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VwGH vom 19.03.2014, 2013/21/0085

VwGH vom 19.03.2014, 2013/21/0085

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Krawarik, über die Beschwerde der IR in S, vertreten durch Dr. Wolfgang Rainer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Schwedenplatz 2/74, gegen den Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates des Landes Oberösterreich vom , Zl. VwSen-720336/2/BP/JO, betreffend Ausweisung (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

Die 1949 geborene Beschwerdeführerin ist deutsche Staatsangehörige. Sie ist seit mit einem 1947 geborenen österreichischen Staatsbürger verheiratet, mit dem sie zunächst in Spanien lebte. Seit spätestens März 2011 befindet sich das Ehepaar gemeinsam in Österreich, zuletzt in einem Wohnwagen im Sprengel der Bezirkshauptmannschaft G.

Im Oktober 2012 beantragte die Beschwerdeführerin die Ausstellung einer "Anmeldebescheinigung für EWR-Bürger". Im darüber abgeführten Verfahren ergab sich, dass der Ehemann der Beschwerdeführerin Mindestsicherung beziehe und dass die Beschwerdeführerin selbst aktuell über keine Einkünfte verfüge. Es wurde daher die zuständige Fremdenpolizeibehörde hinsichtlich einer möglichen Aufenthaltsbeendigung der Beschwerdeführerin befasst.

Mit im Instanzenzug ergangenem Bescheid vom wies der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Oberösterreich (die belangte Behörde) die Beschwerdeführerin sodann gemäß § 66 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG aus Österreich aus. Dabei erklärte die belangte Behörde, ihrer Entscheidung ua. das Berufungsvorbringen der Beschwerdeführerin zugrunde zu legen. Diese hatte im Besonderen ausgeführt, dass ihr bereits im Pensionsalter befindlicher Ehemann nicht über ausreichende Versicherungszeiten verfüge, weshalb er Mindestsicherung beziehe; sie selbst bedürfe wegen ihres schlechten Gesundheitszustandes der Betreuung durch ihren Ehemann und habe in Deutschland einen Rentenanspruch erworben, welcher "mit dem 65. Lebensjahr gewährt werden wird". Zwar habe der Ehemann der Beschwerdeführerin, so die belangte Behörde dann im Rahmen ihrer rechtlichen Erwägungen, durch seinen langjährigen Aufenthalt in Spanien dort von seiner Freizügigkeit Gebrauch gemacht. Seinen aktuellen Aufenthalt im Bundesgebiet könne er jedoch nur auf "nationale Normen", "aber per se nicht auf unionsrechtliche Normen" stützen. Diesbezüglich ermangle es ihm an den erforderlichen Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Z 1 und 2 NAG, weil er weder Arbeitnehmer noch Selbstständiger sei und auch nicht über ausreichende Existenzmittel verfüge. Daraus folge, dass die Beschwerdeführerin von ihrem Ehemann keine unionsrechtliche Rechtsposition ableiten könne. Die Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts sei demnach anhand des ihr als EWR-Bürgerin "originär grundsätzlich zustehenden Aufenthaltsrechts" zu erörtern. Diesbezüglich ergebe sich zwar, dass die Beschwerdeführerin in Österreich krankenversichert sei, sie sei jedoch ebenfalls weder Arbeitnehmerin, Arbeitssuchende oder Selbstständige noch habe sie ausreichende Existenzmittel. Vielmehr sei sie auf die Mindestsicherung ihres Ehemannes angewiesen. Dass sie in rund zwei Jahren über einen Pensionsanspruch aus Deutschland verfügen werde, der ihr "gewisse Existenzmittel" sichern werde, könne aktuell nicht berücksichtigt werden. Damit sei - so die belangte Behörde im Ergebnis - zu konstatieren, dass der Beschwerdeführerin aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht zukomme, weshalb sie gemäß § 66 Abs. 1 FPG ausgewiesen werden könne. Dieser Maßnahme stünden weder die in § 66 Abs. 2 FPG genannten Gesichtspunkte noch die Interessenabwägung nach § 61 FPG entgegen. In diesem Zusammenhang führte die belangte Behörde ua. aus, dass zwar auf die bestehende Ehe mit einem österreichischen Staatsbürger hinzuweisen sei; gleichzeitig sei aber auch "auf die unbestritten gegebene beidseitige Flexibilität Bedacht zu nehmen, in der das Paar über Jahre in Spanien (einem weiteren EWR-Staat)" gelebt habe. Eine tatsächliche Trennung der Ehepartner sei sohin nicht zwingend anzunehmen, was die gemeinsame Vergangenheit dokumentiere. "Darüber hinaus" sei anzumerken, dass sich die wirtschaftliche Situation des Paares in wenigen Jahren durch die in Aussicht stehende Pension der Beschwerdeführerin grundlegend verändern könne. Weiters erscheine es der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann zumutbar, ihre Beziehung zeitweilig - bis zu drei Monate sei der Aufenthalt nach unionsrechtlichen Bestimmungen ohnehin nicht reglementiert - über eine entsprechende Entfernung bzw. mittels Besuchen aufrechtzuerhalten. Auch unter Bedachtnahme auf die "Möglichkeiten der modernen Kommunikationsmittel" sei der Beschwerdeführerin somit eine Rückkehr nach Deutschland (oder in einen anderen EU-Staat) zumutbar.

