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VwGH vom 11.11.2010, 2006/20/0569

VwGH vom 11.11.2010, 2006/20/0569

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätinnen Dr. Pollak und Mag. Dr. Maurer-Kober als Richterinnen, im Beisein des Schriftführers Mag. Hahnl, über die Beschwerde des R, vertreten durch Dr. Wolfgang Leitner, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 24, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom , Zl. 303.507-C1/E1-XVIII/59/06, betreffend §§ 7 und 8 Abs. 1 und 2 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Kostenmehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, beantragte am Asyl.

Als Fluchtgrund gab er bei seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Erstaufnahmestelle Ost (EAST-Ost), am an, in Tschetschenien herrsche Krieg; die Menschen würden verschleppt und es sei gefährlich dort zu leben. Er persönlich sei im Juli 2005 von maskierten Männern in der Nähe von Urus-Martan geschlagen und beschuldigt worden, Widerstandskämpfer zu sein. Nach einer weiteren Einvernahme im Zulassungsverfahren vor der EAST-Ost am wurde der Beschwerdeführer nach erfolgter Verfahrenszulassung am vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Graz, einvernommen und brachte dabei vor, dass er wegen seines Freundes eine Vorladung mit der Aufforderung erhalten habe, sich bis zum in der Polizeiabteilung in Grosny einzufinden. Sein Freund sei festgenommen worden und bis heute verschwunden. Mitte Juni sei er mit dem Autobus nach Urus-Martan gefahren und dort bei einer Kontrolle aus dem Bus herausgeholt, mitgenommen und an einem ihm unbekannten Ort eine Woche lang angehalten worden, bis er schließlich freigekauft worden sei. Danach habe er nicht mehr zu Hause geschlafen, sondern bei Verwandten. Während seiner Anhaltung sei er jeden Tag einvernommen und wegen seines Freundes verhört worden. Zudem sei er zur Kollaboration aufgefordert und auch misshandelt worden. Aus Angst habe er den Ladungstermin nicht wahrgenommen und sei aus der Russischen Föderation ausgereist.

Das Bundesasylamt wies mit Bescheid vom den Asylantrag gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab (Spruchpunkt I.), erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 AsylG für zulässig (Spruchpunkt II.) und wies den Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 2 AsylG dorthin aus (Spruchpunkt III.). Das Bundesasylamt führte begründend aus, dass der Beschwerdeführer in der Russischen Föderation keinen persönlichen staatlichen Verfolgungen ausgesetzt gewesen sei, da er einerseits unter Verwendung seines Inlandsreisepasses und mit öffentlichen Verkehrsmitteln innerhalb der Russischen Föderation gereist sei und offenbar keine Bedenken gehabt habe, sich der Passkontrolle auszusetzen. Ferner seien seine "allfällige(n) weitere(n) Ausführungen hinsichtlich des Vorliegens sonstiger individueller Bedrohungssituationen" auf Grund der vagen und allgemein gehaltenen Angaben nicht glaubhaft. "Hinsichtlich der persönlichen Glaubwürdigkeit" sei auf Unplausibilitäten und divergierende Angaben zu verweisen. So habe der Beschwerdeführer in Traiskirchen behauptet, er sei im Juli 2005 von maskierten Männern geschlagen worden, wohingegen er in der Einvernahme vor dem Bundesasylamt Graz ausgeführt habe, dass dies Mitte Juni stattgefunden hätte. Wenig plausibel erscheine auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer die von ihm in der Einvernahme am vorgebrachte einwöchige Anhaltung in Traiskirchen mit keinem Wort erwähnt habe. Seine "diesbezüglichen Erklärungen" hätten nicht zu überzeugen vermocht. Wenn auch das Vorbringen des Beschwerdeführers, im Rahmen von Säuberungsaktionen bzw. Kontrollen festgenommen und verschleppt sowie geschlagen worden zu sein, im Kern glaubwürdig erscheine, so gelange das Bundesasylamt in gesamtheitlicher Betrachtungsweise des Vorbringens zum Schluss, dass der Beschwerdeführer seinen Fluchtgrund zwar asylbezogen geschildert habe, die von ihm geschilderten Erlebnisse mangels Konkretisierung, Nachvollziehbarkeit und Plausibilität nicht wirklich erlebt haben dürfte, weshalb die Glaubwürdigkeit zu versagen gewesen und damit eine begründete Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht worden sei. Ferner ging das Bundesasylamt vom Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative in der Russischen Föderation außerhalb der autonomen Republik Tschetschenien aus.

Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung die dagegen erhobene Berufung "gemäß §§ 7 und 8 AsylG" ab. Ihre Entscheidung begründete die belangte Behörde damit, dass eine aktuelle Verfolgungsgefahr aus einem in der Genfer Flüchtlingskonvention angeführten Grund im Fall des Beschwerdeführers nicht gegeben sei. Das Vorbringen des Beschwerdeführers zu seiner individuellen Bedrohungssituation, welches durch keinerlei Beweismittel belegt und durch keine Bescheinigungsmittel untermauert sei, sei nicht glaubhaft. Begründend schloss sich die belangte Behörde wiederholend den beweiswürdigenden Ausführungen des Bundesasylamtes an. Darüber hinaus ergänzte sie, dass der Beschwerdeführer nur vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Graz, angegeben habe, mehrmals geschlagen worden zu sein. Vor der EAST-Ost und in der Berufung habe er ausdrücklich nur von einem Vorfall gesprochen.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

Die Beschwerde macht unter anderem als Verfahrensmangel eine Verletzung der Verhandlungspflicht der belangten Behörde geltend und ist damit im Recht.

Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass die Voraussetzung eines aus der Aktenlage in Verbindung mit der Berufung geklärten Sachverhalts gemäß Art. II Abs. 2 Z 43 a EGVG, der eine Berufungsverhandlung entbehrlich macht, dann erfüllt ist, wenn der Sachverhalt nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens und schlüssiger Beweiswürdigung der Behörde erster Instanz festgestellt wurde; auch dann ist aber nicht von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung auszugehen, wenn die erstinstanzliche Beweiswürdigung in der Berufung substantiiert bekämpft wird oder der Berufungsbehörde ergänzungsbedürftig oder in entscheidenden Punkten nicht richtig erscheint, wenn rechtlich relevante und zulässige Neuerungen vorgetragen werden oder wenn die Berufungsbehörde ihre Entscheidung auf zusätzliche Ermittlungsergebnisse stützen will (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2005/20/0198, mwN, sowie die in den hg. Erkenntnissen vom , Zlen. 2008/19/0216, 0217, und vom , Zl. 2007/01/0352, zitierte Judikatur).

Die belangte Behörde ging davon aus, dass die eben genannten Voraussetzungen für das Absehen von einer mündlichen Verhandlung erfüllt seien. Diese Beurteilung kann schon angesichts der von der belangten Behörde übernommenen Argumente des Bundesasylamts nicht gefolgt werden, da sie aufgrund ihrer Unschlüssigkeit die Beweiswürdigung nicht zu tragen vermögen.

So vermeint das Bundesasylamt in der Verwendung des Inlandsreisepasses einen Beleg dafür zu erkennen, dass der Beschwerdeführer keiner individuellen Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. Dabei hat es jedoch nicht berücksichtigt, dass er als Erklärung dafür schon im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am zum genauen Inhalt seines Fluchtvorbringens angegeben hatte, dass er deshalb nicht von einer landesweiten Fahndung nach seiner Person ausgegangen sei, weil er noch vor seinem Ladungstermin ausgereist sei. Schon vor diesem Hintergrund ist nicht zu erkennen, warum aus der Verwendung des Inlandsreisepasses - der Beschwerdeführer hat nach eigenen Angaben nie einen Auslandsreisepass besessen - schon für sich genommen ableitbar sei, dass der Beschwerdeführer nicht persönlich verfolgt worden sei. Im Übrigen hat auch der Verwaltungsgerichtshof bereits in seinem Erkenntnis vom , Zl. 2001/01/0547, mwN, darauf hingewiesen, dass aus der Verwendung eines Reisepasses an sich nicht automatisch auf eine Verfolgungsfreiheit geschlossen werden dürfe.

