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VwGH vom 04.03.2020, Ra 2020/21/0005

VwGH vom 04.03.2020, Ra 2020/21/0005

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag.a Eraslan, über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom , W137 2222477-2/9E, betreffend Schubhaft (mitbeteiligte Partei: M G, im Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, 1170 Wien, Wattgasse 48/3. Stock), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Begründung

1 Der Mitbeteiligte, ein georgischer Staatsangehöriger, reiste am legal mit dem Flugzeug nach Prag und begab sich anschließend per Reisebus nach Österreich. Seinen Angaben zufolge wohnte er dann in Wien in einem Hotel.

2 Der Mitbeteiligte wurde straffällig und deshalb am festgenommen und anschließend in Untersuchungshaft angehalten. Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom wurde er dann wegen des Vergehens der (Beteiligung an einer) kriminellen Vereinigung gemäß § 278 Abs. 1 StGB und des Vergehens des gewerbsmäßig (und als Mitglied einer kriminellen Vereinigung unter Mitwirkung eines anderen Mitglieds dieser Vereinigung) begangenen Diebstahls nach § 127, 130 erster und zweiter Fall StGB zu einer Freiheitsstrafe von fünfzehn Monaten (davon zehn Monate bedingt nachgesehen) rechtskräftig verurteilt. Bei der Strafbemessung wurden der bisherige ordentliche Lebenswandel und das überwiegende Geständnis als mildernd gewertet, erschwerend hingegen vor allem die "Doppelqualifikation" beim Diebstahl und die Vielzahl der Tatangriffe innerhalb der Gewerbsmäßigkeit. Den unbedingten Strafteil verbüßte der Mitbeteiligte bis . 3 Nach der Entlassung aus der Strafhaft wurde der Mitbeteiligte in das Polizeianhaltezentrum Wien - Hernalser Gürtel überstellt und nach seiner Vernehmung über ihn mit Mandatsbescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG die Schubhaft zur Sicherung des Verfahrens über den von ihm am gestellten Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme angeordnet. 4 Der gegen den Schubhaftbescheid und gegen die darauf gegründete Anhaltung am erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 FPG Folge. Es hob den Schubhaftbescheid auf und erklärte die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft seit für rechtswidrig. Des Weiteren stellte das BVwG gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 FPG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Demzufolge wurde der Mitbeteiligte sodann am aus der Schubhaft entlassen. 5 Diese Entscheidung hob der Verwaltungsgerichtshof mit Erkenntnis vom , Ra 2019/21/0305, über Amtsrevision des BFA wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes auf. Das BVwG war in seinem Erkenntnis davon ausgegangen, es bestehe im vorliegenden Fall keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit iSd § 67 FPG und es sei daher der Schubhafttatbestand nach § 76 Abs. 2 Z 1 FPG idF des FrÄG 2018 schon deshalb nicht erfüllt. Das gründete es vor allem darauf, dass ein Teil der Freiheitsstrafe von zehn Monaten wegen des bisherigen ordentlichen Lebenswandels und des überwiegenden Geständnisses des Mitbeteiligten bedingt nachgesehen worden sei und sich der Mitbeteiligte seit damals "nichts mehr hat zuschulden kommen lassen". Dieser Auffassung widersprach der Verwaltungsgerichtshof und führte dazu fallbezogen Folgendes aus:

"Aus § 278 Abs. 2 und 3 StGB ergibt sich, dass eine kriminelle Vereinigung ein auf längere Zeit angelegter Zusammenschluss von mehr als zwei Personen ist, der darauf ausgerichtet ist, dass von einem oder mehreren Mitgliedern der Vereinigung - fallbezogen in Betracht kommend - nicht nur geringfügige Diebstähle ausgeführt werden, wobei sich als Mitglied an einer kriminellen Vereinigung beteiligt, wer im Rahmen ihrer kriminellen Ausrichtung eine strafbare Handlung begeht. Dem Mitbeteiligten liegt aber nicht nur eine solche Beteiligung zur Last, sondern auch die gewerbsmäßige Begehung von Ladendiebstählen. Das setzt nach dem fallbezogen in erster Linie in Betracht kommenden § 70 Abs. 1 Z 3 StGB voraus, dass die Taten in der Absicht ausgeführt wurden, sich durch ihre wiederkehrende Begehung längere Zeit hindurch ein nicht bloß geringfügiges fortlaufendes Einkommen zu verschaffen, und bereits zwei solche Taten begangen wurden. Nun hat das BVwG im Rahmen der Beweiswürdigung betreffend die Feststellungen zur strafgerichtlichen Verurteilung nicht nur auf die Strafregisterauskunft verwiesen, sondern sich dazu auch auf 'die im Akt des BVwG einliegende (gekürzte) Urteilsaufertigung' berufen. Nach deren Inhalt hätte das BVwG berücksichtigen müssen, dass die kriminelle Vereinigung aus insgesamt fünf Personen und weiteren nicht ausforschbaren unbekannten Tätern gebildet wurde, dass in der Folge von den Vereinigungsmitgliedern im großen Stil Diebstähle (ausschließlich) von Parfüms zum Nachteil einer bestimmten Drogeriekette begangen wurden und dem Mitbeteiligten insgesamt sechs, im Zeitraum 5. bis verübte Fakten, viermal begangen unter Beteiligung eines weiteren Mitglieds der kriminellen Vereinigung, zur Last gelegt wurden. Dazu hat der Mitbeteiligte in seiner - auch im Schubhaftbescheid wörtlich wiedergegebenen - Vernehmung vor der Schubhaftverhängung angegeben, er sei straffällig geworden, weil er sein gesamtes Bargeld für das Hotel und die sonstige Finanzierung des Aufenthalts ausgegeben und kein Geld mehr gehabt habe, jedoch Drogen gebraucht und eigentlich nach Deutschland habe weiterreisen wollen.

