VwGH vom 09.09.2010, 2006/20/0362
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak, den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätinnen Mag. Rehak und Mag. Dr. Maurer-Kober als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hahnl, über die Beschwerde des I, vertreten durch Mag. Wilfried Embacher und Dr. Thomas Neugschwendtner, Rechtsanwälte in 1040 Wien, Schleifmühlgasse 5/8, gegen den Bescheid des unabhängigen Bundesasylsenates vom , Zl. 302.877-E1/1-V/14/06, betreffend §§ 5, 10 Asylgesetz 2005 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Der Beschwerdeführer, ein russischer Staatsangehöriger tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reiste am über die weißrussisch/polnische Grenze in das Gebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein und beantragte zunächst in Polen Asyl. Von dort gelangte er am in das Bundesgebiet und beantragte am darauffolgenden Tag (neuerlich) internationalen Schutz.
Das Bundesasylamt wies diesen Antrag - nach Durchführung von Konsultationen mit den zuständigen polnischen Behörden - mit Bescheid vom gemäß § 5 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unzulässig zurück, stellte fest, dass für die Prüfung des Antrages "gemäß Artikel 16 (1) (c)" Dublin-Verordnung Polen zuständig sei, und wies den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet dorthin aus. Zugleich stellte es fest, dass die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Beschwerdeführers nach Polen gemäß § 10 Abs. 4 AsylG 2005 zulässig sei.
Am langte beim Bundesasylamt eine von diesem eingeholte ärztliche Stellungnahme des Psychiaters Dr. Walter North ein. Dieser diagnostizierte beim Beschwerdeführer eine posttraumatische Belastungsstörung und beantwortete die Frage, ob der Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen aus ärztlicher Sicht schwere psychische Störungen entgegenstünden, die bei Überstellung eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes iSd Art. 3 EMRK bewirken würden, mit "Ja" und die Frage, ob eine Besserungsfähigkeit vorliege, die nach entsprechender Therapie eine Überstellung möglich mache, mit "Nein".
Mit dem angefochtenen Bescheid wies die belangte Behörde ohne weitere Ermittlungen die gegen den erstinstanzlichen Bescheid erhobene Berufung gemäß §§ 5 und 10 AsylG 2005 ab. Begründend führte sie u.a. aus, Polen sei gemäß Art. 13 iVm Art. 16 Abs. 1 lit. e Dublin-Verordnung für die Prüfung des Asylantrages zuständig. Fallbezogen bestehe kein "real risk" einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung des Beschwerdeführers in Polen, sodass Österreich nicht verpflichtet sei, vom Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung Gebrauch zu machen. Ein "im besonderen Maße" substantiiertes Vorbringen bzw. das Vorliegen besonderer vom Beschwerdeführer bescheinigter außergewöhnlicher Umstände, die die Gefahr einer Verletzung der EMRK im Fall einer Überstellung ernstlich möglich erscheinen ließen, sei im Verfahren nicht hervorgekommen. Zum Vorbringen in der Berufung, wonach der Beschwerdeführer auf Grund der traumatischen Erlebnisse in seinem Heimatland an einer posttraumatischen Belastungsstörung leide, sei darauf zu verweisen, dass nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nicht erforderlich sei, dass die Behandlung von traumatisierten Personen in Polen denselben Standard haben müsse wie etwa in Österreich. Für eine "Art. 3 EMRK-konforme" Überstellung reiche aus, dass Behandlungsmöglichkeiten für Traumatisierte verfügbar seien, was in Polen der Fall sei.
Dagegen richtet sich die vorliegende Beschwerde, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Vorlage der Verwaltungsakten durch die belangte Behörde erwogen hat:
1. Die Beschwerde bestreitet nicht die Zuständigkeit der Republik Polen für die Prüfung des gegenständlichen Antrages nach den Zuständigkeitskriterien der Dublin-Verordnung. Sie strebt aber die Ausübung des Selbsteintrittsrechtes der österreichischen Asylbehörden gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung an und bezieht sich dabei u.a. auf die gesundheitlichen Probleme des Beschwerdeführers. Die belangte Behörde habe es - so die Beschwerde - verabsäumt, sich damit auseinander zu setzen, dass eine Abschiebung des Beschwerdeführers eine "in den Bereich des Art. 3 EMRK reichende" Verschlechterung des Krankheitsverlaufes oder der Heilungsmöglichkeiten seiner "psychischen Störung" (posttraumatische Belastungsstörung) bewirke.