Zum anderen stützte das Bundesasylamt seine Einschätzung der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens des Beschwerdeführers auf einen Mangel an Plausibilität, Konkretisierung und Nachvollziehbarkeit, ohne dies allerdings im Detail auszuführen. Diese - sehr allgemein gehaltenen - Überlegungen reichen für eine nachvollziehbare Beweiswürdigung nicht aus, lassen sie doch nicht erkennen, welche konkreten oder detaillierten Angaben vom Beschwerdeführer zusätzlich zu seiner - keine gravierenden inneren Widersprüche enthaltenden - Erzählung noch erwartet worden wären. Es ist auch nicht erkennbar, in welcher Weise die Antworten auf konkrete Fragen unplausibel oder nicht nachvollziehbar gewesen seien. Eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Vorbringen des Beschwerdeführers erfolgte nicht (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2006/20/0197).

Wenn das Bundesasylamt darin einen Widerspruch zu erkennen vermeint, dass der Beschwerdeführer vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Graz, eine einwöchige Anhaltung behauptet habe, welche er vor der EAST-Ost nicht vorgebracht habe, so ist darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer erstmals im Rahmen seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Graz, konkret und ausführlich zu seinem Fluchtvorbringen befragt wurde. In den vorangegangenen Einvernahmen in der EAST-Ost hingegen ging das Bundesasylamt entsprechend dem damaligen Verfahrensstand davon aus, dass vorbehaltlich des positiven Abschlusses des Konsultationsverfahrens mit der Slowakei gemäß der Dublin-Verordnung der Asylantrag des Beschwerdeführers inhaltlich nicht in Österreich, sondern in der Slowakei zu prüfen sei. Daher wurde der Beschwerdeführer auch im Rahmen seiner Einvernahme vom aufgefordert, "kurz zusammengefasst in wenigen Sätzen das fluchtauslösende Ereignis bzw. die fluchtauslösenden Ereignisse" zu schildern. Die nachfolgende - lediglich fünf Minuten dauernde - Einvernahme vor der EAST-Ost am wiederum diente lediglich zur Wahrung des Parteiengehörs zur beabsichtigten Zurückweisung des Asylantrags wegen Zuständigkeit der Slowakei. Konkret wurde im Rahmen dieser Einvernahme ausgeführt, dass, sollte das Konsultationsverfahren mit der Slowakei eine Zuständigkeit Österreichs ergeben, die inhaltliche Prüfung in einem ordentlichen Verfahren erfolgen werde. Vor diesem Hintergrund kann es dem Beschwerdeführer nicht zum Vorwurf gemacht werden, wenn er erst bei seiner nach der Zulassung seines Verfahrens erfolgenden Einvernahme vor dem Bundesasylamt, Außenstelle Graz, sein Fluchtvorbringen detaillierter schilderte und - den bereits vor der EAST-Ost geschilderten Vorfall - in Urus-Martan ausführte bzw. ergänzte.

An der Mangelhaftigkeit des Verfahrens ändert auch die von der belangten Behörde vorgenommene Ergänzung der Beweiswürdigung nichts. Vielmehr hätte sie sowohl wegen der Unschlüssigkeit der vom Bundesasylamt übernommenen Beweiswürdigung als auch wegen der von ihr offenbar angenommenen Ergänzungsbedürftigkeit derselben eine mündliche Berufungsverhandlung durchzuführen gehabt.

Schon aus diesem Grund war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.

Daran ändert auch nichts, dass sich die belangte Behörde hilfsweise - im Rahmen des Verweises auf die entsprechenden Ausführungen des Bundesasylamtes - auf das Vorliegen einer internen Fluchtalternative stützt. Diese Annahme erweist sich nämlich schon vor dem Hintergrund, dass sich die belangte Behörde mit der Frage, ob der Beschwerdeführer durch die staatlichen Behörden verfolgt werde, nachdem er der an ihn ergangenen Ladung nicht nachgekommen ist, nicht auseinander gesetzt hat, als nicht nachvollziehbar begründet.

Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455. Da die Mehrwertsteuer bereits im pauschalierten Schriftsatzaufwand enthalten ist, war das diesbezügliche den pauschalierten Schriftsatzaufwand übersteigende Mehrbegehren des Beschwerdeführers abzuweisen.

Wien, am

Fundstelle(n):
RAAAE-87836