VwGH vom 09.09.2010, 2006/20/0351
Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung
verbunden):
2006/20/0352
2006/20/0353
2006/20/0356
2006/20/0355
2006/20/0354
Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Senatspräsidentin Dr. Händschke sowie die Hofrätin Dr. Pollak, den Hofrat Mag. Dr. Wurdinger und die Hofrätinnen Mag. Rehak und Mag. Dr. Maurer-Kober als Richter, im Beisein des Schriftführers Mag. Hahnl, über die Beschwerden von 1. A, 2. S 3. M, 4. S 5. S, und 6. H, alle vertreten durch Mag. Michael-Thomas Reichenvater, Rechtsanwalt in 8010 Graz, Herrengasse 13/II, gegen die Bescheide des unabhängigen Bundesasylsenates jeweils vom , Zlen. 246.366/6-VIII/40/06 (ad 1., protokolliert zur hg. Zl. 2006/20/0351), 246.367/6-VIII/40/06 (ad 2., protokolliert zur hg. Zl. 2006/20/0352), 246.512/4-VIII/40/06 (ad 3., protokolliert zur hg. Zl. 2006/20/0353), 246.515/4-VIII/40/06 (ad 4., protokolliert zur hg. Zl. 2006/20/0354), 246.517/3-VIII/40/06 (ad 5., protokolliert zur hg. Zl. 2006/20/0355) und 246.513/3- VIII/40/06 (ad 6., protokolliert zur hg. Zl. 2006/20/0356), betreffend § 7 Asylgesetz 1997 (weitere Partei: Bundesministerin für Inneres), zu Recht erkannt:
Spruch
Die angefochtenen Bescheide werden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat den beschwerdeführenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40, insgesamt somit EUR 6.638,40, binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
Die Erstbeschwerdeführerin ist die Ehefrau des Zweitbeschwerdeführers; sie sind die Eltern der dritt- bis sechstbeschwerdeführenden Parteien. Alle sind Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volksgruppenzugehörigkeit, reisten am in das Bundesgebiet ein und beantragten am selben Tag Asyl.
Zu den Fluchtgründen gaben die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer vor dem Bundesasylamt an, sie hätten - unterbrochen durch kurze Aufenthalte in Tschetschenien - seit August 1996 in D (Region S) gewohnt. Der Zweitbeschwerdeführer sei im Jänner 1996 für zwei oder drei Stunden angehalten worden, weil er während des ersten Tschetschenienkrieges "Freiheitskämpfern" mit Lebensmitteln geholfen habe. Seit 1996 hätten ihm "Kosaken" vorgehalten, den "Kämpfern" geholfen zu haben. Im Herbst 2001 sei er vier Tage lang festgehalten und danach "freigekauft" worden. Im Jahr 2000 oder 2001 seien während seines Aufenthaltes bei seiner Schwester Soldaten gekommen, sodass er "durch das Fenster in die Gärten" geflüchtet sei. Die beschwerdeführenden Parteien seien im Mai/Juni 2003 mit russischen Reisepässen wegen der allgemeinen Bürgerkriegssituation ausgereist.
Mit den Bescheiden vom wies das Bundesasylamt die Asylanträge der beschwerdeführenden Parteien gemäß § 7 Asylgesetz 1997 (AsylG) ab, erklärte deren Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung nach "Russland" gemäß § 8 AsylG für nicht zulässig und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen. In den Begründungen stellte es fest, die beschwerdeführenden Parteien hätten Tschetschenien wegen des Bürgerkrieges bzw. der damit im Zusammenhang stehenden Folgen verlassen. Andere Fluchtgründe könnten nicht festgestellt werden. Eine Verfolgung des Zweitbeschwerdeführers durch die russischen Behörden oder Soldaten wegen der Unterstützung von tschetschenischen "Freiheitskämpfern" im Jahr 1996 sei - aus näher dargelegten Gründen - nicht glaubwürdig. Rechtlich führte das Bundesasylamt zur Versagung der Asylgewährung aus, die Betroffenheit von der Bürgerkriegssituation allein sei nicht geeignet, "das Vorliegen begründeter Furcht vor Verfolgung im Sinne der Genfer (Flüchtlingskonvention) glaubhaft zu machen, weil den aus solchen Verhältnissen resultierenden Benachteiligungen sämtliche dort lebende Bewohner ausgesetzt sind und solche Verhältnisse daher nicht als konkrete, individuell gegen (die beschwerdeführenden Parteien) gerichtete Verfolgungshandlungen eingestuft werden können." Die Furcht vor einer gegen sie "selbst konkret gerichteten" Verfolgungshandlung hätten sie nicht (glaubhaft) vorgebracht.
Über die gegen die Abweisung ihrer Asylanträge erhobenen Berufungen führte die belangte Behörde eine Berufungsverhandlung durch. Darin gab der Zweitbeschwerdeführer an, sein Cousin und Schulfreunde, die "Widerstandskämpfer" gewesen seien und bei ihm übernachtet hätten, seien 1995 oder 1996 umgebracht worden. Immer, wenn ein russischer Soldat oder "Kosake" ermordet worden sei, seien "russische Sondereinheiten" gekommen, hätten z.B. Geld oder Wertgegenstände mitgenommen und das Haus durchwühlt. Am Anfang sei er noch zu Hause gewesen, später habe er sich vor den "Russen" immer versteckt. Bis zur Ausreise habe es in diesem Zusammenhang laufend Hausdurchsuchungen bei Tschetschenen gegeben, die während des "ersten Krieges" in Tschetschenien gelebt hätten.
