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VwGH vom 04.03.2010, 2006/20/0832

VwGH vom 04.03.2010, 2006/20/0832

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung

verbunden):

2006/20/0833

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak und den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger als Richter, im Beisein des Schriftführers MMag. Stelzl, über die Beschwerden von 1. J, vertreten durch Dr. Norbert Schopf, Rechtsanwalt in 1030 Wien, Esteplatz 5/5, und 2. P, vertreten durch Dr. Josef Schima, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Graben 28/1/21, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom , Zlen. 248.170/5-XV/54/06 (protokolliert zur Zl. 2006/20/0832) und 302.281-C1/E1-XV/54/06 (protokolliert zur Zl. 2006/20/0833), betreffend §§ 7, 8 Asylgesetz 1997 (ad 1.) und §§ 3, 8 und 10 iVm § 34 Asylgesetz 2005 (ad 2.) (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Die angefochtenen Bescheide werden hinsichtlich der Erstbeschwerdeführerin wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften und hinsichtlich der Zweitbeschwerdeführerin wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den Beschwerdeführerinnen Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die Erstbeschwerdeführerin, eine am geborene nigerianische Staatsangehörige, reiste am in das Bundesgebiet ein und beantragte am selben Tag Asyl. Zu ihren Fluchtgründen gab sie an, ihre Stiefmutter habe sie zwingen wollen, einen Mann zu heiraten, der 50 Jahre alt und Mitglied einer Geheimgesellschaft sei. Sie habe dies jedoch aufgrund ihres Alters von 17 Jahren abgelehnt und auch ihr Vater sei mit der Heirat nicht einverstanden gewesen. Deswegen sei es am zwischen ihrem Vater und ihrer Stiefmutter zu einem Streit gekommen, im Zuge dessen ihre Stiefmutter dem Vater mit einem Holzstück auf den Kopf geschlagen habe. Ihr Vater sei im Krankenhaus nicht behandelt worden, weil sie kein Geld gehabt hätten, weswegen er sieben Tage später verstorben sei. Sie habe sich weiterhin geweigert, den "alten Mann" zu heiraten, weil er schon dreimal verheiratet gewesen und jede seiner Frauen gestorben sei. Ihre Stiefmutter habe ihr gesagt, dass sie so wie ihr Vater enden würde, wenn sie der Heirat nicht zustimme. Auch die "Dorfältesten" hätten sie zu dieser Heirat zwingen wollen. Der Mann, den sie heiraten habe sollen, habe sie fünf Tage in ein Haus eingesperrt; dann habe sie fliehen können. Bei einer Rückkehr nach Nigeria befürchte sie, von diesem Mann, den Mitgliedern der Geheimgesellschaft und vielleicht auch von ihrer Stiefmutter getötet zu werden.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom den Asylantrag der Erstbeschwerdeführerin gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab und erklärte ihre Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach Nigeria gemäß § 8 AsylG für zulässig.

Mit dem erstangefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde - nach Durchführung einer Berufungsverhandlung - die dagegen erhobene Berufung gemäß §§ 7, 8 AsylG ab. Sie stellte fest, Zwangsheirat sei in Nigeria nach wie vor ein verbreitetes Phänomen. Viele Mädchen und junge Frauen würden von ihren Eltern mit einem von ihnen ausgesuchten Mann verehelicht werden. Zwangsheirat sei im Norden Nigerias besonders häufig und betreffe vor allem junge Frauen, die zur Heirat mit älteren Männern gezwungen würden. Fallweise gebe es Zwangsheirat auch im Süden des Landes. Betroffene Frauen könnten "legale Unterstützung" bei einer Anzahl von NGO's bekommen und viele würden diese Hilfe auch in Anspruch nehmen. Frauen, die versuchen, einer Zwangsheirat zu entkommen, könnten z.B. bei der Organisation WACOL ("Women Aid Collective") Unterstützung bekommen, die in jedem Fall Schutz biete. In der rechtlichen Beurteilung führte die belangte Behörde aus, aufgrund der Angaben der Erstbeschwerdeführerin, "die im Kern durchaus als glaubwürdig eingestuft" würden, könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie mit einem älteren Mann verheiratet hätte werden sollen. Jedoch könne nicht davon ausgegangen werden, dass in ihrem Fall keine Schutzfähigkeit oder Schutzwilligkeit durch staatliche Behörden gegeben sei. Die Erstbeschwerdeführerin habe weder nach den Morddrohungen ihrer Stiefmutter noch nach der Entführung durch den potenziellen Ehemann "Hilfe von staatlichen Stellen in Anspruch" genommen. Darüber hinaus werde "auf die Schutzmöglichkeiten durch die Organisation WACOL hingewiesen", die sich um Frauen kümmere, die sich in einer vergleichbaren Situation befänden. Im Falle ihrer Rückkehr könne sie mit der Unterstützung dieser Institution rechnen. Ihre "Angaben" seien daher nicht asylrelevant.

