberechtigung seinen aktuellen Aufenthalt in Österreich“ nicht mitgeteilt und sich nicht angemeldet.

25Insgesamt ergibt sich somit, dass die drei angefochtenen Erkenntnisse (im bekämpften Umfang) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben waren.

26Von der in den Revisionen beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

27Der Kostenzuspruch gründet sich auf die § 47 ff VwGG, insbesondere auch auf § 52 Abs. 1 VwGG, in Verbindung mit der VwGH-AufwErsV 2014.

Wien, am

Zusatzinformationen


Tabelle in neuem Fenster öffnen
ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210146.L00
Schlagworte:
Begründung Begründungsmangel Besondere Rechtsgebiete Gemeinschaftsrecht Richtlinie EURallg4 Individuelle Normen und Parteienrechte Rechtsanspruch Antragsrecht Anfechtungsrecht VwRallg9/2

Dieses Dokument entstammt dem Rechtsinformationssystem des Bundes.