Über die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Erstattung einer Gegenschrift seitens der belangten Behörde erwogen:

Vorauszuschicken ist, dass gemäß dem letzten Satz des § 79 Abs. 11 VwGG idF BGBl. I Nr. 122/2013 in den mit Ablauf des beim Verwaltungsgerichtshof anhängigen Beschwerdeverfahren - soweit (wie für den vorliegenden "Altfall") durch das Verwaltungsgerichtsbarkeits-Übergangsgesetz, BGBl. I Nr. 33/2013, nicht anderes bestimmt ist - die bis zum Ablauf des geltenden Bestimmungen des VwGG weiter anzuwenden sind. Weiters ist vorweg darauf hinzuweisen, dass der Verwaltungsgerichtshof den angefochtenen Bescheid auf Basis der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt seiner Erlassung (Ende März/Anfang April 2013) zu überprüfen hat.

Die Beschwerdeführerin ist deutsche Staatsangehörige. Ihre Ausweisung wurde daher auf § 66 FPG gestützt, der in der hier anzuwendenden Fassung des FrÄG 2011 wie folgt lautet:

"Ausweisung

§ 66. (1) EWR-Bürger, Schweizer Bürger und begünstigte Drittstaatsangehörige können ausgewiesen werden, wenn ihnen aus den Gründen des § 55 Abs. 3 NAG das unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht oder nicht mehr zukommt, es sei denn, sie sind zur Arbeitssuche eingereist und können nachweisen, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden; oder sie bereits das Daueraufenthaltsrecht (§§ 53a, 54a NAG) erworben haben; im letzteren Fall ist eine Ausweisung nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.

(2) Soll ein EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigter Drittstaatsangehöriger ausgewiesen werden, hat die Behörde insbesondere die Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, sein Alter, seinen Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration im Bundesgebiet und das Ausmaß seiner Bindung zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen.

(3) ...

(4) ..."

Die belangte Behörde erachtete die Voraussetzungen für eine Ausweisung nach dieser Bestimmung als erfüllt, weil der Beschwerdeführerin das in § 66 Abs. 1 NAG genannte unionsrechtliche Aufenthaltsrecht nicht zukomme. Ein solches könne sie insbesondere mangels ausreichender Existenzmittel und in Anbetracht des Bezugs von Grundsicherung durch ihren österreichischen Ehemann weder von diesem ableiten, noch stehe es der Beschwerdeführerin kraft ihrer eigenen Position als EWR-Bürgerin "originär" zu.