Die minderjährige Zweitbeschwerdeführerin ist die Tochter der Erstbeschwerdeführerin und wurde am in Österreich geboren.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom wurde ihr Antrag auf internationalen Schutz vom gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihr gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 der Status der subsidiär Schutzberechtigen nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.) und sie gemäß § 10 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria ausgewiesen (Spruchpunkt III.).

Die dagegen erhobene Berufung wies die belangte Behörde - nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem zweitangefochtenen Bescheid gemäß "§§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1 und 10 iVm § 34 AsylG 2005" ab. Begründend führte sie aus, die Zweitbeschwerdeführerin habe keine eigenen Fluchtgründe.

Über die dagegen erhobenen, wegen des sachlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Entscheidung verbundenen Beschwerden der Erst- und Zweitbeschwerdeführerin hat der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

1. Die belangte Behörde hat im erstangefochtenen Bescheid "nicht ausgeschlossen", dass die Erstbeschwerdeführerin mit einem älteren Mann verheiratet werden sollte, ohne ausdrückliche Feststellungen zur behaupteten Verfolgung, insbesondere durch ihre Stiefmutter und den potenziellen Ehemann, zu treffen. Die weitere Begründung des Bescheides zur Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der nigerianischen Behörden lässt sich jedoch nur so verstehen, dass die belangte Behörde ihrer rechtlichen Beurteilung das Fluchtvorbringen der Erstbeschwerdeführerin zugrunde legte. Ausgehend davon kann angesichts der unterstellten Morddrohung ihrer Stiefmutter und der Entführung durch ihren potenziellen Ehemann an einer Verfolgung der Erstbeschwerdeführerin kein Zweifel bestehen.

Dass die Verfolgung der Erstbeschwerdeführerin aufgrund "Zwangsverheiratung" unter dem Gesichtspunkt einer geschlechtsspezifischen Verfolgung als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention asylrelevant sein kann, hat die belangte Behörde zutreffend nicht verneint (vgl. die Erkenntnisse vom , Zl. 2003/20/0550, vom , Zl. 2006/19/0082 und die zu § 6 AsylG ergangenen Erkenntnisse vom , Zl. 2001/01/0503, vom , Zl. 2000/20/0071, vom , Zl. 2000/20/0152 und vom , Zl. 2004/01/0457; vgl. auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom , U 431/08).

2. Die Beschwerden wenden sich gegen die Annahme ausreichenden staatlichen Schutzes gegen eine der Erstbeschwerdeführerin drohende Zwangsehe sowie das Vorliegen einer innerstaatlichen Schutzalternative und zeigen damit relevante Verfahrensmängel auf.

Die belangte Behörde stützte die Abweisung des Asylantrages einerseits auf die durch keine Länderfeststellungen und keinerlei Berichtsmaterial belegte Annahme, die staatlichen Behörden Nigerias seien gewillt und in der Lage, im Fall der Erstbeschwerdeführerin wirksamen Schutz zu bieten. Der Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom , den die belangte Behörde ihren "Feststellungen zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage in Nigeria" zugrunde legte, enthält keine Ausführungen zur Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit der nigerianischen Behörden im Zusammenhang mit der Verfolgung wegen drohender Zwangsheirat. Mangels einschlägiger Länderfeststellungen ist auch die Begründung, dass die Erstbeschwerdeführerin staatliche Hilfe nicht in Anspruch genommen habe, nicht tragfähig. Wenn nämlich - entsprechend den Ausführungen der Erstbeschwerdeführerin in der Berufungsverhandlung zur Untätigkeit der nigerianischen Polizei, die von der belangten Behörde lediglich als "sehr allgemein gehalten" gewertet wurden - bereits von vornherein klar wäre, dass die staatlichen Stellen vor Verfolgung nicht schützen wollen oder dazu nicht in der Lage wären, wäre es nicht erforderlich, den (aussichtslosen) Versuch zu unternehmen, bei staatlichen Stellen Schutz zu suchen (vgl. dazu die Erkenntnisse vom , Zl. 95/20/0707, und vom , Zl. 98/20/0574).