Mit den angefochtenen Bescheiden wies die belangte Behörde die Berufungen der beschwerdeführenden Parteien gemäß § 7 AsylG ab. Die belangte Behörde traf umfangreiche Feststellungen zur Lage in der Russischen Föderation (insbesondere in Tschetschenien) und stellte fest, dass der Zweitbeschwerdeführer im Jänner 1996 für zwei oder drei Stunden von russischen Soldaten mitgenommen worden sei, weil er in diesem Jahr tschetschenischen "Kämpfern" Lebensmittel überlassen habe. Im Jahr 2000/2001 - während des Aufenthaltes bei seiner Schwester - seien Soldaten gekommen und der Zweitbeschwerdeführer sei "durch das Fenster" geflüchtet. 2001 sei er vier Tage lang angehalten und danach freigekauft worden. Es hätten öfters Hausdurchsuchungen stattgefunden, die "jedoch nicht konkret gegen die Familie" gerichtet gewesen seien, sondern "allgemein tschetschenische Familien" betroffen hätten. Die beschwerdeführenden Parteien hätten ihren Herkunftsstaat wegen der "Kriegshandlungen" und der unsicheren Lage in Tschetschenien im Mai 2003 verlassen.
Beweiswürdigend stützte die belangte Behörde die Feststellungen zum Ausreisegrund zunächst auf das Vorbringen der erst- und zweitbeschwerdeführenden Parteien und referierte anschließend die Begründung des Bundesasylamtes, wonach der Zweitbeschwerdeführer nicht (gezielt) von russischen Behörden oder Soldaten gesucht bzw. verfolgt worden sei. Abschließend hielt die belangte Behörde fest, sie komme "ebenfalls" zum Schluss, dass die Angaben der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers "zur allgemeinen Lage in Tschetschenien" glaubhaft seien, diese hätten jedoch "konkrete gegen (die beschwerdeführenden Parteien) gerichtete" Verfolgungshandlungen nicht glaubhaft machen können.
Rechtlich führte die belangte Behörde aus, die beschwerdeführenden Parteien seien bis zur Ausreise keinen "konkret gegen ihre Person gerichteten" Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen. Die rechtliche Beurteilung des Bundesasylamtes "hinsichtlich der Prüfung (der Asylanträge) an den Maßstäben des § 7 AsylG" sei zutreffend.
Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Bescheide gerichteten, wegen des sachlichen und persönlichen Zusammenhanges zur gemeinsamen Beratung und Entscheidung verbundenen Beschwerden erwogen:
Die Beschwerden wenden sich zu Recht gegen die nicht näher begründete Auffassung der belangten Behörde, die beschwerdeführenden Parteien seien bis zur Ausreise aus der Russischen Föderation "keinen konkret gegen ihre Person gerichteten" (asylrelevanten) Verfolgungshandlungen ausgesetzt gewesen. Die persönliche und konkrete Betroffenheit ist aber durch die Flucht des Zweitbeschwerdeführers vor russischen Soldaten im Jahr 2000/2001, seine viertägige Anhaltung samt anschließendem "Freikauf" im Jahr 2001 und die bei den beschwerdeführenden Parteien öfters durchgeführten Hausdurchsuchungen, die "allgemein tschetschenische Familien betrafen", nicht in Zweifel zu ziehen. Nach den von der belangten Behörde zu "Staatlichen Repressionen" getroffenen Länderfeststellungen berichten Menschenrechtsorganisationen glaubwürdig u.a. über verstärkte Personenkontrollen und Wohnungsdurchsuchungen, zum Teil ohne rechtliche Begründung, gegenüber Tschetschenen auch in den übrigen Gebieten der Russischen Föderation, sodass die beschwerdeführenden Parteien im maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung der angefochtenen Bescheide (Ende Juni 2006) weiterhin mit den festgestellten Verfolgungshandlungen rechnen müssten.
Sollten die Angaben des Zweitbeschwerdeführers zutreffen, wozu die belangte Behörde keine Feststellungen traf und keine beweiswürdigenden Überlegungen anstellte, dass die Hausdurchsuchungen, anlässlich derer er sich auch versteckt gehalten habe, von "russischen Sondereinheiten" im Zusammenhang mit der Ermordung von russischen Soldaten durchgeführt wurden, wobei z.B. Geld oder Wertgegenstände mitgenommen und das Haus durchwühlt wurde, könnte einem solchen Geschehen nicht allein deshalb die Asylrelevanz abgesprochen werden, weil die "russischen Sondereinheiten" ohne "zielgerichtete Verfolgungsabsicht" in Bezug auf die tschetschenischen Beschwerdeführer vorgingen (vgl. das hg. Erkenntnis vom , Zl. 2002/20/0328). Bei den solcherart festgestellten Hausdurchsuchungen würde es sich auch nicht um Maßnahmen des Staates handeln, die nur der Ausforschung von gesuchten Personen dienen, sondern um Maßnahmen, die in Wahrheit auf die existenzbedrohende Verfolgung der beschwerdeführenden Parteien aus asylrechtlich relevanten - ethnischen - Gründen abzielen (vgl. allgemein dazu das hg. Erkenntnis vom , Zl. 99/20/0597, mwN).
Die angefochtenen Bescheide waren schon aus diesem Grund - vorrangig - gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.
Von der Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.
Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2008, BGBl. II Nr. 455.
Wien, am
Fundstelle(n):
KAAAE-87808