Ob diese Auffassung vor dem Hintergrund der Ausführungen des EuGH in seinem Urteil vom , Brey , C- 140/12, Randnrn. 63 ff, zutreffend ist und ob sich - unbeschadet des jüngst ergangenen O. und B. , C-456/12, das nur den unionsrechtlich gebotenen "Mindeststandard" darlegt - nicht "sinngemäß" nach dem von der belangten Behörde nicht geprüften § 57 NAG ein Aufenthaltsrecht der Beschwerdeführerin nach § 52 Abs. 1 Z 1 NAG ergibt, braucht freilich nicht näher untersucht zu werden. Unabhängig davon verbietet sich eine Ausweisung der Beschwerdeführerin - wie von ihr schon im Verwaltungsverfahren geltend gemacht, worauf die belangte Behörde jedoch nicht eingegangen ist - nämlich jedenfalls im Hinblick auf das Abkommen zwischen der Republik Österreich und der Bundesrepublik Deutschland über Fürsorge und Jugendwohlfahrtspflege, BGBl. Nr. 258/1969.

Art. 8 des genannten Abkommens normiert nämlich Folgendes:

"Artikel 8

(1) Der Aufenthaltsstaat darf einem Staatsangehörigen der anderen Vertragspartei nicht allein aus dem Grunde der Hilfsbedürftigkeit den weiteren Aufenthalt versagen oder ihn rückschaffen, es sei denn, dass er sich noch nicht ein Jahr ununterbrochen erlaubt in seinem Hoheitsgebiet aufhält. Sprechen Gründe der Menschlichkeit gegen eine solche Maßnahme, so hat sie ohne Rücksicht auf die Dauer der Anwesenheit im Aufenthaltsstaat zu unterbleiben.

(2) Die Vorschriften dieses Abkommens stehen in keiner Weise dem Recht zur Ausweisung aus einem anderen als dem im vorstehenden Absatz erwähnten Grund entgegen."

Zu den im zitierten Art. 8 Abs. 1 erwähnten "Gründen der Menschlichkeit" wird unter Punkt A.6. des Schlussprotokolls zum Abkommen, das gemäß Art. 16 dieses Abkommens Bestandteil desselben ist, festgehalten:

"Gründe der Menschlichkeit, die einer Rückschaffung gemäß

Artikel 8 Absatz 1 entgegenstehen, liegen insbesondere dann vor, wenn hiedurch enge Bindungen im Aufenthaltsstaat, vor allem eine Familiengemeinschaft, getrennt würden."

Die belangte Behörde ging bei ihren Überlegungen zu § 66 Abs. 2 FPG einerseits bzw. zu § 61 FPG andererseits auch davon aus, dass es der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann (bei Vollzug der Ausweisung) zumutbar sei, ihre Beziehung zeitweilig - für drei Monate sei der Aufenthalt ohnehin gestattet - über eine entsprechende Entfernung hinweg bzw. durch wechselseitige Besuche aufrechtzuerhalten. Das ist schon im Rahmen der Abwägung nach § 66 Abs. 2 FPG bzw. nach § 61 FPG zu hinterfragen, zumal die belangte Behörde dem Berufungsvorbringen der Beschwerdeführerin, sie bedürfe im Hinblick auf ihren schlechten Gesundheitszustand der Betreuung durch ihren Ehemann, unwidersprochen gefolgt ist. Die angedachte Trennung kommt aber jedenfalls am Boden der zitierten Abkommensbestimmungen schon "aus Gründen der Menschlichkeit" nicht in Frage, sodass sich eine zu diesem Ergebnis führende Ausweisung der Beschwerdeführerin zumindest von daher als nicht zulässig erweist. Soweit jedoch an anderer Stelle des bekämpften Bescheides argumentiert wird, eine "tatsächliche Trennung der Ehepartner (sei) sohin (im Hinblick auf die gemeinsame Vergangenheit in Spanien) nicht zwingend anzunehmen", bleibt indes offen, wo die Beschwerdeführerin und ihr Ehemann ausgehend von der beiderseitigen Mittellosigkeit, die einer aktuellen Ausübung des Freizügigkeitsrechts grundsätzlich entgegensteht, gemeinsam Wohnsitz nehmen könnten.

Damit ist der bekämpfte Bescheid jedenfalls unter diesem Blickwinkel inhaltlich rechtswidrig, weshalb er gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.

Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der (auf "Altfälle" gemäß § 3 Z 1 der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013, idF BGBl. II Nr. 8/2014 weiter anzuwendenden) VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008.

Wien, am