Vor diesem faktischen Hintergrund erweist sich die Meinung des BVwG (vgl. Seite 8 iVm Seite 9 und 15 des angefochtenen Erkenntnisses), es lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass durch den Aufenthalt des Mitbeteiligten eine Gefahr für die öffentliche Ordnung iSd § 67 Abs. 1 FPG bestehe, als rechtswidrig und es hätte daher dessen Anhaltung in Schubhaft nicht schon wegen Fehlens dieses Tatbestandselements für unzulässig erachten dürfen. Das BFA zeigt in der Amtsrevision nämlich auch zutreffend auf, dass die für diese Annahme herangezogenen Argumente des BVwG (siehe oben Rn. 8) nicht tragfähig sind. Aus der teilweisen bedingten Nachsicht der verhängten Freiheitsstrafe lässt sich schon deshalb nichts gewinnen, weil es ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist, dass das Fehlverhalten eines Fremden und die daraus abzuleitende Gefährlichkeit ausschließlich aus dem Blickwinkel des Fremdenrechts, also unabhängig von gerichtlichen Erwägungen über bedingte Strafnachsichten oder eine bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug, zu beurteilen ist (vgl. etwa , Rn. 12, mwN). Im Übrigen spricht es eigentlich gegen den Mitbeteiligten, dass das Strafgericht trotz der Milderungsgründe der bisherigen Unbescholtenheit und des Geständnisses die Strafe nicht zur Gänze bedingt nachgesehen hat. Des Weiteren ist es ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, dass der Gesinnungswandel eines Straftäters grundsätzlich daran zu messen ist, ob und wie lange er sich - nach dem Vollzug einer Haftstrafe - in Freiheit wohlverhalten hat. Für die Annahme eines Wegfalls der aus dem bisherigen Fehlverhalten ableitbaren Gefährlichkeit eines Fremden ist somit in erster Linie das - hier beim Mitbeteiligten noch gar nicht gegebene - Verhalten in Freiheit maßgeblich (vgl. neuerlich , Rn. 12, mwN). Beide Gesichtspunkte hat das BVwG außer Acht gelassen."

6 Der Mitbeteiligte wurde am bei der Begehung des Diebstahls eines Mantels unter Verwendung einer - zur Umgehung von elektronischen Sicherungen - präparierten Tasche auf frischer Tat betreten. In der Folge wurde er festgenommen und nach seiner Vernehmung mit Mandatsbescheid des BFA vom gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG iVm § 57 Abs. 1 AVG gegen ihn neuerlich die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung des Verfahrens über seinen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme angeordnet.

7 Der gegen den Schubhaftbescheid und gegen die darauf gegründete Anhaltung am erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis vom gemäß § 22a Abs. 1 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 FPG statt. Es hob den Schubhaftbescheid auf und erklärte die Anhaltung des Mitbeteiligten in Schubhaft seit für rechtswidrig. Des Weiteren stellte das BVwG gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 Abs. 2 Z 1 FPG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen nicht vorlägen. Schließlich traf das BVwG noch diesem Verfahrensergebnis entsprechende Kostenentscheidungen und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde von Seiten des Mitbeteiligten nicht erstattet - erwogen hat:

9 Die Amtsrevision erweist sich - wie die weiteren Ausführungen zeigen - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.