Die belangte Behörde begründete die Verneinung der asylrelevanten Verfolgungsgefahr andererseits damit, dass die Erstbeschwerdeführerin die Schutzmöglichkeiten durch die Organisation WACOL in Anspruch nehmen und mit deren Unterstützung rechnen könne. Damit geht die belangte Behörde offenbar vom Bestehen einer innerstaatlichen Schutzalternative durch diese Organisation aus. In diesem Zusammenhang hat sie es aber unterlassen, sich mit der Frage der Effektivität und Zumutbarkeit der Inanspruchnahme dieser Organisation ausreichend auseinander zu setzen und nachvollziehbar zu begründen, ob und inwiefern die Erstbeschwerdeführerin dort frei von Furcht leben kann und ob ihr dies auch zumutbar ist (vgl. in diesem Sinn zu Hilfseinrichtungen für Frauen in der Türkei das bereits oben zitierte Erkenntnis vom , Zl. 2003/20/0550). Dass von Zwangsheirat betroffene Frauen "legale Unterstützung" (gemeint: juristische Unterstützung) von einer Anzahl von nigerianischen NGO's bekommen können, reicht allein für eine effektive Schutzgewährung nicht aus. Nach den weiteren Länderfeststellungen bietet die Organisation WACOL diesen Frauen Unterstützung und Schutz, ohne dass die Form und Effektivität dieser Schutzmöglichkeit präzisiert wird. Zweifel an deren Effektivität ruft aber der von der belangten Behörde herangezogene gemeinsame Bericht des UK Home Office/The Danish Immigration Service vom (richtig:) Jänner 2005 hervor, wonach die Organisation WACOL bedauert, verfolgten Frauen nur dann Unterstützung bieten zu können, wenn diese zu ihrem Büro in Abuja gelangen.

Mit der Möglichkeit und Zumutbarkeit einer weiteren innerstaatlichen Ausweichmöglichkeit hat die belangte Behörde - anders als das Bundesasylamt - nicht argumentiert.

Da die belangte Behörde aus den genannten Gründen sowohl die Frage des Bestehens eines ausreichenden Schutzes der Erstbeschwerdeführerin durch staatliche Maßnahmen als auch jene der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Schutzalternative nicht (ausreichend) begründete, war der erstangefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

3. Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf das Verfahren der Zweitbeschwerdeführerin durch und belastet den ihr gegenüber erlassenen Bescheid der belangten Behörde mit inhaltlicher Rechtswidrigkeit (vgl. dazu das Erkenntnis vom , Zl. 2007/20/0281).

Zudem hat die belangte Behörde mit der durch den zweitangefochtenen Bescheid erfolgten Bestätigung des Spruchpunktes III. des erstinstanzlichen Bescheides (Ausweisung der mj. Zweitbeschwerdeführerin ohne ihre Mutter nach Nigeria) die Rechtslage verkannt. Der Asylantrag der Erstbeschwerdeführerin wurde vor dem Inkrafttreten der Asylgesetznovelle 2003 gestellt; sie wurde von den Asylbehörden nicht ausgewiesen. Aufgrund der Erwägungen im Erkenntnis vom , Zl. 2007/19/0037, auf welches gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, hätte daher in einem Fall wie dem vorliegenden eine Ausweisung der Zweitbeschwerdeführerin durch die Asylbehörden nach dem AsylG 2005 unterbleiben müssen.

Der zweitangefochtene Bescheid war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

4. Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.

Wien, am