Mit diesem Vorbringen zeigt die Beschwerde im Ergebnis einen relevanten Verfahrensmangel auf.
2. Vorauszuschicken ist, dass es vorliegend nur um den Überstellungsvorgang als solchen geht und die Feststellungen der belangten Behörde zur medizinischen Versorgung von Asylwerbern in Polen keinen Bedenken begegnen.
Nach der ständigen Rechtsprechung der Höchstgerichte des öffentlichen Rechts macht eine grundrechtskonforme Interpretation des Asylgesetzes eine Bedachtnahme auf die - in Österreich in Verfassungsrang stehenden - Bestimmungen der EMRK notwendig. Dementsprechend müssen die Asylbehörden bei Entscheidungen nach § 5 AsylG 2005 auch Art. 3 EMRK berücksichtigen und bei einer drohenden Verletzung dieser Vorschrift das Selbsteintrittsrecht nach Art. 3 Abs. 2 Dublin-Verordnung ausüben (vgl. etwa die hg. Erkenntnisse vom , Zl. 2006/01/0949, mwN, vom , Zlen. 2008/19/0809 bis 0812, und vom , Zlen. 2008/19/0139 bis 0143).
Der Verfassungsgerichtshof hat in seinem Erkenntnis vom , B 2400/07, unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des EGMR dargelegt, unter welchen Voraussetzungen im Lichte des Art. 3 EMRK eine Krankheit zur Unzulässigkeit einer Überstellung des Asylwerbers in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union führen kann. Zusammenfassend ergibt sich daraus, dass im Allgemeinen kein Fremder ein Recht hat, in einem fremden Aufenthaltsstaat zu verbleiben, bloß um dort medizinisch behandelt zu werden, und zwar selbst dann nicht, wenn er an einer schweren Krankheit leidet oder selbstmordgefährdet ist. Dass die Behandlung im Zielland (einer Abschiebung oder Überstellung) nicht gleichwertig, schwerer zugänglich oder kostenintensiver ist, ist unerheblich, solange es grundsätzlich Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat bzw. in einem bestimmten Teil des Zielstaats gibt. Nur bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände führt die Abschiebung zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK. Solche liegen etwa vor, wenn ein lebensbedrohlich Erkrankter durch die Abschiebung einem realen Risiko ausgesetzt würde, unter qualvollen Umständen zu sterben.
Nach diesen Kriterien hat auch der Verwaltungsgerichtshof wiederholt beurteilt, ob die Abschiebung eines Kranken zulässig ist (vgl. dazu etwa aus jüngerer Zeit die bereits zitierten hg. Erkenntnisse vom , Zlen. 2008/19/0809 bis 0812, und vom , Zlen. 2008/19/0139 bis 0143).
3. Ausgehend davon erweist sich die Beschwerde in Bezug auf die behauptete Erkrankung des Beschwerdeführers als berechtigt. Die Annahme der belangten Behörde, wonach keine reale Gefahr eines Verstoßes gegen Art. 3 EMRK bei Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen bestehen würde, berücksichtigt nicht die vom Bundesasylamt eingeholte ärztliche Stellungnahme. Ein dieser Beurteilung entgegenstehendes fachärztliches Gutachten wurde von der belangten Behörde nicht eingeholt.
Es mag zwar im Regelfall zutreffen, dass psychische Erkrankungen eines Asylwerbers nicht jene Schwere erreichen, die es unter dem Blickwinkel des Art. 3 EMRK untersagen würden, ihn in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu überstellen. Trotzdem setzt die Beurteilung, ob die Abschiebung selbst im Einzelfall zu einer unzumutbaren Destabilisierung und Verschlechterung des Gesundheitszustandes führen würde, nachvollziehbare Feststellungen über die Art der Erkrankung des Betroffenen und die zu erwartenden Auswirkungen auf den Gesundheitszustand im Fall einer (allenfalls medizinisch unterstützten) Abschiebung voraus (vgl. das bereits zitierte hg. Erkenntnis vom , Zlen. 2008/19/0139 bis 0143, mwN). Der angefochtene Bescheid enthält jedoch weder solche Feststellungen, noch geht er auf die aktenkundige ärztliche Stellungnahme von Dr. Walter North ein und lässt daher eine nachvollziehbare Begründung für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Überstellung des Beschwerdeführers nach Polen im Hinblick auf Art. 3 EMRK vermissen.
Aus diesen Gründen war der angefochtene Bescheid daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am
Fundstelle(n):
VAAAE-87813