10 Nach dem im vorliegenden Fall maßgeblichen Tatbestand des § 76 Abs. 2 Z 1 FPG idF des FrÄG 2018 darf Schubhaft angeordnet werden, wenn dies zur Sicherung des Verfahrens über einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme notwendig ist, sofern der Aufenthalt des Fremden die öffentliche Ordnung oder Sicherheit gemäß § 67 FPG gefährdet, Fluchtgefahr vorliegt und die Schubhaft verhältnismäßig ist.

11 Das BVwG vertrat auch im nunmehr angefochtenen Erkenntnis die Auffassung, es bestehe im vorliegenden Fall keine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit iSd § 67 FPG. Diese Auffassung erweist sich schon vor dem Hintergrund der diesbezüglichen, oben in Rn. 5 wiedergegebenen Ausführungen des Verwaltungsgerichtshofes im Erkenntnis , von dessen Inhalt das BVwG allerdings noch keine Kenntnis haben konnte, als rechtswidrig. Die dort vertretene Auffassung in Bezug auf eine beim Mitbeteiligten gegebene Wiederholungsgefahr wird im Übrigen durch die neuerliche Begehung eines (versuchten) Diebstahls mit einem präparierten Hilfsmittel, der überdies durch einen raschen einschlägigen Rückfall trotz Verspürens des Haftübels und offener bedingter Strafnachsicht gekennzeichnet ist, eindrucksvoll bestätigt. Das macht die Amtsrevision im Ergebnis zu Recht geltend.

12 An dieser Beurteilung ändert der Umstand nichts, dass - aus welchem Grund auch immer - aus Anlass der Begehung der neuerlichen Straftat von der Verhängung der Untersuchungshaft gegen den Mitbeteiligten abgesehen wurde. Das führt - entgegen der vom BVwG im Ergebnis vertretenen Meinung - nicht für sich genommen zur Unverhältnismäßigkeit der Schubhaft, deren Rechtmäßigkeit immer nur an den hierfür geltenden Vorschriften zu messen ist. Danach hat die Schubhaft nicht den Zweck der Sicherung des Strafverfahrens, die sohin - anders als das BVwG meint - fallbezogen auch nicht "der Fremdenbehörde aufgebürdet" wurde. Die gegen den Mitbeteiligten angeordnete Schubhaft diente vielmehr - wie sich auch aus dem Spruch des Schubhaftbescheides ergibt - in erster Linie der Sicherung der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme und danach der Sicherung der Abschiebung (vgl. dazu , Rn. 17), mag es bei dem herangezogenen Haftgrund seinem Wesen nach daneben auch um "Gefahrenabwehr" gehen (vgl. , Rn. 24, mwN). Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist daher unter anderem auch die Frage der voraussichtlichen Dauer des Asylverfahrens bzw. eines dem Asylwerber weiterhin zukommenden Bleiberechts mit einzubeziehen (siehe noch einmal , Rn. 17). Dass ein aufgrund einer Anzeige anhängiges Strafverfahren dieser Einschätzung entgegenstünde, lässt sich - entgegen der Meinung des BVwG - nicht generell sagen, steht dieser Umstand doch grundsätzlich weder der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme noch deren Vollzug entgegen. 13 Der vom BVwG ins Spiel gebrachten Frage, ob fallbezogen nicht vorrangig wegen Vorliegens der diesbezüglichen Voraussetzungen Untersuchungshaft zu verhängen gewesen wäre, kommt somit keine Bedeutung zu. Es gibt - entgegen der Meinung des BVwG -

keinen Vorrang der strafgerichtlichen Untersuchungshaft gegenüber der Schubhaft mit der Konsequenz, dass Schubhaft gemäß § 76 Abs. 2 Z 1 FPG nicht in Betracht kommt, wenn von der Verhängung der Untersuchungshaft abgesehen wurde. Die genannten Haftarten bestehen - wie sich auch aus Art. 2 Abs. 1 Z 2 und Z 7 des BVG zum Schutz der persönlichen Freiheit ergibt - nebeneinander und deren Zulässigkeit ist - wie schon erwähnt - im Einzelfall nach den jeweils für sie geltenden Bestimmungen zu beurteilen. Demnach hat sich das BFA im Schubhaftbescheid im Übrigen auch noch zu Recht auf § 76 Abs. 2a FPG berufen, wonach im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch die Schwere eines allfälligen strafrechtlich relevanten Fehlverhaltens des Fremden in Betracht zu ziehen ist.

14 Das angefochtene Erkenntnis war daher in Stattgebung der Amtsrevision gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am

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ECLI:
ECLI:AT:VWGH:2020:RA2020210005.L00
Schlagworte:
Besondere Rechtsgebiete

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